Jugendgewalt als kulturelle Herausforderung

Von Jörg Lau |
Hinter trockenen Zahlen steckt eine erschreckende Verrohung. Eine Grundschullehrerin, von einem Zwölfjährigen auf dem Schulhof so heftig zusammengeschlagen, dass sie ohnmächtig und mit Nasenbruch liegen blieb. Eine andere, die nach der Ermahnung eines Schülers mit dem Spruch "Fick dich, du Schlampe” beleidigt wurde.
Ein Schüler, der von einer vermummten Bande im Schulgebäude niedergestochen wird. Eine 16-jährige Schwangere, die von ihrem libanesischen Exfreund und Schulkameraden so lange mit Fußtritten malträtiert wurde, dass sie und das Baby nur durch notärztliche Behandlung überleben konnten.

Zu erwähnen, dass der Täter libanesischer Herkunft ist, galt lange nicht als opportun. Doch in allen hier erwähnten Fällen spielt der so genannte Migrationshintergrund eine Rolle. Kinder von Migranten sind doppelt so häufig in Gewaltvorfälle verwickelt, wie es ihrem Anteil an der Schülerschaft entspricht. Sie sind überdurchschnittlich oft auf der Täterseite vertreten, während die deutschen Kinder überdurchschnittlich oft unter den Opfern sind.

Es ist gut, dass über diese Dinge endlich gesprochen wird. Es gibt in Deutschland nämlich nicht nur Ausländerfeindlichkeit, sondern auch eine zunehmend aggressive Deutschenfeindlichkeit. Wenn Polizei und Politik sich der migrantischen Gewaltkul¬tur nicht annehmen, wird sich das Problem auf eine Weise lösen, die niemand wollen kann: durch weitere Segregation in unseren Städten.

Die Ansätze dazu sind unübersehbar: Viele der Schulen in Berlin-Mitte oder Neukölln, aber auch in Duisburg-Marxloh und Hamburg-Wilhelmsburg sind bereits de facto segregiert mit Ausländeranteilen von 80 bis 100 Prozent. In den so entstehenden ethnischen Kolonien bleiben die Migranten unter sich, eingesperrt in einen Kreislauf von Transferabhängigkeit, Bildungsversagen und Kompensation durch Macho-Gehabe.

Allerdings muss man bezweifeln, dass der politische Mut vorhanden ist, diese Entwicklung zu durchbrechen. Die Berliner Politik hat die erschreckenden Meldezahlen sogleich relativiert. Es handele sich wahrscheinlich nicht um einen realen Anstieg der Gewalt, sondern um eine größere Meldebereitschaft aufgrund "höherer Sensibilität”.

Wahr ist daran, dass erst seit kurzem die Pflicht zur Meldung jedes Gewaltvorfalls besteht. In Berlin gibt es seit einigen Jahren ein vorbildliches Programm mit dem Titel "Hinsehen und Handeln”, das die Schulen verpflichtet, Gewalttaten anzuzeigen und mit Konsequenzen zu belegen. Aber die Schulen werden mit diesem löblichen Programm alleine gelassen. In Berlin-Mitte, dem schlimmsten Problembezirk, ist eine einzige Schulpsychologin für über 30 Oberschulen zuständig. Sie kämpft auf verlorenem Posten.

Sind die Lehrer sensibel? Das Wort "Sensibilität” muss man sich angesichts von Nasenbrüchen, Messerstichen und Morddrohungen auf der Zunge zergehen lassen. Schulpsychologen erklären seit Jahren, dass es bei den Gewaltdelikten eine erschreckende Enthemmung festzustellen gilt, die in den nüchternen Zahlen nicht erfasst wird. Wer schon am Boden liegt, wird noch getreten. Und gerne wird das Ganze dann auch noch mit dem Handy gefilmt, um es mit Freunden zu teilen oder auf "You Tube" auszustellen. "Du Opfer” ist das Lieblingsschimpfwort der migrantischen Gewaltkultur.

Es ist richtig, die sozialen Hintergründe der Gewalt zu sehen: Viele der Jungen wachsen in Armut und Chancenlosigkeit auf. Auch der unklare Rechtsstatus mancher Familien, die sich von Duldung zu Duldung hangeln, trägt zur Verwahrlosung bei.

Doch die Frage, warum die Reaktionen auf diese Benachteiligungen bei Muslimen allzu oft Gewalt und übersteigerte Machokultur sind, ist nicht allein sozial zu beantworten. Andere Migranten aus anderen Kulturen finden produktive Lösungen.

Jungen aus muslimischen Familien akzeptieren die Autorität von Lehrerinnen nicht, weil sie es gewohnt sind, dass die Frauen zu Hause unter der Herrschaft des Vaters und der Söhne stehen. Sie brauchen, wie der türkische Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak sagt, eine "konfrontative Pädagogik”. Ihnen müssen Grenzen gesetzt und Regeln gegeben werden, deren Verletzung harte Konsequenzen nach sich zieht.

Interkulturelle Kompetenz – darunter hat man sich früher vor allem die freundliche Einfühlung in das Anderssein des Anderen vorgestellt, das nicht angetastet werden sollte. Wie falsch das war, sieht man jetzt. Es geht heute in der Tat um interkulturelle Einfühlung und Wissen vom Anderen. Es geht um das Wissen, dass den gewaltbereiten Jungs mit Verständnis und Einfühlung nicht geholfen ist. Sie brauchen Zuwendung und Reibung, Konfrontation und Sanktion.

Interkulturelle Kompetenz bedeutet heute auch das Wissen um die nötige Härte. Und den Mut und das Selbstvertrauen, auf der Durchsetzung von Regeln zu bestehen, ohne die eine de facto multikulturelle Gesellschaft wie die unsere nicht überleben kann.

Jörg Lau, Journalist und Autor. Er war Literaturredakteur der "tageszeitung" und ist Mitarbeiter der "Zeit" in Berlin. Letzte Buchveröffentlichung: "Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben".