Kriminalität

Jugendliche Gewalt: Was hinter den steigenden Zahlen steckt

35:58 Minuten
Jugendlicher hält ein Messer in der Hand, im Hintergrund stehen andere Jugendliche
Im Vergleich zum Vorjahr ist 2023 die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen in Deutschland um 9,5 Prozent auf rund 207.000 gestiegen. In den Nullerjahren gab es aber insgesamt viel mehr Jugendkriminalität als heute. © picture alliance / Loop Images / Highwaystarz
04.07.2024
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Laut Polizeilicher Kriminalitätsstatistik werden Kinder und Jugendliche in Deutschland immer gewalttätiger. Die aktuellen Zahlen liegen klar über dem Vor-Corona-Niveau, aber auch klar über dem Niveau von 2022. Wo die Gründe liegen.
In Berlin ebenso wie etwa in München: Es gibt immer mehr Gewalt und immer weniger Respekt unter Jugendlichen, da sind sich die Polizeibehörden einig.

Was sagen die Zahlen und wie kommen sie zustande?

Zwar haben vier von fünf Jugendlichen laut Studien schon mal eine Straftat begangen. Aber was dramatisch klingt, ist oft eher harmlos. Denn unter den Begriff Straftaten fällt auch: Mal etwas kaputtmachen, ein privates Grundstück betreten, in einem Laden etwas mitgehen lassen, Schwarzfahren, Wahlplakate runterreißen. Nicht jede Straftat ist gleich dramatisch.
Weil jede Anzeige in der Statistik landet, sind die Zahlen erst einmal nur begrenzt aussagekräftig. Die wenigsten Kinder und Jugendlichen hätten öfter mit der Polizei zu tun, betont Beate Ostertag von der Zentralstelle für Prävention des LKA Berlin, Abteilung Jugenddelinquenz: „Über 70 Prozent der Jugendlichen werden nie polizeilich auffällig. Die schwänzen Schule. Das ist normales jugendliches Verhalten. Von den übrigen 30 Prozent werden die meisten nur ein bis drei Mal auffällig. Mit Ladendiebstahl oder Körperverletzung, so einfache Dinge oder Beleidigung oder Ähnliches.“

Zunahme der Gewalt in den vergangenen zwei Jahren

In Berlin werden nur drei bis sieben Prozent der Jugendlichen zu Intensivtätern, bundesweit sind es fünf bis acht Prozent. Diese wenigen begehen mehr als die Hälfte aller Taten, und viele davon sind dabei gewalttätig.
Allerdings: Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder – also unter 14 Jahren – um zwölf Prozent auf rund 104.000 gestiegen. Die der Jugendlichen um 9,5 Prozent auf rund 207.000. Schon 2022 wurde ein starker Anstieg in beiden Gruppen verzeichnet.

Haupttatort ist die Schule

Gewalt, könnte man meinen, geschieht im Schutz der Dunkelheit, nachts in einer verlassenen U-Bahn oder in No-Go-Areas. Bei Kindern und Jugendlichen trifft dies für Haupttatzeit - und ort nicht zu: „Eine typische Zeit ist die Mittagspause, der Schulschluss, da entladen sich Aggressionen. Rot ist bei uns die Mittagszeit in der Woche. Alles, was mit Schule zusammenhängt, steigt an", sagt Ostertag vom LKA.
Die Beobachtungen in Berlin decken sich mit denen in anderen Bundesländern. 2022 registrierten zum Beispiel allein die Schulen in Nordrhein-Westfalen 5.400 Gewaltdelikte. Im Vergleich zu 2019 ein Anstieg um mehr als die Hälfte – während die Schülerzahl nur um etwa ein Prozent wuchs. Ähnliche Entwicklungen gibt es in Baden-Württemberg, Sachsen, Bayern oder Brandenburg.

Jugendkriminalität war in den Nullerjahren viel höher

Tatsache ist aber auch: Im Vergleich zu den Nullerjahren ist die Kriminalität bundesweit gesunken. In den vergangenen 20 Jahren hat sie sich statistisch fast halbiert. Jugendliche wachsen heute im Durchschnitt also gewaltfreier auf als vorherige Generationen.
Seit 2021 steigt die Zahl straftatverdächtiger Kinder und Jugendlicher jedoch wieder an. Und diese Entwicklung konzentriert und spiegelt sich oft in den Schulen: Kinder reproduzieren, was ihnen vorgelebt wird, sagen Experten. Wenn eine Gesellschaft generell von Aggression geprägt ist, ist es kein Wunder, dass auch Kinder öfter Grenzen überschreiten.

Welchen Einfluss haben die Sozialen Medien auf die Gewaltzunahme?


Mobbing als Gewaltform ist nicht neu. Relativ neu ist, dass Jugendliche ihre Taten auf ihren Handys aufzeichnen, sie auf Snapchat oder Instagram hochladen. Die Statistik zeigt auch einen neuen Trend darin, dass Schüler kinderpornografische Video- und Bilddateien in Chatgruppen verbreiten.
Das Netz kann ein Ort der Gewalt sein. Und vom Netz kann Gewalt ausgehen. Oft werden aus den Straftaten ganze Filme für die Sozialen Medien.

"Früher gab es kein Tiktok oder Instagram"

Womöglich werden manche Taten überhaupt erst begangen, um sie zu filmen. Das beobachtet Ingo Siebert, Leiter der Geschäftsstelle Landeskommission Berlin gegen Gewalt: „Wir müssen uns stärker mit Hassgewalt auseinandersetzen. Früher gab es kein Tiktok oder Instagram und Ähnliches. Wir schauen stärker auf die Verbindung von Gewalt im Netz und im öffentlichen Raum."
Man versammelt Leute in Chatgruppen und spornt sie an. Man fühlt sich zusammen stark, erfährt ein Gefühl der Anerkennung und Zugehörigkeit. Und wenn es dafür Gewalt braucht, dann scheut man auch vor ihr nicht zurück.

Welchen Einfluss hat die Coronakrise auf die Gewaltzunahme?

Die Pandemie hat in der deutschen Gesellschaft nachhaltig etwas verschoben, da sind sich Experten einig. Die Maßnahmen wurden weniger, aber die Jugendgewalt mehr. Bundesweit ist die Zahl tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher im Jahr 2023 im Vergleich zu 2019 – dem Jahr vor Corona – deutlich gestiegen: bei Jugendlichen um 17 Prozent, bei Kindern sogar um 43 Prozent.

"Zwei Jahre Übung in ‚auf der Straße sein‘ fehlen"

Corona war ein Gamechanger, im negativen Sinn, findet auch Theresia Höynck, Professorin für Kinder- und Jugendrecht an der Uni Kassel, wo sie sich vor allem mit Jugendstrafrecht und Kinderschutz beschäftigt.
„Mit 14, 15 gibt es ja die ersten Formen von Gruppen draußen, Weggehen, Alkohol, in behüteten Formen. Denen fehlen zwei Jahre Übung in ‚auf der Straße sein‘", erläutert Höynck. "In Zeiten, in denen sie sich ganz stark entwickeln, haben sie viele Entwicklungsräume nicht gehabt. Und das holen die jetzt in Turbo nach.“

Welchen Einfluss hat der Fachkräftemangel an Schulen auf die Gewaltzunahme?

Etwa 14.500 Lehrkräfte fehlen bundesweit. Dazu kommen Fehlstunden, Krankheiten und Vertretungen. Eine ungute Mischung. Es gibt also weniger Personal. Und nicht nur größere Klassen, sondern gerade nach Corona noch mehr Kinder, die besondere Unterstützung bräuchten.
Wenn aber das Personal fehlt, wenn es zu wenige Fachkräfte gibt, die in Konflikte eingreifen oder sich um Kinder kümmern können, die sich im System nicht zurechtfinden, dann entstehen ganz eigene und fatale Dynamiken, so Kinder- und Jugendrechtlerin Höynck: „Das Riesenproblem ist, dass die, die sich schwertun, sich nach und nach aus allen Kontexten rausbugsieren."
Solche Kinder und Jugendliche werden etwa aus Sportvereinen ausgeschlossen, weil sie sich schlecht benehmen. Aus der Schule können sie nicht ausgeschlossen werden. Doch in einem ohnehin überlasteten Schulsystem fehlen in den meisten Fällen die Kapazitäten, um diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Höynck betont: "Gerade an denen, die lästig sind und sich rauskatapultieren, müsste man dringend dranbleiben. Aber das ist richtig aufwändig.“

Welchen Einfluss haben die multiple Krisen auf die Gewaltzunahme?

Ingo Siebert von der Geschäftsstelle Landeskommission Berlin gegen Gewalt sagt: „Meine Vermutung ist, dass wir nicht mit einer schnellen Abnahme von Gewalt rechnen können. Sondern, dass Gewalt in Krisen immer eine wichtige Rolle spielt.“
Corona und die Folgen der Pandemie sind nicht die einzige aktuelle Krise. Es gibt den Ukraine-Krieg, die Inflation, den Israel-Palästina-Konflikt, den Klimawandel, immer mehr Geflüchtete. Geflüchtete, die womöglich traumatisiert sind oder Gewalterfahrungen mitbringen.

Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger gestiegen

Tatsächlich hat der Anteil von nicht-deutschen Tatverdächtigen laut Statistik überproportional zugenommen: Nicht-Deutsche sind  – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – etwa doppelt so häufig tatverdächtig wie Deutsche. Die Gründe dafür liegen oft auch in der sozialen Situation. Ausländer haben im Bevölkerungsdurchschnitt einen niedrigeren sozialen Status und ein niedrigeres Bildungsniveau – Deutsche mit ähnlichen Merkmalen sind ähnlich kriminell.


Welchen Einfluss hat ein gewandeltes Männerbild auf die Gewaltzunahme?

Fast alle Intensivtäter in Deutschland sind männlich. Das hat ebenso biologische wie soziale Ursachen, meinen Experten. Mädchen wendeten Aggressionen eher gegen den eigenen Körper, mit Selbstverletzungen etwa oder Essstörungen. Jungs verarbeiteten hingegen externalisierend,  mit Unruhe, Schreien, Gewalt.
Wobei seit Corona auch ein neues Männerbild eine Rolle spiele, beobachtet Jugendstrafrechtlerin Theresia Höynck: „Das Thema Männlichkeitskonzepte, das Thema Stärke spielt eine große Rolle bei der Jugendkriminalität. Wer in Corona wenig Gelegenheit hatte, das auszuprobieren oder seine Chancen verschlechtert hat auf soziale Teilhabe, auf Erfolg, auf Anerkennung in anderen Bereichen, hat an der Stelle gute Möglichkeiten auf billigen Applaus."
Bei diesen Männlichkeitskonzepten böten sich Identifikationsmöglichkeiten, die sozial schlecht verträglich sind, und mit denen diejenigen, die ihnen folgten sich selbst in Gefahr brächten: "Täter und Opfer, das sind dieselben Leute", sagt Höynck.

Nicht-Deutsche auch als Opfer überrepräsentiert

Auch das spiegelt sich in der aktuellen Kriminalstatistik: Nicht-Deutsche sind nicht nur als Tatverdächtige überrepräsentiert – sondern auch als Opfer. Anders als das Klischeebild, das eine rechtsextreme Politik gern bedient.

aha
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