Sie nehmen sich, was sie wollen
Sie sind jung, männlich und wissen nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Und so dienen sie sich den Bossen der Camorra an, der Mafia in Neapel. Der investigative Journalist Roberto Saviano beschreibt das Leben dieser skrupellosen Jugendlichen in seinem ersten Roman.
Auch Davide raste früher mit seinem Moped durch die schmalen Gassen des Spanischen Viertels im Herzen Neapels, um unvorsichtigen Fußgängern die Taschen zu entreißen. I Quartieri Spagnoli: ein ungemein malerisches, aber auch gefährliches Viertel. Hier und anderswo in der Stadt geben immer öfter kriminelle Youngster den Ton an. Jugendliche wie Davide:
"Ich fühlte mich früher richtig toll, wenn ich mit der Waffe loszog, wenn ich Bosse treffen durfte, dann fühlte ich mich wie ein König. Meine erste Waffe besaß ich mit 14 Jahren. Das war mein Leben!"
Der heute 18-Jährige wechselte vor wenigen Monaten die Seiten, nach seiner achten Verhaftung wegen Diebstahls und illegalem Waffenbesitzes, und arbeitet seitdem mit den Justizbehörden zusammen. Und daher interessierte ihn Savianos erster Roman "La paranza dei Bambini". Den Buchtitel kann man in etwa mit "Der Fischzug der Kinder" übersetzen. "Paranza" bezeichnet eine Methode des Fischfangs, bei dem nachts Fische mit Lampen angelockt und bequem eingefangen werden. "Paranza" im Sinn von Savianos Roman meint das Vorgehen erwachsener Bosse, die geschickt junge Menschen ausnutzen und für ihre kriminellen Zwecken einsetzen. Roberto Saviano:
"Mit diesem Buch will ich nicht Neapel der Welt vorführen, sondern die Welt in dieser Stadt. Neapel als Schmelztiegel einer bestimmten Kriminalität, die anderswo auf dem Globus bereits Realität ist, bei uns in Italien aber etwas komplett Neues bedeutet. Es geht um ein bestimmtes Phänomen."
Lebendige, krimiähnliche Erzählung
Das Buch erzählt die Geschichte einer Gang neapolitanischer Jungs, fast alle minderjährig, die sich einen Spaß daraus machen, von Hausdächern im historischen Zentrum auf Menschen zu schießen. In den Straßen der Stadt begehen sie Raubüberfälle, um Schutzgelder zu kassieren. Je mehr Geld sie eintreiben, sagt einer der Protagonisten des Buches, umso besser fühlen sie sich.
Für seinen ersten Roman studierte Saviano die jüngsten Ermittlungsergebnisse der Anti-Mafia-Ermittler:
"Ich las vor allem sehr aufmerksam die Recherchen des Staatsanwalts Woodcock zum italienischen Phänomen der Gangs von Minderjährigen. Ich beschreibe in literarischer Form ein Phänomen, das sich auch in Italien ausbreitet: junge Leute, die sich, auch mit Gewalt, nehmen was sie wollen."
Savianos Roman ist eine Analyse. Beschrieben wird - sehr lebendig, auf krimiähnliche Weise und mit stark gezeichneten Protagonisten - ein gesellschaftlicher Zustand, der in Europa noch Seltenheitswert hat. Anders als in bestimmten Großstädten Lateinamerikas und Afrikas: Dort sind skrupellose Jugendbanden an der Tagesordnung. Sie nehmen sich was sie wollen. Koste es was es wolle. Und die von lokalen Bossen im Handel mit Drogen und Waffen und zur Einschüchterung eingesetzt werden, angelockt werden, mit dem Versprechen auf Geld und Einfluss und, so der Traum dieser Minderjähren, auf mafiöse Macht. Ein hartes Leben, immer verfolgt von der Polizei. Ein Leben, das Davide lebte und dass er in Savianos Buch ungemein realistisch beschrieben findet:
"Jeden Abend zum Beispiel musste ich in einem anderen Stadtviertel untertauchen, um nicht geschnappt zu werden. Und ich durfte meine Waffe nicht verlieren. Die hatte mir ein Boss gegeben. Wenn ich die verloren hätte, hätte ich sie bezahlen müssen."
Kriminelle Karriere aus Mangel an Alternativen
Savianos Roman erzählt die unterschiedlich stark ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnisse einzelner Gangmitglieder zu einflussreichen Bossen. Und wie diese die Minderjährigen als neue Mitglieder ihrer Clans heranziehen. Angesichts des nahezu totalen Fehlens legaler Ausbildungs- und Berufsperspektiven im Großraum Neapel stellen solche kriminellen Karrieren eine konkrete Lebensperspektive dar. In diesem Sinn ist Savianos Roman "La paranza dei bambini" eine erschreckende Anklage gegen einen Staat, der Phänomene wie diese nur halbherzig bekämpft.