Jugendliche Revolte im Namen der Religion

Von Hartmut Krug |
Marius von Mayenburg hat das Stück "Märtyrer" nicht nur geschrieben, er inszeniert es auch. Im Mittelpunkt: der Schüler Benjamin, der sich voll religiösen Eifers gegen seine Mutter und Mitschüler auflehnt. Warum, erfährt man leider nicht.
Die Aufführung beginnt mit einem gemeinsamen, erst schräg instrumentierten, dann sauber gesungenen "Kyrie Eleison" des Ensembles. Und wir sind sofort informiert: Hier geht es um Existentielles, um Religion. Da kann der junge Benjamin noch so cool herum sitzen und auf seiner Elektrogitarre klimpern, er muss Probleme haben. Die sind zwar groß, werden aber wie die Figur weder erklärt noch entwickelt, sondern einfach gesetzt. Da helfen auch wissenschaftliche Essays im Programmheft zu Adoleszenz, Fanatismus und Psychoanalyse wenig. Denn das neue Stück von Marius von Mayenburg bleibt mehr szenisches Referat als dass es zu sinnlichem Theater wird.

Benjamin hat seit Tagen in der Schule den Schwimmunterricht geschwänzt. Seine Mutter, (mit wunderbar hilflosem Pragmatismus: Judith Engel), will für ihren Entschuldigungsbrief seine Gründe wissen. Die vorgeschobene Nebenhöhlenentzündung akzeptiert sie nicht, sie vermutet, so enervierend kumpelhaft offen wie eindringlich, Drogen- oder sexuelle Probleme mit "unkontrollierbaren Erektionen". Der Sohn aber nennt "religiöse Gefühle", die durch die unsittlichen Bikinis der Mitschülerinnen verletzt seien. Knapp, präzise und urkomisch ist dieser Eingangsdialog.

Doch dann geht es nach dem Song "What a wonderful world" weiter mit einem Benjamin, der voll fundamentalistischem Furor mit radikalen Bibelzitaten um sich wirft, in voller Bekleidung ins Schwimmbassin springt, sich nackt auszieht oder ein Kruzifix an die Wand nagelt. Seine Mutter ist entsetzt und wirft dem Lehrerkollegium vor, zu versagen, denn schließlich hatte sie "einen normal schwer erziehbaren Jungen". Und jetzt das: Benjamin benutzt frauenfeindliche, alttestamentarische Bibelzitate als Waffen gegen schändliche Leidenschaften. Er revoltiert nicht nur gegen einen urkomisch fortschrittlichen Biologieunterricht, in dem mit Mohrrüben und Präservativen Sexualaufklärung betrieben wird (Mayenburg beweist nicht nur hier seine kabarettistische Begabung), sondern gegen jede fortschrittliche Wissenschaft mit fundamentalistischen Argumenten. Er droht allen anderen damit, dass Gott sie richten werde, und wirft sich in eine Art Heilsbringerpose.

Wir schauen dieser Figur eher amüsiert als neugierig oder betroffen zu. Auch, weil ihr Darsteller Bernardo Arias Porras ihr kein individuelles Profil zu geben vermag, sondern sie eher als Lautsprecher gibt. Allzu sehr ist dieser Benjamin nur ein Demonstrationsobjekt des Autors, ein Konstrukt ohne Tiefe und Begründung.

Klar, es geht um Fundamentalismus, den es nicht nur im Islam, sondern auch im Christentum gibt. Doch damit uns Benjamin näher interessieren soll und wir seine leere Radikalität verstehen können, müsste der Autor uns etwas mehr von ihm erzählen, besser: zeigen. Da reichen nicht kurze, verwirrt angeregte und abweisende Haltungen gegenüber den sexuellen Avancen einer Mitschülerin und seines Klassenkameraden Georg. Der mit einem Humpelbein versehrte Georg wird von seinen Mitschülern in der Pause gern in den Müll gesteckt, behauptet er jedenfalls mit einer von Mayenburgs Klischee-Ideen. Er lässt sich deshalb von Benjamin zu dessen Jünger machen. Doch die versprochene Heilung des Beins durch Benjamin misslingt ebenso wie seine hilflos zärtliche Annäherung an den religiösen Eiferer.

Marius von Mayenburg hat nach seinen zahlreichen Stücken mit Familienaufstellungen, die meist in Gewaltausbrüchen mündeten, einmal erklärt, ihn interessierten mittlerweile Figuren, die nicht nur Konflikte mit anderen Personen, sondern auch mit sich selbst hätten. Warum dies bei Benjamin so ist, hätten wir gern genauer erfahren. Doch was wir geboten bekommen, ist neben der Familienaufstellung nur noch eine unterhaltsame Kollegiumsaufstellung.

Da gibt es die fortschrittliche Biologielehrerin (überzeugend engagiert: Eva Meckbach), die sich in den Kampf gegen Bernhard und eine intensive Bibellektüre wirft, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Dann ihren Kollegen und Lebenspartner (Sebastian Schwarz), der sich einfach so durchschummeln will. Einen hilflosen Pfarrer und Religionslehrer (blass: Urs Jucker), sowie einen opportunistischen, latent reaktionären Direktor, dessen nur leicht verbrämten Sexismus Robert Beyer souverän ausstellt.

Auf der offenen Bühne von Nina Wetzel sind alle Darsteller immer präsent. Die Szenen und Orte gehen ineinander über, und religiöse Lieder verbinden oder kommentieren sie. Als sein eigener Regisseur arbeitet Marius von Mayenburg aus seinem Text vor allem die komischen Seiten heraus. Doch wenn zum Beispiel Benjamin die Lehrerin zur Täterin macht, indem er behauptet, sie habe ihn angefasst, so hätte man gern die Ambivalenz dieses Vorgangs zwischen emotionaler Hilfsbereitschaft auf Seiten der Lehrerin und sexueller Verwirrtheit des Schülers gespielt gesehen.

Immerhin gibt es einen deutlichen, aber offenen Schluss. Die Lehrerin, angeklagt von Benjamin und entlassen vom Direktor, geht nicht, sondern nagelt sich am Fußboden fest. Der Kampf geht weiter, wogegen auch immer.
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