"Jugendliche stecken von Natur aus in einer Veränderungskrise"
Jugendliche helfen Jugendlichen: Das ist das Prinzip des Projektes "u25" der Caritas. Suizidgefährdete Teenager können hier jemanden finden, der ihnen zuhört. Die Peerberater sind im gleichen Alter - das hilft den Ratsuchenden, sich zu öffnen, sagt Christina Obermüller von der Caritas.
Kirsten Westhuis: Etwa alle 56 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben. Auch wenn die Suizidrate bei uns heute deutlich niedriger ist als noch vor 20 Jahren, sterben immer noch mehr als 10.000 Menschen im Jahr durch Selbsttötung – das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Drogen und Aids zusammen. Die Zahl der Suizidversuche liegt noch mal deutlich höher, rund zehnmal so die Schätzungen. Und die Dunkelziffer ist hoch, denn viele Selbstmordversuche werden nicht als solche erkannt oder erfasst.
Besonders häufig gibt es Suizidversuche bei den unter 25-Jährigen. Prävention und Hilfe online – ganz konkret für suizidgefährdete Jugendliche und junge Erwachsene –, das bietet neben anderen der Caritasverband an. Er startete vor zehn Jahren das Modellprojekt "u25" in Freiburg, und jetzt wird die Beratung suizidgefährdeter Jugendlicher per E-Mail auch in Hamburg, Dresden, Gelsenkirchen und Berlin aufgebaut. Bei dem Projekt u25 setzt die Caritas auf Gleichaltrige – auf die Peergroup. Die Sozialpädagogin Christina Obermüller bildet Jugendliche in Berlin zu sogenannten Peerberatern aus, kurz auch Peers genannt. Ich habe vor der Sendung mit ihr gesprochen und wollte erst einmal von ihr wissen, wie denn diese Onlineberatung überhaupt aussieht.
Christina Obermüller: Bei uns gibt es derzeit zehn Jugendliche, die sich zum Peerberater ausbilden lassen. Die Ausbildung dauert sechs Monate, und danach startet das Projekt mit der Mailberatung. Bei der Mailberatung können junge Menschen unter 25 über ein Onlineformat Hilfe bei uns suchen, und die Peers stellen einen E-Mail-Kontakt her.
Westhuis: Wer sind diese Peers, wo kommen die her, wer meldet sich, um Peerberater zu werden?
Obermüller: Das sind ganz unterschiedliche junge Menschen. Ich habe drei ganz junge Menschen, 16 Jahre, die sind noch Schüler, aber auch angehende Psychologen, Mediziner, Sozialpädagogen, also ganz verschiedene Bereiche.
Westhuis: Und wie sieht diese Ausbildung zum Peerberater aus – sechs Monate, ist das ein Kurs, wie sieht das genau aus?
Obermüller: Genau – wir treffen uns an sieben Mittwochabenden und drei Samstagen. Wir fangen an mit der Gruppenkennenlernphase. Wir versuchen ein Team zu bilden – das ist besonders wichtig, weil wir auch außerhalb der Ausbildungsphase uns ja noch regelmäßig zu Supervisionstreffen treffen. Dann geht es darum, eigene Krisenerfahrungen zu reflektieren und das eigene Verhalten zum Suizid darzustellen. Die Jugendlichen lernen, wie konkret man eine Mail beantworten kann und was zu beachten ist.
Westhuis: Wie muss ich mir das vorstellen? Die sitzen dann zu Hause und beantworten Mails von Leuten, die Suizidgedanken haben?
Obermüller: Also die Jugendlichen können selber entscheiden, ob sie von zu Hause aus schreiben oder aus unserer Beratungsstelle aus schreiben. Vor allem in der ersten Phase werden die E-Mails, bevor sie rausgeschickt werden, noch mal gegengelesen von mir. Sie sind nicht alleine, die Jugendlichen.
Westhuis: Warum setzen Sie auf Jugendliche? Sind das die besseren Zuhörer?
Obermüller: Vor allem, es senkt die Hemmschwelle für die Jugendlichen, die uns schreiben, weil viele Jugendliche, die Probleme haben, möchten halt nicht zu einem Erwachsenen, zu einem professionellen Berater gehen, und die Jugendlichen sprechen die gleiche Sprache. Sie sind in einer ähnlichen Situation. Sie sind in der Schule, sie sind in der Ausbildung, sie pubertieren, sie haben Probleme zu Hause – also es sind viele Sachen, die sehr ähnlich sind, was die Beratung einfacher macht.
Westhuis: Kann man das lernen in einem Kurs, wirklich mit Leuten umzugehen, die sich umbringen möchten?
Obermüller: Also die Jugendlichen sind ja nicht alleine, das ist ganz klar. Also wir treffen uns ja auch weiterhin dann alle zwei Wochen und besprechen die Fälle, gucken, wie geht es den Jugendlichen mit ihren Klienten, brauchen sie weitere Unterstützung oder sind sie vielleicht sogar überfordert und möchten den Klienten abgeben, was jederzeit möglich ist. Aber die Erfahrung zeigt, die Erfahrung aus Freiburg zeigt, dass es eigentlich nicht so ist. Die Jugendlichen können das sehr gut handhaben.
Westhuis: Was zeigt Ihre Erfahrung aus Freiburg, wo das Projekt jetzt schon seit zehn Jahren läuft – worum geht es in diesen Mailkontakten zwischen den Peerberatern und den suizidgefährdeten Jugendlichen? Kommen die sich nahe, baut sich da eine Freundschaft auf, ist das einfach nur ein Chatten, was ist das?
Obermüller: Also es geht schon um eine Begleitung, um eine Befreundung. Wir bieten ja keine Therapie an. Die Jugendlichen sind für die anderen Jugendlichen da. Das ist etwas längerfristig, also es ist nicht zeitlich begrenzt. Es gibt so viele verschiedene Gründe, warum die Jugendlichen uns schreiben, dass man gar nicht sagen kann, die schreiben nur, weil sie Liebeskummer haben oder weil sie mit ihren Eltern Probleme haben – also die Bandbreite ist sehr groß.
Westhuis: Schreiben die denn, um zu schreiben und um Kontakt zu finden und jemanden, der ihnen zuhört? Ist es ein Hilferuf, eine Suche nach Kontakt, oder schreiben sie wirklich, weil sie kurz vorm Suizid stehen?
Obermüller: Sowohl als auch. Natürlich gibt es welche, die befinden sich in einer Lebenskrise, ohne direkt über Suizid nachzudenken, aber wir haben auch sehr viele Jugendliche, die suizidal sind, also auch schon Suizidversuche hinter sich haben und konkret planen, sich selbst zu töten.
Westhuis: Und da hilft Reden oder Schreiben?
Obermüller: Das hilft auf jeden Fall. Ganz oft ist es, wenn der Jugendliche die Möglichkeit bekommt, frei über seinen Plan, über seine Gedanken zu reden, dass da schon der Druck erst mal genommen wird. Wir fragen konkret nach, wie sieht’s aus, was hast du vor, hast du schon eine Zeit gewählt, und das kann schon den Druck lösen. Außerdem versuchen wir die Jugendlichen immer zu anderen Beratungsstellen zu vermitteln, wenn das möglich ist, da wir ja keine Therapie anbieten oder bei psychischen Erkrankungen an Ärzte oder Psychiater weitervermitteln wollen.
Westhuis: Wie begleiten Sie die jugendlichen Peerberater? Was passiert, wenn Sie nicht helfen können und wenn tatsächlich sogar ein Suizid eintritt?
Obermüller: Die Beratung ist ja völlig anonym, sowohl für die Peers als auch für die Jugendlichen, die uns schreiben, deswegen können wir nicht wirklich sagen, ob ein Suizid stattgefunden hat oder nicht. Es ist ganz oft, dass die Jugendlichen einfach nicht mehr schreiben und wir nicht wissen, was passiert ist, aber es gibt natürlich auch Jugendliche, die sich bedanken, wo alles gut ist. Ja, wir besprechen das in unseren Teams und gucken, dass die Peers sowohl für sich da sind als ich auch für die Peers da bin, um die zu stärken.
Westhuis: Ich kann mir vorstellen, dass es eine unglaublich starke Belastung ist für einen Jugendlichen, wenn er von anderen die ganzen Probleme aufnehmen muss.
Obermüller: Es ist wahrscheinlich nicht ein einfaches Ehrenamt, aber die Erfahrung in Freiburg zeigt, dass die Jugendlichen das wirklich sehr gut handeln können.
Westhuis: Die Suizidversuchsrate liegt bei Jugendlichen deutlich höher als bei anderen Altersgruppen. Als Risikofaktoren für suizidales Handeln werden oft auch psychische Krankheiten genannt, also wirklich Krankheiten, die diagnostizierbar wären und auch behandelbar wären, aber oft auch unerkannt bleiben, zum Beispiel depressive Erkrankungen, Psychosen, Suchtkrankheiten. Ist das auch bei vielen Jugendlichen ein Grund, oder kommen da, speziell bei den jungen Leuten, noch mal ganz andere Zusammenhänge zusammen?
Obermüller: Depressionen sind natürlich auch bei jungen Menschen ein Grund oder Burn-out, Überforderung in der Schule, in der Ausbildung. Borderline spielt eine große Rolle. Aber diese Jugendlichen versuchen wir natürlich zu begleiten, aber auch weiterzuvermitteln zu Ärzten und anderen Hilfsstellen.
Westhuis: Gibt’s speziell Risikofaktoren oder Sachen, die junge Leute so überfordern, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen?
Obermüller: Also die Jugendlichen sind ja eine Gruppe, die schon von Natur aus in einer Veränderungskrise stecken, in der Pubertät, und wir lernen übers Leben einfach, mit Krisen umzugehen und uns Möglichkeiten zu verschaffen, um Krisen besser zu überstehen. Und junge Menschen stehen halt am Anfang, um das zu lernen. Daher sind sie schon eine Risikogruppe.
Westhuis: Und die Jugendlichen, die sich bei Ihnen als Peerberater melden oder zur Ausbildung zum Peerberater, haben die schon einige Krisen hinter sich, wissen die besser, damit umzugehen, oder ist das für die auch noch mal ein ganz großer Lernprozess?
Obermüller: Sowohl als auch. Wir haben Jugendliche, die haben eigene Krisenerfahrungen, aber auch Jugendliche, die keine Krisenerfahrung haben. Das kann sowohl hilfreich als auch nicht hilfreich sein. Es gibt Jugendliche, die studieren Soziale Arbeit und befassen sich gerne mit dem Thema.
Westhuis: Das Onlineberatungsangebot richtet sich ganz speziell an Jugendliche, aber was kann denn jeder Einzelne tut, der Jugendliche in seinem Umfeld hat, also Lehrer oder Gruppenleiter oder auch natürlich ganz privat in der Familie? Gibt es Warnsignale, die auf Suizidgefährdung hinweisen, und was kann man tun?
Obermüller: Also es gibt eindeutige Warnsignale und auch nicht eindeutige Warnsignale. Das Abkoppeln von der Familie, von den Freunden, einfach sich zurückziehen, Abschiedsbriefe schreiben, sich selbst verletzen, riskantes Lebensverhalten, nicht mehr essen oder plötzlich viel zu viel essen – das sind so Sachen, die zusammenkommen können.
Westhuis: Ja, es kann also ein ganz vielfältiges Verhalten sein. Wie können denn Umstehende damit umgehen, seien es jetzt andere Jugendliche oder vielleicht in der Familie, wenn man das beobachtet bei anderen Jugendlichen?
Obermüller: Zuhören ist ganz wichtig, und wenn man die Vermutung hat, einfach klar aussprechen: Hast du Suizidgedanken? Jemand, der keine Suizidgedanken hat, der wird nicht welche bekommen. Ich glaube, das ist eine große Angst bei allen. Aber wer Suizidgedanken hat, wird diesen Druck loswerden, und das kann helfen. Das kann die Lösung sein, dass die Jugendlichen bereit sind, sich helfen zu lassen. Und zuhören, zuhören, zuhören, das ist ganz wichtig.
Westhuis: Frau Obermüller, ist das auch ein Plädoyer dafür, das Thema Suizid bei Jugendlichen einfach viel deutlicher, viel klarer und offener zu thematisieren, also einfach anzusprechen?
Obermüller: Ja. Also ich denke nicht nur bei Jugendlichen, bei allen Altersgruppen. Es wäre sehr hilfreich, wenn das Thema offener diskutiert werden würde, und wenn Familien, Lehrer, Ärzte Warnsignale kennen würden, dann könnte man viel mehr tun. Man geht davon aus, dass ungefähr 80 Prozent aller Suizide angekündigt sind, und wenn man das wahrnehmen würde, dann könnte man schon etwas dagegen tun.
Westhuis: Reden hilft! Das war Christina Obermüller vom Caritasverband Berlin. Informationen und Kontakt zur Onlineberatung für suizidgefährdete Jugendliche gibt es im Internet auf der Seite www.u25-berlin.de.
Besonders häufig gibt es Suizidversuche bei den unter 25-Jährigen. Prävention und Hilfe online – ganz konkret für suizidgefährdete Jugendliche und junge Erwachsene –, das bietet neben anderen der Caritasverband an. Er startete vor zehn Jahren das Modellprojekt "u25" in Freiburg, und jetzt wird die Beratung suizidgefährdeter Jugendlicher per E-Mail auch in Hamburg, Dresden, Gelsenkirchen und Berlin aufgebaut. Bei dem Projekt u25 setzt die Caritas auf Gleichaltrige – auf die Peergroup. Die Sozialpädagogin Christina Obermüller bildet Jugendliche in Berlin zu sogenannten Peerberatern aus, kurz auch Peers genannt. Ich habe vor der Sendung mit ihr gesprochen und wollte erst einmal von ihr wissen, wie denn diese Onlineberatung überhaupt aussieht.
Christina Obermüller: Bei uns gibt es derzeit zehn Jugendliche, die sich zum Peerberater ausbilden lassen. Die Ausbildung dauert sechs Monate, und danach startet das Projekt mit der Mailberatung. Bei der Mailberatung können junge Menschen unter 25 über ein Onlineformat Hilfe bei uns suchen, und die Peers stellen einen E-Mail-Kontakt her.
Westhuis: Wer sind diese Peers, wo kommen die her, wer meldet sich, um Peerberater zu werden?
Obermüller: Das sind ganz unterschiedliche junge Menschen. Ich habe drei ganz junge Menschen, 16 Jahre, die sind noch Schüler, aber auch angehende Psychologen, Mediziner, Sozialpädagogen, also ganz verschiedene Bereiche.
Westhuis: Und wie sieht diese Ausbildung zum Peerberater aus – sechs Monate, ist das ein Kurs, wie sieht das genau aus?
Obermüller: Genau – wir treffen uns an sieben Mittwochabenden und drei Samstagen. Wir fangen an mit der Gruppenkennenlernphase. Wir versuchen ein Team zu bilden – das ist besonders wichtig, weil wir auch außerhalb der Ausbildungsphase uns ja noch regelmäßig zu Supervisionstreffen treffen. Dann geht es darum, eigene Krisenerfahrungen zu reflektieren und das eigene Verhalten zum Suizid darzustellen. Die Jugendlichen lernen, wie konkret man eine Mail beantworten kann und was zu beachten ist.
Westhuis: Wie muss ich mir das vorstellen? Die sitzen dann zu Hause und beantworten Mails von Leuten, die Suizidgedanken haben?
Obermüller: Also die Jugendlichen können selber entscheiden, ob sie von zu Hause aus schreiben oder aus unserer Beratungsstelle aus schreiben. Vor allem in der ersten Phase werden die E-Mails, bevor sie rausgeschickt werden, noch mal gegengelesen von mir. Sie sind nicht alleine, die Jugendlichen.
Westhuis: Warum setzen Sie auf Jugendliche? Sind das die besseren Zuhörer?
Obermüller: Vor allem, es senkt die Hemmschwelle für die Jugendlichen, die uns schreiben, weil viele Jugendliche, die Probleme haben, möchten halt nicht zu einem Erwachsenen, zu einem professionellen Berater gehen, und die Jugendlichen sprechen die gleiche Sprache. Sie sind in einer ähnlichen Situation. Sie sind in der Schule, sie sind in der Ausbildung, sie pubertieren, sie haben Probleme zu Hause – also es sind viele Sachen, die sehr ähnlich sind, was die Beratung einfacher macht.
Westhuis: Kann man das lernen in einem Kurs, wirklich mit Leuten umzugehen, die sich umbringen möchten?
Obermüller: Also die Jugendlichen sind ja nicht alleine, das ist ganz klar. Also wir treffen uns ja auch weiterhin dann alle zwei Wochen und besprechen die Fälle, gucken, wie geht es den Jugendlichen mit ihren Klienten, brauchen sie weitere Unterstützung oder sind sie vielleicht sogar überfordert und möchten den Klienten abgeben, was jederzeit möglich ist. Aber die Erfahrung zeigt, die Erfahrung aus Freiburg zeigt, dass es eigentlich nicht so ist. Die Jugendlichen können das sehr gut handhaben.
Westhuis: Was zeigt Ihre Erfahrung aus Freiburg, wo das Projekt jetzt schon seit zehn Jahren läuft – worum geht es in diesen Mailkontakten zwischen den Peerberatern und den suizidgefährdeten Jugendlichen? Kommen die sich nahe, baut sich da eine Freundschaft auf, ist das einfach nur ein Chatten, was ist das?
Obermüller: Also es geht schon um eine Begleitung, um eine Befreundung. Wir bieten ja keine Therapie an. Die Jugendlichen sind für die anderen Jugendlichen da. Das ist etwas längerfristig, also es ist nicht zeitlich begrenzt. Es gibt so viele verschiedene Gründe, warum die Jugendlichen uns schreiben, dass man gar nicht sagen kann, die schreiben nur, weil sie Liebeskummer haben oder weil sie mit ihren Eltern Probleme haben – also die Bandbreite ist sehr groß.
Westhuis: Schreiben die denn, um zu schreiben und um Kontakt zu finden und jemanden, der ihnen zuhört? Ist es ein Hilferuf, eine Suche nach Kontakt, oder schreiben sie wirklich, weil sie kurz vorm Suizid stehen?
Obermüller: Sowohl als auch. Natürlich gibt es welche, die befinden sich in einer Lebenskrise, ohne direkt über Suizid nachzudenken, aber wir haben auch sehr viele Jugendliche, die suizidal sind, also auch schon Suizidversuche hinter sich haben und konkret planen, sich selbst zu töten.
Westhuis: Und da hilft Reden oder Schreiben?
Obermüller: Das hilft auf jeden Fall. Ganz oft ist es, wenn der Jugendliche die Möglichkeit bekommt, frei über seinen Plan, über seine Gedanken zu reden, dass da schon der Druck erst mal genommen wird. Wir fragen konkret nach, wie sieht’s aus, was hast du vor, hast du schon eine Zeit gewählt, und das kann schon den Druck lösen. Außerdem versuchen wir die Jugendlichen immer zu anderen Beratungsstellen zu vermitteln, wenn das möglich ist, da wir ja keine Therapie anbieten oder bei psychischen Erkrankungen an Ärzte oder Psychiater weitervermitteln wollen.
Westhuis: Wie begleiten Sie die jugendlichen Peerberater? Was passiert, wenn Sie nicht helfen können und wenn tatsächlich sogar ein Suizid eintritt?
Obermüller: Die Beratung ist ja völlig anonym, sowohl für die Peers als auch für die Jugendlichen, die uns schreiben, deswegen können wir nicht wirklich sagen, ob ein Suizid stattgefunden hat oder nicht. Es ist ganz oft, dass die Jugendlichen einfach nicht mehr schreiben und wir nicht wissen, was passiert ist, aber es gibt natürlich auch Jugendliche, die sich bedanken, wo alles gut ist. Ja, wir besprechen das in unseren Teams und gucken, dass die Peers sowohl für sich da sind als ich auch für die Peers da bin, um die zu stärken.
Westhuis: Ich kann mir vorstellen, dass es eine unglaublich starke Belastung ist für einen Jugendlichen, wenn er von anderen die ganzen Probleme aufnehmen muss.
Obermüller: Es ist wahrscheinlich nicht ein einfaches Ehrenamt, aber die Erfahrung in Freiburg zeigt, dass die Jugendlichen das wirklich sehr gut handeln können.
Westhuis: Die Suizidversuchsrate liegt bei Jugendlichen deutlich höher als bei anderen Altersgruppen. Als Risikofaktoren für suizidales Handeln werden oft auch psychische Krankheiten genannt, also wirklich Krankheiten, die diagnostizierbar wären und auch behandelbar wären, aber oft auch unerkannt bleiben, zum Beispiel depressive Erkrankungen, Psychosen, Suchtkrankheiten. Ist das auch bei vielen Jugendlichen ein Grund, oder kommen da, speziell bei den jungen Leuten, noch mal ganz andere Zusammenhänge zusammen?
Obermüller: Depressionen sind natürlich auch bei jungen Menschen ein Grund oder Burn-out, Überforderung in der Schule, in der Ausbildung. Borderline spielt eine große Rolle. Aber diese Jugendlichen versuchen wir natürlich zu begleiten, aber auch weiterzuvermitteln zu Ärzten und anderen Hilfsstellen.
Westhuis: Gibt’s speziell Risikofaktoren oder Sachen, die junge Leute so überfordern, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen?
Obermüller: Also die Jugendlichen sind ja eine Gruppe, die schon von Natur aus in einer Veränderungskrise stecken, in der Pubertät, und wir lernen übers Leben einfach, mit Krisen umzugehen und uns Möglichkeiten zu verschaffen, um Krisen besser zu überstehen. Und junge Menschen stehen halt am Anfang, um das zu lernen. Daher sind sie schon eine Risikogruppe.
Westhuis: Und die Jugendlichen, die sich bei Ihnen als Peerberater melden oder zur Ausbildung zum Peerberater, haben die schon einige Krisen hinter sich, wissen die besser, damit umzugehen, oder ist das für die auch noch mal ein ganz großer Lernprozess?
Obermüller: Sowohl als auch. Wir haben Jugendliche, die haben eigene Krisenerfahrungen, aber auch Jugendliche, die keine Krisenerfahrung haben. Das kann sowohl hilfreich als auch nicht hilfreich sein. Es gibt Jugendliche, die studieren Soziale Arbeit und befassen sich gerne mit dem Thema.
Westhuis: Das Onlineberatungsangebot richtet sich ganz speziell an Jugendliche, aber was kann denn jeder Einzelne tut, der Jugendliche in seinem Umfeld hat, also Lehrer oder Gruppenleiter oder auch natürlich ganz privat in der Familie? Gibt es Warnsignale, die auf Suizidgefährdung hinweisen, und was kann man tun?
Obermüller: Also es gibt eindeutige Warnsignale und auch nicht eindeutige Warnsignale. Das Abkoppeln von der Familie, von den Freunden, einfach sich zurückziehen, Abschiedsbriefe schreiben, sich selbst verletzen, riskantes Lebensverhalten, nicht mehr essen oder plötzlich viel zu viel essen – das sind so Sachen, die zusammenkommen können.
Westhuis: Ja, es kann also ein ganz vielfältiges Verhalten sein. Wie können denn Umstehende damit umgehen, seien es jetzt andere Jugendliche oder vielleicht in der Familie, wenn man das beobachtet bei anderen Jugendlichen?
Obermüller: Zuhören ist ganz wichtig, und wenn man die Vermutung hat, einfach klar aussprechen: Hast du Suizidgedanken? Jemand, der keine Suizidgedanken hat, der wird nicht welche bekommen. Ich glaube, das ist eine große Angst bei allen. Aber wer Suizidgedanken hat, wird diesen Druck loswerden, und das kann helfen. Das kann die Lösung sein, dass die Jugendlichen bereit sind, sich helfen zu lassen. Und zuhören, zuhören, zuhören, das ist ganz wichtig.
Westhuis: Frau Obermüller, ist das auch ein Plädoyer dafür, das Thema Suizid bei Jugendlichen einfach viel deutlicher, viel klarer und offener zu thematisieren, also einfach anzusprechen?
Obermüller: Ja. Also ich denke nicht nur bei Jugendlichen, bei allen Altersgruppen. Es wäre sehr hilfreich, wenn das Thema offener diskutiert werden würde, und wenn Familien, Lehrer, Ärzte Warnsignale kennen würden, dann könnte man viel mehr tun. Man geht davon aus, dass ungefähr 80 Prozent aller Suizide angekündigt sind, und wenn man das wahrnehmen würde, dann könnte man schon etwas dagegen tun.
Westhuis: Reden hilft! Das war Christina Obermüller vom Caritasverband Berlin. Informationen und Kontakt zur Onlineberatung für suizidgefährdete Jugendliche gibt es im Internet auf der Seite www.u25-berlin.de.