Jugendrichter: "Es hat an Brutalität zugenommen"

Moderation: Hanns Ostermann |
Kurz vor dem Urteil im Berliner U-Bahn-Schläger-Prozess fordert der wegen seiner Strenge bundesweit bekannte Jugendrichter am Amtsgericht Bernau, Andreas Müller, erneut einen Warnschussarrest und ein Frühwarnsystem gegen jugendliche Gewalttäter.
Hanns Ostermann: Zwei Tage liegt das Ereignis zurück, da flieht ein 23-Jähriger von Schlägern verfolgt aus einem Berliner U-Bahnhof. Er läuft auf eine Straße, wird von einem Auto erfasst und stirbt noch am Unfallort. Schwer zu begreifen auch die Tat in den frühen Morgenstunden des Ostersonnabends: Ein junger Mann tritt da auf dem Berliner U-Bahnhof Friedrichsstraße einem Wartenden viermal mit voller Wucht auf den Kopf. Als ihn jemand festhält, um weitere Tritte zu verhindern, schlägt er jetzt auch auf ihn ein. Sein Freund unterstützt ihn dabei. Erst wesentlich später stellt sich Torben P. der Polizei.

Der Fall hat bundesweit für Aufsehen gesorgt, millionenfach wurde er verbreitet. Heute wird vor dem Landgericht Berlin das Urteil verkündet. Ich verdiene eine Strafe, hat der 18-jährige während der Verhandlungen gesagt - nur welche? Darüber habe ich mit Andreas Müller gesprochen, einem Jugendrichter in Bernau bei Berlin. Bis zu 15 Verfahren an einem Tag hat er zu entscheiden. Er weiß also, wovon er spricht. Ich habe ihn zunächst gefragt: Was halten Sie für eine angemessene Bestrafung von Torben P.?

Andreas Müller: Das kann ich nicht sagen, ich war nicht im Gerichtssaal und ich habe nicht verhandelt. Ich kenne alles, was in der Zeitung über den Fall geschrieben wurde. Es ist abhängig davon, wie er sich selber gegeben hat. Es ist abhängig davon, welche Verletzung konkret bei den Zeugen und Geschädigten entstanden sind. Es ist abhängig davon, wie er gehandelt hat im konkreten Fall, mit welcher Wucht er geschlagen hat, ob Jugendstrafrecht angewandt wird, Erwachsenenstrafrecht. Es gibt also viele Faktoren, die das Gericht wahrgenommen hat, die unsereins vielleicht nicht wahrnehmen konnte, weil es nicht ausführlich in der Presse erörtert wurde und so weiter, also kann ich es nicht sagen.

Ostermann: Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass Torben P. stark alkoholisiert war?

Müller: Wie im Erwachsenenstrafrecht ist es im Jugendstrafrecht natürlich auch so: Wenn jemand eine Tat begeht aufgrund von Alkohol, die er sonst nicht begangen hätte, vermindert schuldfähig oder sogar vielleicht absolut schuldfähig ist, dann ist das nach unserem Strafrecht zu berücksichtigen. Das kann in Normstrafen mildernd sein, das kann auch dazu führen, dass möglicherweise tatsächlich eine Bewährungsstrafe rauskommt.

Ostermann: Die Opferanwältin plädiert trotzdem für vier Jahre Strafvollzug wegen versuchten Mordes. Gibt es nicht umgekehrt aber auch gute Gründe für ein weniger hartes Urteil - etwa die Lebensumstände des Angeklagten?

Müller: Es gibt viele Sachen zu berücksichtigen. Natürlich ist erst mal zu berücksichtigen, dass dieser junge Menschen nach meiner Kenntnis bisher nie in Erscheinung getreten ist. Dann ist zu berücksichtigen, dass er die Tat von Anfang an eingeräumt hat. Es ist weiter zu berücksichtigen, dass im Verhältnis zu vielen anderen Fällen, die ich auch selber verhandelt habe, die Tatfolgen zwar auch erheblich für das Opfer sind, aber es gibt viel härtere Geschichten, die nicht so durch die Presse gegangen sind.

Es gibt auch Sachen, die Berücksichtigung finden müssen, wo ich denke, auch die gesamte Verurteilung in der Öffentlichkeit spielt natürlich für so einen jungen Menschen eine Rolle. Alles das wird das Gericht in einen großen Topf schmeißen und dann schauen, was können wir machen, was müssen wir machen? Geben wir ihm eine Chance oder geben wir ihm keine Chance? Und das ist eben abhängig davon auch, ob ein versuchter Totschlag angenommen wird - das erhöht natürlich auch den Strafrahmen - oder eben eine gefährliche Körperverletzung. Sie müssen wissen, jemanden totzuschlagen, dazu gehört schon eine ganze Menge. Und da muss eben auch das Wollen dabei sein. Ob er das tatsächlich wollte, kann nur das Landgericht entscheiden.

Ostermann: Herr Müller, wie lässt es sich erklären, dass hier ein Jugendlicher straffällig wird, dessen Elternhaus ja eigentlich als gutbürgerlich galt?

Müller: Auch Menschen - da muss ich gerade lachen bei dieser Frage -, natürlich auch Menschen aus guten Elternhäusern machen mal Unsinn. Statistisch gesehen machen 99 Prozent aller jungen Menschen irgendwann mal eine Straftat. Wenn Sie an Ihre eigene Jugend denken und mal rekapitulieren, werden Sie höchstwahrscheinlich auch irgendwas gemacht haben.

Ostermann: Bestimmt.

Müller: Wir haben hier eine schlimme Straftat, eine einzelne Straftat, und die kann natürlich auch aus der Mitte der Gesellschaft entsprungen sein, wie es eben hier passiert ist.

Ostermann: Statistisch gesehen nehmen Gewaltdelikte ab, die Brutalität aber nimmt zu. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Müller: Nein, eine Erklärung nicht, weil ich kein Wissenschaftler bin, und das ist noch nicht erforscht. Aber ich habe das gleiche Gefühl. Ich bin ja seit 16 Jahren Jugendrichter, und was ich teilweise auf den Tisch bekomme, da denke ich, es hat an Brutalität zugenommen. Es sind öfter auch Waffen im Spiel, und es wird härter zugeschlagen. Ich glaube, wir haben in unserer Gesellschaft so eine gewisse Art von Gewaltgewöhnung, und infolgedessen wird es bisweilen auch härter.

Ostermann: Und wie begegnet man dem?

Müller: Jetzt wollen Sie ein Patentrezept hören?

Ostermann: Na ja, ich glaube, ich könnte ...

Müller: Wenn ich das hätte, würde ich es Ihnen sofort geben, ich wäre über jede Tat froh, die nicht geschehen würde.

Ostermann: Herr Müller, Sie fordern immerhin, dass Richter möglichst schnell die Fälle auf den Tisch bekommen, dass also relativ zeitnah entschieden wird. Das ist ja ein Mittel.

Müller: Dieser Fall ist eigentlich kein Musterbeispiel für eine Verringerung von Gewalttaten, weil er eben vorher nicht in Erscheinung getreten ist. Man kann insgesamt natürlich mit verschiedenen Mitteln - da bin ich überzeugt - die Gewalt einschränken. Da gibt es einmal auch das jugendrichterliche Verfahren, das enorm beschleunigt werden muss. Das würde aber auch hier keine Rolle spielen. Dann zum Beispiel der Warnschussarrest, der seit 15 Jahren diskutiert wird, würde in ein paar Prozent aller Fälle helfen.

Dann braucht man de facto ein Früherkennungssystem. Ein Früherkennungssystem dahingehend, wo man bereits bei 12-, 13-jährigen erkennt, da ist Aggression im Spiel und man müsste frühzeitig dagegen angehen. Also, es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die gemacht werden können. Aber wir werden sicherlich nicht zu einer perfekten Gesellschaft gelangen. Das wäre schön, vielleicht passiert es irgendwann.

Ostermann: Andreas Müller war das, Jugendrichter in Bernau bei Berlin. Herr Müller, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Müller: Ich bedanke mich, Tschüss!

Ostermann: Tschüss!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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