"Kinder des Krieges" gibt es nicht nur auf dem West-Balkan, sondern weltweit. Heide Glaesmer ist Professorin für medizinische Psychologie an der Uni Leipzig und Mit-Initiatorin des internationalen Netzwerks "CHIBOW", das über die Kriegskinder heute und auch in der Vergangenheit forscht – "Weltzeit"-Redakteurin Margarete Wohlan hat Heide Glaesmer interviewt:
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Die Kinder des Krieges wollen nicht mehr schweigen
23:02 Minuten
Sie sind während der Jugoslawienkriege in den 90er-Jahren entstanden: die "Kinder des Krieges". Nicht selten gehörten die Väter zum "Feind". Als junge Erwachsene fangen sie nun an zu reden - wie Ajna Jusic. Nur über die Ethnie ihres Vaters schweigt sie.
Sarajevo: Die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. Eine kleine Wohnung, gegenüber vom Fußballstadion in Grbavica. Einem Stadtteil mit vielen Wohnhäusern. Manche haben fünf, andere zehn oder mehr Stockwerke.
Ajna Jusic sitzt auf dem Sofa, ihren Hund Nani auf dem Schoß. Die Psychologin und Aktivistin ist 25 Jahre jung und seit dem vergangenen Jahr recht bekannt in Bosnien. Denn da erzählte sie im Fernsehen ihre Geschichte.
"Danach war es so verrückt. Ich hatte 200 oder 300 Nachrichten auf Facebook. Auf der Straße sprachen mich Leute an. 'Ich habe Dich gesehen. Ich bin stolz.' Ich habe viel Unterstützung gespürt. Ich glaube, es war gut an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich hatte keine größeren Probleme, außer dass man mich nach meinem Vater fragte und welcher Seite er angehört."
Mit "welcher Seite" ist gemeint: Welcher ethnischen Gruppe gehört Ajnas Vater an? Konkret: Ist er Serbe? Ajna will darüber nicht sprechen. Sie will weg von den Vorwürfen und dem Hass zwischen den Ethnien. Sie ist ein sogenanntes "Kind des Krieges". Ihre Mutter wurde während des Bosnien-Krieges vergewaltigt. Sie war Anfang 20, wurde schwanger und behielt ihr Kind. Eine Tochter: Ajna.
Bis zu 50.000 Frauen wurden vergewaltigt
Im Bosnien-Krieg 1992 bis 95 wurden laut Europarat 20.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Andere Schätzungen gehen von bis zu 50.000 Opfern aus, genaue Zahlen gibt es nicht. Klar ist, dass sexualisierte Gewalt zur Kriegswaffe wurde. Die Mehrzahl der Opfer waren muslimische Bosnierinnen. Die meisten Täter waren bosnisch-serbische und serbische Soldaten.
Die Vergewaltigungen führten teils zu Schwangerschaften. Es gab Abtreibungen. Ebenso Geburten. Wie viele Kinder auf die Welt kamen? Das ist unbekannt. Manche Schätzungen sprechen von 600, andere von weit über tausend. Die "Kinder des Krieges" sind heute junge Erwachsene. Sie sind Mitte 20, und manche wollen endlich sichtbar werden.
"Sie sind meine größte Hilfe. Sie bedeuten mir alles."
Die Rede ist von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Wenn Ajna über die beiden spricht, strahlt sie über das ganze Gesicht. Zuhause wächst sie mit viel Liebe und Unterstützung auf. Über die Vergewaltigung schweigt die Mutter, sie will Ajna schützen. Denn nicht nur die Überlebenden sexueller Gewalt werden diskriminiert, auch ihre Kinder. Vergewaltigung ist ein Stigma in Bosnien-Herzegowina. Und die Kinder gelten vielen als "serbische Brut".
Ajna kennt ihren Vater nicht
Als Teenager wechselt Ajna auf die Highschool und zieht allein in eine andere Stadt. An der Schule hat sie immer häufiger Ärger – auch mit den Lehrern. In Bosnien ist es üblich, dass bei allen offiziellen Dokumenten immer der Name des Vaters genannt wird. Aber Ajna kennt ihn nicht.
"Ich hatte das Gefühl, ich muss diesen Namen herausfinden. Als ich meine Mutter besuchte, ist mir diese Schachtel eingefallen. Ich wusste, dass sie darin alle Papiere aufbewahrt. Und in dieser Schachtel habe ich dann alle Dokumente gefunden. Von der Polizei. Von Psychologen. Ich fand diese detaillierte Beschreibung der Vergewaltigung. So fand ich die Wahrheit heraus. In diesem Moment fand ich mein Leben."
Da ist Ajna 15. Die Details der Vergewaltigung lassen sie nicht mehr los. Sie steht unter Schock, redet mit niemandem über ihren Fund. Die Situation an der Schule eskaliert – nach neun Monaten bricht Ajna zusammen. Sie bekommt psychologische Hilfe und sie spricht mit ihrer Mutter.
"Das erste Mal, als ich mit meiner Mutter darüber geredet habe, das war der schwierigste Teil der Geschichte. Aber es war der wichtigste Moment für uns. Denn danach waren wir stärker. Wir sind jetzt beide Teil dieser Geschichte. Vorher war das anders. Nachdem wir geredet hatten, war es einfacher, damit zu leben. Der Wahrheit zu begegnen."
Ajna gehört zu den "Children Born of War" – den "Kindern des Krieges". Eine Bezeichnung, die sich mittlerweile in der Wissenschaft durchgesetzt hat. Denn die "Children Born of War" gibt es in vielen Kriegen: Fast immer werden sie diskriminiert. Ihre Mütter sind meist stark traumatisiert, bleiben oft alleinerziehend. Häufig fehlt es an Geld. Studien zeigen, dass manche Kinder vernachlässigt, teils auch geschlagen werden. Manche Mütter behalten ihre Kinder und schweigen, um sich und ihre Kinder zu schützen. Andere geben ihre Kinder in staatliche Obhut.
Oft unsichtbar: Kinder des Krieges
Tuzla liegt im Nordosten Bosnien-Herzegowinas. Das Taxi fährt fast bis ans Ende der Kleinstadt. Zur Polyklinik. Dort arbeitet Amra Delic. Sie ist Psychiaterin und Traumatherapeutin – und sie forscht zu "Kindern des Krieges". Während des Bosnien-Krieges arbeitete Amra zunächst als Ärztin – auch mit Opfern sexueller Gewalt.
Amra Delic ist um die 50. Graue, kurze Haare. Sie sitzt hinter ihrem Schreibtisch, in einem kleinen Behandlungsraum, alles in Weiß. Kinder aus Vergewaltigungen? Ja, die gab es. Aber im und auch nach dem Krieg blieben sie unsichtbar.
"Ich hatte wenige Patientinnen, die Kinder aus Vergewaltigungen hatten. Ich arbeitete mit diesen Frauen und wusste, dass sie mit ihren ambivalenten Gefühlen gegenüber ihren Kindern kämpften. Sie fühlten Hass und Liebe. Ich dachte oft: ‚Oh, mein Gott, was passiert mit diesen Kindern?' Aber ich arbeitete nicht mit den Kindern. Wie auch sonst niemand."
Das ändert sich, als sie 2016 für eine Konferenz nach Deutschland kommt. Das Thema: sexualisierte Kriegsgewalt – und: die "Children Born of War". Denn auch Deutschland hat Erfahrungen mit ihnen – es sind die sogenannten Besatzungskinder aus der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Inspiriert durch die Konferenz wird Amra Doktorandin des Netzwerkes CHIBOW, das mithilfe von EU-Förderung über "Children Born of War" forscht.
Die vergessenen Kriegskinder auf dem Balkan
In Bosnien will sie ein Netzwerk gründen, damit sich die Betroffenen gegenseitig helfen können – so wie es die Besatzungskinder in Deutschland tun. Sie fängt mit ihrer Suche an und gründet gemeinsam mit Ajna Jusic und Gleichgesinnten den Verein "Forgotten Children of War" – "Vergessene Kinder des Krieges".
"Es gab ein Tabu. Niemand sprach über Kinder aus Vergewaltigungen. Es gab keinen Verein. Keine Institution, die ihnen half. Keine spezifische Datenbank. Keine öffentliche Statistik. Nichts. Wir haben tatsächlich ein Tabu gebrochen."
Zugleich sucht Amra Delic für ihre Forschung nach weiteren "Kindern des Krieges", deren Väter zum "Feind" gehörten. So wie bei Ajna. Aber Amra Delic sucht auch nach Kindern, deren Väter den Friedenstruppen oder der humanitären Hilfe angehörten. Denn laut Definition der "Children Born of War" zählen sie auch dazu – und auch, wenn es keine sexuelle Gewalt gibt. Denn die Kinder leiden ebenso, wenn die Väter wieder verschwinden. Viele werden diskriminiert. Sie ringen um ihre Identität – und ihre Mütter meist mit finanziellen Sorgen und sozialer Ächtung.
Amra Delic spricht mit insgesamt 33 "Kindern des Krieges". Für sie ist ihre Arbeit bis heute eine ethische Herausforderung. Am Anfang ist sie unsicher, zweifelt, ob ihre Forschung für Bosnien-Herzegowina nicht zu früh kommt und ob sie richtig ist.
"Auf der einen Seite haben wir eine Konspiration des Schweigens. Ein Schweigen nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Mütter. Manche Mütter schweigen über die Vergewaltigung im Krieg und über das, was sie durchgemacht haben. In manchen Fällen bedeutet Schweigen Schutz für die Frauen und die Kinder. Andererseits gibt es die Forschung über den Zweiten Weltkrieg, und wir lernen daraus, dass die Kinder leiden."
Massenvergewaltigungen auch im Kosovo-Krieg
Ortswechsel. Pristina – die Hauptstadt des Kosovo. Das Land liegt südlich von Serbien. Auch hierher kam der Krieg, als Jugoslawien auseinanderbrach.
Kosovo blieb 1992 als Provinz Teil der neuen Bundesrepublik Jugoslawien. Die Mehrheit der Bevölkerung sind Kosovo-Albaner. Sie wollten Unabhängigkeit von Restjugoslawien. Das serbisch-jugoslawische Militär reagierte mit Terror und Vertreibung. Im März 1999 intervenierte die NATO mit Luftangriffen, im Juni endete der Krieg. Auch während des Kosovo-Krieges kam es zu Massenvergewaltigungen: Es gab schätzungsweise 20.000 Opfer sexueller Gewalt.
Mitten in Pristina erinnert seit 2015 das "Denkmal für die Heldinnen" an die weiblichen Überlebenden sexualisierter Gewalt. Das Denkmal besteht aus 20.000 Medaillen. Alle tragen dieselbe Prägung: das Gesicht einer Frau.
Es ist ein wichtiges Zeichen – und ein möglicher erster Riss im anhaltenden Stigma: nämlich der Vergewaltigungen im Krieg. Im Herbst 2018 sprach zum ersten Mal eine Überlebende öffentlich im Fernsehen: Sie lebt mittlerweile in den USA. Das machte den Auftritt einfacher. Dennoch war es ein wichtiger Schritt.
Hilfe nach Gewalterfahrungen
Veprore Shehu ist Frauenrechtsaktivistin und sie leitet die Nichtregierungsorganisation "Medica Kosovo" in Gjakova, einer kleinen Stadt im Südwesten des Kosovo. Hier helfen sie seit dem Sommer 1999 medizinisch und psychologisch Mädchen und Frauen nach Gewalterfahrungen.
"Der erste Fall, den wir hatten, war ein Mädchen. 17 Jahre alt. Sie kam aus einer sehr patriarchalen, traditionellen Familie aus einem Dorf in der Nähe. Sie konnte niemandem davon erzählen. Nur ihre Mutter wusste es."
Medica Kosovo suchte eine Wohnung für die junge Frau, zuhause konnte sie nicht mehr bleiben. Dem Rest der Familie erzählten sie, die Tochter habe Nierenprobleme und müsse ins Krankenhaus. Irgendwann setzten die Wehen ein.
"Ich fuhr sie selbst ins Krankenhaus. Sie brachte ein Mädchen zur Welt und gab es sofort ab. Sie war selbst noch ein Mädchen. Das Baby wurde zur Adoption freigegeben."
Das war Anfang 2000. Für das Baby fand sich eine Familie. Die junge Frau verließ ihr Dorf, nachdem man dort begann, herumzuerzählen, sie sei vergewaltigt worden. Sie ging in die Schweiz und bekam Asyl.
Langsam ändert sich die Lage der Opfer
Veprore weiß von einem weiteren "Kind des Krieges". Das lebt mit seiner Mutter und der Familie. Die Mutter schweigt über die Vergewaltigung. Ihr Ehemann glaubt, die Tochter sei von ihm. Wie viele "Kinder des Krieges" es im Kosovo gibt, weiß Veprore nicht.
"So ist Krieg. Das ist das Resultat eines Tabus. Und eines Stigmas. Und dieses Stigma macht es unmöglich, zu eindeutigen Zahlen zu gelangen."
Seit vergangenem Jahr bewegt sich etwas im Kosovo – zumindest für die Überlebenden sexueller Gewalt. Seitdem können Opfer den Status eines zivilen Kriegsopfers beantragen und damit eine monatliche Rente bekommen. Im ersten Jahr gingen über tausend Anträge ein. Das lässt hoffen, dass das Stigma weiter bröckelt.
Vielleicht entsteht so der Raum, um auch über die "Kinder des Krieges" nachzudenken. Und sie sichtbarer zu machen.
Nicht Ethnien sind böse, sondern Menschen
Zurück in Sarajevo. Bei Ajna in der Küche, wo sie einen Kaffee macht. Sie weiß, dass sie Glück hatte. Sie ist in einem liebevollen Zuhause aufgewachsen. Ihre Mutter und ihr Stiefvater haben Hilfe angenommen: Gemeinsam haben sie – auch zu dritt – eine Therapie gemacht.
Und Ajna hat von ihrer Mutter gelernt, nicht zu hassen. Sie erinnert sich, wie sie fast jeden Sonntag eine Art Predigt über sich ergehen lassen musste. Dass es böse Menschen gibt, aber keine bösen Ethnien. Es hat gewirkt.
"Die Leute sind überrascht. Denn ich hasse meinen Vater nicht. In Bosnien ist es üblich zu denken, dass Hass zwischen den Gruppen besteht. Aber ich denke nicht so. Vergewaltigung hat keine Nationalität. Es ist ein Trauma – und so müssen wir es behandeln."
Ajnas Verein "Vergessene Kinder des Krieges" will alle "Kinder des Krieges" ansprechen – unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Menschenrechtsverletzungen gab es auf allen Seiten. Im Vereinsstatut steht, dass nicht über Ethnien gesprochen wird. Das passt nicht allen Politikern in Bosnien-Herzegowina, denn die machen oft Politik entlang ethnischer Grenzen. Und Ajna hat noch mehr vor:
"Ich habe diese Idee, aus den 'Kindern des Krieges' das größte Netzwerk auf dem Balkan zu schaffen. Es gibt Kinder in Kroatien, in Serbien, im Kosovo. Der Punkt ist, dass wir zeigen, dass es nicht allein um ein Land geht. Es betrifft die ganze Welt. Wir 'Kinder des Krieges' sind alle verschieden, aber auf menschlicher Ebene sind wir miteinander verbunden. Und ganz sicher sind wir stärker, wenn wir verbunden sind. Ganz sicher."
Diese Reportage entstand im Rahmen des "Reporters in the Field"-Programms, das von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt wird.