Das Leben mit einem suchtkranken Vater
Ihren Vater kennt sie nur mit Bierflasche. Immer und überall. Für Julia war das normal. Irgendwann kam Heroin dazu. An schlechten Tagen wurde er handgreiflich oder stahl ihr Geburtstagsgeld. Vielen Kindern suchtkranker Eltern geht es ähnlich.
Die katholische Erziehungsberatungsstelle in Leichlingen, in der Nähe von Köln:
"Schön, dass du da bist. Komm rein. Wir gehen nach oben?"
Der Therapieraum für Kinder und Jugendliche liegt im zweiten Stock. Hierher kommt die 18-jährige Julia fast jede Woche – sie hat lange blonde Haare, ist zierlich. Gemeinsam mit Rita Heinen, sie ist Sozialarbeiterin sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, geht sie nach oben.
Der Therapieraum ist klein und vollgestellt mit Tierfiguren, zwei kleinen Sandkästen, einer Puppenstube. Quer im Raum ist eine Hängematte angebracht; Julia macht es sich darin bequem. Rita Heinen stellt ihren Stuhl davor.
"Wie ist es dir denn gegangen die letzten Tage?"
"Wieder was schwieriger. Er will halt wieder rein. Aber Mutter möchte nicht, ich möchte nicht. Man weiß ja auch nicht was wieder passiert."
"Wieder was schwieriger. Er will halt wieder rein. Aber Mutter möchte nicht, ich möchte nicht. Man weiß ja auch nicht was wieder passiert."
"Ich kenne meinen Vater nicht ohne Flasche"
Julia, sie ist Einzelkind, erzählt von ihrem Vater: Er ist Alkoholiker und nahm zeitweise auch Heroin. Jetzt gerade wieder. Für sie und ihre Mutter wurde das Leben mit ihm immer unerträglicher. Es kam zum Streit, der Vater ging auf die Mutter los, Julia rief mehrmals die Polizei.
"Man hat halt auch Angst, weil, man ist ja auch hilflos. Und es kann jeden Tag was passieren. Wenn mein Vater zum Beispiel Geld möchte, dann kann es auch zu Handgreiflichkeiten kommen. An einem Tag ist er ruhig, der ist nett, alles okay und an anderem Tag komplette Eskalation."
Als Julia jünger war und der Vater noch Arbeit hatte, hatte er sich mehr unter Kontrolle. Aber getrunken hat er eigentlich schon immer.
"Also ich kenne meinen Vater nicht ohne Flasche. Das ist normal für mich gewesen. Papa, halt mit Bierflasche! Ich hab mir nichts dabei gedacht."
Doch es wurde schlimmer. Mit 13, 14 Jahren hat das Mädchen seine Schnapsflaschen gefunden. In der Abstellkammer, in der Schublade, im Regal in der Küche – überall:
"Er dachte, man bekommt es vielleicht nicht mit. Man bekommt mehr mit als man denkt."
"Keiner redet darüber so gerne"
Er machte zwar einen Entzug, wurde aber wieder rückfällig. In der Familie konnte Julia mit niemandem darüber reden.
"Meine Familie ist sehr verschlossen bei diesem Thema. Keiner redet darüber so gerne."
Sie schämte sich. Sprach auch mit Freunden nicht darüber, was zu Hause los war. Und in der Schule war sie nicht immer bei der Sache:
"Ich war nicht konzentriert. Konnte ich halt nicht. Ich hatte halt anderes im Kopf. Zu Hause, was ist, wenn ich jetzt nach Haus komme? Muss ich das Geld wieder verstecken? Hab ich noch Geld im Portemonnaie?"
Um seine Heroinsucht zu finanzieren, hat der Vater sogar seine Tochter bestohlen. Das Geld hatte sie von ihrer Oma zum Geburtstag bekommen. Als Julia nicht mehr weiter wusste, vertraute sie sich einer Lehrerin an. Über sie kam Julia in die Sprechstunde der katholischen Erziehungsberatungsstelle in Leichlingen. Das war vor drei Jahren.
Julia habe sich sehr gut entwickelt, sagt die Kinder- und Jugendtherapeutin Rita Heinen rückblickend.
"Ja, wie war das? Sie war sehr, ja sehr schüchtern, zurückhaltend, wenig ichbezogen. Und heute würde ich sagen, ist sie eine reflektierte, selbstbewusste junge Frau."
Julias Vater leugnet bis heute seine Krankheit
In die Beratungsstelle kommen immer wieder Kinder oder Jugendliche, die nicht mehr weiterwissen. Manche schickt die Schule, andere das Jugendamt. Oder Eltern, meistens der gesunde Elternteil, suchen dort Hilfe fürs Kind. Die Mitarbeiter versuchen immer auch die Eltern mit ins Boot zu holen:
"Aber es ist nicht in allen Fällen gegeben. Oder es entwickelt sich erst ganz langsam, wenn sie sehen, dass die Kinder oder Jugendlichen hier eine Unterstützung erfahren, dass sie dann nach einiger Zeit oder nach längerer Zeit mal bereit sind zu kommen."
Julias Eltern waren dazu nicht bereit. Der Vater gibt bis heute nicht zu, dass er suchtkrank ist. Die 59-jährige Marianne Schulz, die eigentlich anders heißt, kann das nachvollziehen. Sie war 20 Jahre alkoholkrank und hat viele Anläufe gebraucht, um trocken zu werden:
"Natürlich ist das schwer, sich das einzugestehen, weil in dem Moment, wo ich einsehe, dass ich ein Problem hab, muss ich was dagegen tun und die Konsequenz wäre für mir gewesen, den Alkohol sein zu lassen. Das ging nicht. Das war unvorstellbar. Alles andere stand hinten an."
Auch ihr eigener Sohn.
"Man ist in einer Stunde gut gelaunt, gut drauf. Das kann in einer Viertelstunde direkt wieder ganz anders sein, dass man sagt: 'Lass mich in Ruhe, ich hab jetzt keine Zeit.' Oder: 'Mir ist nicht gut, geh in dein Zimmer, spiel alleine.' Und eine Stunde ist man wieder gut drauf. Also nicht kalkulierbar, unberechenbar. Natürlich hat man ein schlechtes Gewissen, aber der Alkohol oder die Sucht in dem Moment stärker."
Kinder fühlen sich oft mitschuldig
Suchtkranke Mütter oder Väter können ihren Kindern nicht die Stabilität und emotionale Zuwendung geben, die sie für ein gesundes Aufwachsen brauchen. So fühlen sich Kinder oft "schuld" an dem Verhalten ihrer Eltern. Sie übernehmen im Alltag Aufgaben, für die sie eigentlich zu jung sind. Versorgen zum Beispiel die jüngeren Geschwister oder fühlen sich sehr verantwortlich – wie Julia für ihre Mutter.
"Also das mit dem Beschützen, das ist jetzt noch. Ich beschütze meine Mutter auch, weil meine Mutter sich nicht schützen kann, selber."
Kinder von suchtkranken Eltern werden öfter verhaltensauffällig oder psychisch krank. Überdurchschnittlich viele entwickeln später selbst eine Sucht. Professionelle Mitarbeiter in Beratungsstellen können sie etwas auffangen. Julia jedenfalls schätzt die Gespräche mit ihrer Sozialarbeiterin:
"Ist halt ein Unterschied, ob man mit dem Freund darüber redet oder mit der Frau Heinen. Ist ein Riesenunterschied, weil, Frau Heinen sieht das einfach anders und reagiert auch anders darauf. Ich kann ihr halt über alles erzählen, egal was. Ohne verurteilt zu werden."
Dass sie nun seit drei Jahren diese Unterstützung bekommt, ist nicht selbstverständlich. Möglich ist das ist in Leichlingen, weil das Jugendamt unter bestimmten Auflagen dieses Angebot der Erziehungsberatungsstelle finanziert. Anderorts beschränkt sich die staatliche Hilfe für Kinder süchtiger Eltern überwiegend auf Projekte, die nach ein, zwei Jahren auslaufen. Bundesweit fehle es an spezialisierten Angeboten, sagen Experten wie der Suchtforscher Michael Klein vom Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung in Köln.
Je nach Schätzung bis zu drei Millionen Kinder betroffen
"Wir gehen insgesamt nach unseren eigenen Erhebungen davon aus, dass es so an etwa 100 Orten, Städten und Landkreisen in Deutschland spezialisierte Angebote für Kinder von Suchtkranken gibt. Das hat diese geringe Zahl an Angeboten, weil insbesondere die Finanzierung dieser Angebote nicht gesichert ist."
Laut dem aktuellen Drogen- und Suchtbericht leben bundesweit mehr als 2,6 Millionen Mädchen und Jungen mit einem Elternteil, das ein Alkoholproblem hat. Zählt man von Medikamenten, illegalen Drogen oder auch vom Glücksspiel abhängige Eltern hinzu, sollen drei Millionen Kinder betroffen sein. Der Großteil bekommt keine Hilfen, andere zu spät. Das muss sich ändern, meint Klein.
"Das heißt konkret zum Beispiel, dass therapeutische Maßnahmen für suchtkranke Eltern automatisch mit präventiven Hilfen für betroffene Kinder verknüpft werden. Und dass eben Therapie und Prävention, nicht wie das bisher der Fall ist, gar nicht miteinander bezogen ist und gar nicht aufeinander abgestimmt sind."
Zurück zu Julia: Die 18-jährige hatte das Glück, eine professionelle Fachkraft an ihrer Seite zu haben. Das hat ihr Kraft gegeben. Demnächst macht sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Darauf ist nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter stolz.