Julia Franck: "Welten auseinander"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
368 Seiten, 23 Euro
Autobiografie aus einer zerrütteten Familie
06:24 Minuten
Ihre Familiengeschichte hat Julia Franck in vielen Romanen verarbeitet. Nach langer Veröffentlichungspause erzählt die Bestsellerautorin jetzt offen autobiografisch von ihrer schwierigen Kindheit und lebensbestimmender Herkunftsscham.
Erinnerungen ändern sich. Sie verändern sich bei jedem Aufrufen, sie verändern sich durch neue Gefühle und Empfindungen. Und sie verändern sich erst recht, wenn sich gesellschaftliche Betrachtungsweisen wandeln.
Viele Motive von Julia Francks neuem Buch meint man, bereits zu kennen: die Ost-Berliner Kindheit, die Flucht in den Westen, die Enge im Notaufnahmelager Marienfelde, die gleichermaßen schützende wie schwierige Beziehung zur Zwillingsschwester, die alleinerziehende Mutter, der Fürsorge schwerfällt, Erzählen und Mythologisieren aber umso leichter.
Vielfach verarbeitete Familiengeschichte
Julia Franck hat den Stoff ihrer weitverzweigten Familiengeschichte in mehreren Romanen verarbeitet, darunter "Lagerfeuer" (2003) und "Rücken an Rücken" (2011). Am bekanntesten ist ihr Roman "Die Mittagsfrau", für den sie 2007 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Er erzählt die Geschichte ihres Vaters, der als Siebenjähriger von seiner Mutter auf einem Bahnsteig ausgesetzt wurde.
Persönlich hat die Autorin ihren Vater kaum gekannt. Als sie ihm in den 1980er-Jahren in West-Berlin endlich begegnete und sich ein wenig Vertrauen eingestellt hatte, starb er an einem Hirntumor. Julia Franck, 1970 geboren, war gerade siebzehn.
Erstmals offen autobiografisches Buch
Davon und von anderen tragischen Verlusten erzählt sie nun in ihrem neuen Buch, das offen autobiografisch ist. Die erste große Liebe bildet die Rahmen-Erzählung. "Welten auseinander" liegen die beiden Liebenden aus Ost und West.
Das Buch ist erkennbar vom Boom der autofiktionalen Literatur beeinflusst, insbesondere von Annie Ernaux. Dinge, die ein Leben lang verschwiegen werden mussten oder nur verfremdet in der Fiktion vorkommen konnten, spricht Franck nun aus.
Im Zentrum steht die "Scham", die sie bei den verschiedensten Gelegenheiten überkommt: Wenn es um ihre "Sichtbarkeit" im Verhältnis zur Zwillingsschwester geht und die Mutter zur Zurückhaltung mahnt; wenn sie als Einzige am West-Berliner Gymnasium ein "Einser-Abitur" hinlegt; aber auch, wenn sie sich für die "Rot-Kreuz-Kleidung" schämt und für die prekäre Situation der Familie.
Die Mutter lebte mit ihren fünf Töchtern von Sozialhilfe. Konventionen und Manieren waren ihr egal. Überall herrschte "Chaos".
Tief sitzende Herkunftsscham
Was aber weit schwerer wiegt, ist die Scham, aus dem Osten zu kommen und aus einer jüdischen Familie zu stammen. Beides war für Franck, so erzählt sie es, nicht aussprechbar. Das ist so glaubhaft wie schockierend, zumal es sich um eine bekannte Künstlerfamilie handelt, die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger war ihre Großmutter, der Maler Philipp Franck, Mitbegründer der Berliner Secession, ihr Ururgroßvater.
Was Julia Franck über die Fotografien von Annie Leibovitz sagt, trifft auch den Stil ihres nüchtern erzählten Buches. Es ist "Werk, Skizze und Notiz zugleich".
Nicht ganz frei von Redundanzen ist "Welten auseinander" die lesenswerte Autobiografie einer schwierigen Jugend: Wie eine Linse, die das Licht auf neue Weise bricht, schieben sich die gegenwärtigen Debatten um Identität und Herkunft vor die Wahrnehmung von Ereignissen, die mit nacktem Auge anders aussehen würden.