Avantgarde-Pop mit Cembalo
Die Songs der US-Amerikanerin Julia Holter sprengen regelmäßig die Konventionen des Pop-Dreiminüters und sind schwer einem Genre zuzuordnen: Holters Songs nehmen oft unerwartete Wendungen, sie arbeitet mit Außenseiter-Instrumenten wie dem Cembalo. Ihr viertes Album "Have You In My Wilderness" ist großartig.
Die Musik von Julia Holter lässt sich nur schwer in eine Genre-Schublade stecken. Der Song "Lucette Stranded On The Island" zum Beispiel: unzählige Stimmengirlanden vor einer seidenweichen Streicherwand, dazu aufblitzende Piano-Akzente. Das sind die klingenden Requisiten, mit denen Julia Holter eine surreale, ungewisse Atmosphäre beschwört, um eine Geschichte einer Frau zu erzählen, die an einem fremden Strand, langsam und ganz allein, aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht.
Die Inspiration für das Stück lieferte Sidonie-Gabrielle Colette, eine französische Schriftstellerin, mit ihrer Geschichte "Chambre d'Hotel" aus dem Jahr 1940.
"Ich hatte die Geschichte vor einer Weile gelesen und war ganz hingerissen von dieser Lucette, die eigentlich nur eine Nebenrolle spielt. Sie lernt einen russischen Prinzen kennen, der sich mit ihr auf eine Schiffsreise begibt – nur um sie dann zu attackieren und ihren Schmuck zu stehlen. Lucette stirbt später, gestrandet, an ihren Verletzungen. Ich fand es interessant, mir vorzustellen, wie Lucette an diesem Strand langsam wieder zu sich kommt, sich fragt, was denn überhaupt los ist und sich nach und nach wieder erinnern kann."
Die Literaturvorlage weitergesponnen: Das ist für Julia Holter nicht neu. Ihre letzte Platte "Loud City Song", mit der sie 2013 zum Liebling der Musikkritiker wurde, hatte sie sogar ganz um eine Colette-Novelle herum gestrickt. Auf "Have You In My Wilderness" zeigt die 30-Jährige jetzt in vielen Songs, dass es auch ohne Literaturpaten geht – und zwar indem sie ihr kompositorisches Können in den Vordergrund stellt.
Eigene Musiksprache zwischen Pop und Klassik
Viele Entwicklungen in der Geschichte der Popmusik beruhen darauf, dass die Musiker einfach ausprobiert haben, unabhängig davon, ob sie sich mit ihren Instrumenten auskannten. Bei Julia Holter ist das anders: Mit ihren Fantasiegeschichten mag sie zwar ein bisschen verträumt wirken. Aber wenn es darum geht, ihre Ideen in Songs zu bannen, ist sie vor allem eines: professionell. Denn die Amerikanerin hat Komposition studiert. Und das hilft ihr nun, eine eigene Musiksprache zwischen Pop und Klassik zu entwickeln. Bei den Instrumenten geht es da schon los:
Das Cembalo, eigentlich ein Außenseiter-Instrument in der Popmusik, gehört bei Julia Holter fest zum Repertoire – wenngleich ihr Cembalo eigentlich doch nur ein Keyboard ist.
"Der Klang des Cembalos ist einer dieser Sounds, die auch auf einem Keyboard gut klingen – ganz im Gegensatz zu vielen Piano-Samples. Das Cembalo ermöglicht mir also einen guten Klang, selbst wenn meine Möglichkeiten zuhause begrenzt sind. Der Anschlag ist stark und gleichzeitig fragil. Es hört sich frisch an."
Leicht zugänglich, luftig, melodiös
Das Cembalo spielt außerdem in der Musik der Renaissance und im Barock eine große Rolle – zwei Epochen, die Julia Holter ganz besonders schätzt.
"Besonders Barockmusik mag ich wirklich gern, also den Anfang dessen, was wir heute unter klassischer Musik verstehen. Mir gefällt besonders, dass die Kompositionen jener Zeit oft eine gewisse Neugier auszeichnet, weniger eine geradlinige Wahrung der Form. Das kann wirklich sehr schön sein."
Und das passt auch zu der Musik von Julia Holter. Anders als in vielen Popsongs, deren Aufbau dem stoischen Prinzip von Strophe und Refrain folgt, nehmen ihre Songs oft unerwartete Wendungen. Kunstvoll schichtet Holter Streicher übereinander, verzichtet häufig auf das sonst so allgegenwärtige Schlagzeug und wechselt zwischen Gesang und Rezitativ. Und trotzdem bleiben ihre Stücke immer noch Popsongs – weil sie so leicht zugänglich sind, so luftig und so melodiös. Julia Holter hat mit "Have You In My Wilderness" ein großartiges viertes Album aufgenommen. Und wer dafür doch gerne eine Genre-Bezeichnung haben möchte, der könnte es mal mit Avantgarde-Pop versuchen.