Julia Kissina (Hg): "Revolution noir – Autoren der russischen 'Neuen Welle' - Eine literarische Anthologie"
Aus dem Russischen von Ingolf Hoppmann, Olga Kouvchinnikova, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja
Suhrkamp, Berlin 2017
299 Seiten, 24 Euro
Von russischen Klischees befreit
Die Künstlerin Julia Kissina hat in ihrer Anthologie "Revolution noir" 15 Autoren versammelt. Viele Doppel– und Mehrfachbegabungen sind dabei zu entdecken: zum Beispiel Filmemacher, Sänger oder Künstler. Dieser außerliterarische Hintergrund prägt die Texte.
Ein literarischer Reiseführer durch das Russland der Gegenwart will diese Anthologie ausdrücklich nicht sein. In mehrfacher Hinsicht zeichnet die Auswahl im Gegenteil das Bild der zeitgenössischen russischen Literatur als Teil eines universaleren Kosmos. Surreale und psychedelische Welten und Wahrnehmungen stehen dabei im Vordergrund - ein Menschenfresser-Flugzeug taucht ebenso auf wie eine Figur, die sich durch Engelswelten bewegt. Ein gewisser Franz Kafka wird durch einen behaglichen Tag seines bürgerlichen Lebens begleitet - 15 Jahre nach seinem realen Tod.
Auf 300 Seiten nirgendwo Wodka
Die Hauptfiguren in den 20 Erzählungen und Prosa-Miniaturen tragen so internationale Namen wie Bianchi, Flinty Pat oder Miguel. Ihre Geschichten spielen in Moskau und St. Petersburg genau so wie im Flugzeug nach Reykjavik oder in London. Kein unwichtiges Detail, dass auf 300 Seiten nirgendwo Wodka getrunken wird - was die Schriftstellerin und Künstlerin Julia Kissina, Herausgeberin des Erzählungsbandes, in ihrem Nachwort "Goodbye Dostojewski" unterstreicht:
"Wir stellen dem Leser ein Buch vor, das nichts zu tun hat mit der Vorstellung von einer russischen Seele, einem geheimnisvollen slawischen Charakter, dem ewig Wodka trinkenden Ostgenossen und überhaupt davon, wie man in Russland lebt und denkt. Es befreit uns von den Klischees, die an den beiden großen kulturellen Paradigmen haften: dem Sozialismus und Dostojewski."
Fünfzehn Autorinnen und Autoren hat Julia Kissina in ihrem Band versammelt, die in ihrer Singularität kaum mehr verbindet als eine großzügig bemessene zeitliche Klammer: Die Entstehung der Texte reicht von den 1980er-Jahren bis heute. Drei Generationen sind vertreten: Der älteste Autor ist der 1974 nach London emigrierte Philosoph und Orientalist Alexander Pjatigorski (1929- 2009), der in der Geschichte "In einer anderen Gesellschaft" mit den Sandkasten-Freunden von einst den Tod eines befreundeten Kindes im Jahr 1937 rekonstruiert.
Die jüngste Autorin ist die Schriftstellerin und bildende Künstlerin Maria Sumnina, Jahrgang 1977. Auffällig viele Doppel– und Mehrfachbegabungen sind zu entdecken, zum Beispiel der Filmemacher und Schriftsteller Artur Aristakisjan oder die Sängerin und Künstlerin Julia Belomlinskaja. Hinzu kommen naturwissenschaftlich ausgebildete Autoren wie Juri Mamleev oder Pavel Pepperstein als Mitbegründer der Künstlergruppe "Medizinische Hermeneutik".
Einblicke in Innen- und Parallelwelten
Der außerliterarische Hintergrund prägt viele der Texte, etwa die von Alexej Partschikow, eines der wichtigsten Vertreter des sogenannten Meta-Realismus der 80er-Jahre. Sein Text "Das Pferd" von 2006 beschreibt, wie eine zugrunde gerichtete, eingeschläferte Stute im Lehrsaal zu Forschungszwecken aufgeschnitten wird. Es offenbart sich die Schönheit eines "kosmischen Designs" im Innern ihres Körpers:
"Strudel und doppelte Regenbögen, Farben, die zum ersten Mal mit Licht in Berührung kamen. (...) Die Wahrsager der Antike waren mit dieser Palette vertraut, sie entfalteten solch großartiges Gekröse auf den Sternkarten. 1990, im Jahr des Pferdes, als ich von den Berkeley Hills nach Downtown San Fransciso blickte, das über die Bucht herüberleuchtete, da schillerte es in den gleichen Stahl- und Kerosintönen, in tiefroten und zartgelben Neonfarben, die sich entlang dem Hufeisen seiner Molen und Aussichtsplätze erstreckten."
Überraschende Einblicke in Innen-und Parallelwelten liefern viele der Texte von dunkler Unterströmung, mal mehr, mal weniger gut gelungen. Ihren Reiz beziehen sie auch dadurch, dass sie nebenbei auch einiges von den Brüchen in den Biografien ihrer Erzähler transportieren. Auf gewisse Weise spiegelt dies indirekt schließlich doch die Gegenwart und jüngere Vergangenheit Russlands.