Julia Rothenburg: "hell/dunkel"
Frankfurter Verlagsanstalt 2019
280 Seiten, 20 Euro
Surreale Gefühle in extremen Situationen
06:52 Minuten
Schon ihr erster Roman "Koslik ist krank" spielte in einem Krankenhaus. Auch Julia Rothenburgs neues Buch "hell/dunkel" hat dieses Thema: Im Mittelpunkt steht eine sterbende Frau und ihre Kinder. Wie ist die Autorin zum Krankenhaus-Roman gekommen?
"Ich habe meinen Vater, als er im Sterben lag, ziemlich oft im Krankenhaus besucht."
… erzählt Julia Rothenburg. Gemeinsam gehen wir den Kanal in Kreuzberg entlang. Die Sonne scheint, und wir steuern auf einen grauen Betonklotz zu, das Vivantes-Krankenhaus.
"Ich erinnere mich auch sehr daran, dass es ein ganz surreales Gefühl ist, je näher man dem kommt. Weil man ja auch weiß, dass man sich gleich auf eine extreme Situation einstellen muss. Und man ist natürlich in dem Moment, in dem man vor dem Krankenhaus steht, noch überhaupt nicht emotional darauf vorbereitet, weil das so eine andere Welt ist."
Heute betritt Julia Rothenburg diese andere Welt gelassener als damals, als die Sorge um den Vater sie umtrieb. Offen erzählt sie das. Wie überhaupt die 29-Jährige sehr bereitwillig auf persönliche Fragen antwortet.
So erzählt sie auch, wie es ihr selbst ging, als sie mit schlaganfallartigen Symptomen eine Woche lang im Krankenhaus lag. Noch im Krankenbett hat sie sich notiert, wie sie sich bei Untersuchungen gefühlt hat:
"Dieser Aufenthalt hat mich zu ,Koslik ist krank‘ inspiriert, weil ich es so absurd fand. Ich fand dieses Krankenhaus eine so surreale Welt, in die man als Patient hineinkommt, in der man plötzlich seine Autonomie und seine Vorstellungen über sein eigenes Leben abgeben und die Vorstellungen der Ärzte annehmen muss."
Alle sind froh, wenn sie gehen können
Im Krankenhaus angekommen, sticht einem der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase. Nicht so Julia Rothenburg. Sie merkt davon nichts, weil sie von Geburt an nichts riecht. Dafür fallen ihr die Ärzte auf, die sich an Patienten im Rollstuhl vorbeischlängeln.
Beim Kamillentee im Bistro des Klinikums schauen wir auf die Eingangshalle hinunter. Ein Kommen und Gehen. Ärzte, Kranke, Pflegerinnen, Besucher. Ein buntes Treiben. Doch man merkt: Alle sind froh, wenn sie gehen können, diesen Ort verlassen können. Ist es das, was die 29-jährige Berlinerin interessiert?
"Ich hab‘ jetzt keine Liste gemacht, was sind die düsteren Themen, über die ich mal schreiben könnte, und dann hab ich die schlimmsten genommen: erst Krankheit und dann Tod. Nein, das sind einfach Themen, die mich beschäftigen."
Vor einigen Jahren ist ihr Vater gestorben. Nicht im Krankenhaus, sondern zuhause.
In ihrem neuen Roman leidet eine Mutter an Darmkrebs. Ihren Kindern Valerie und Robert fällt es schwer, den kommenden Tod zu akzeptieren. Sich von ihrer Mutter zu verabschieden und um sie zu trauern, während sie noch lebt. Gleichzeitig aber auch nicht mehr richtig da ist, wie "hell/dunkel" beschreibt:
"Beide atmen sie aus, als der Arzt fort ist. Als hätten sie sich abgesprochen. […] Ach Mama, sagt Valerie und steht ganz nah an den Schläuchen und Robert findet, es ist das Netteste, was er sie seit langem hat sagen hören. Zumindest zu ihrer Mutter. Aber die Mutter schläft nur mit leicht geöffnetem Mund und rhythmisch piepst das Gerät dazu. In Valeries Augen sieht man Tränen, aber sie sagt nichts. Irgendwann tropft eine davon nach unten. Lass uns gehen, sagt Robert. Ja, sagt Valerie, lass uns gehen."
200 Urnen stehen zur Auswahl
Neben solchen leisen Szenen, wo selbst kleine Gesten riesig werden, schildert Julia Rothenburg auch, wie abstrus die Dinge einem vorkommen, die rund ums Sterben passieren. Wenn zum Beispiel die Beerdigung vorbereitet wird:
"Es fängt damit an, dass eine Bestatterin zu dir kommt und dir einen unfassbar hässlichen Katalog zeigt, alles in Plastikfolie eingewickelt, in Mappen, mit einzelnen Plastikfächern, wo 200 verschiedene Urnen zur Auswahl stehen. Und man einfach völlig überfordert ist. Das ist wie Online-Shopping mit den ganzen Urnen vor dir. Du musst dann eine Urne shoppen, wie du sozusagen ein neues Kleid shoppen würdest."
Solche eigenen Erfahrungen hat Julia Rothenburg ins Buch eingearbeitet. Und mit Valerie und Robert zwei Figuren entworfen, die überhaupt nicht so wie sie selbst sind. Valerie lässt ihre Wut an anderen aus, Robert plagen ständig Selbstzweifel. Die beiden meiden das Krankenhaus immer mehr, versuchen sich eine Realität jenseits dessen aufzubauen und kommen sich dabei sehr nah, für Geschwister zu nah.
Julia Rothenburg erforscht behutsam, wie ihre Beziehung die Grenze der geschwisterlichen Zuneigung überschreitet – noch so ein ernstes Thema.
"Es geht darum, wie sich das entwickelt, dass eigentlich ein Konflikt zwischen den beiden ist, bis zu dem Punkt, wo die beiden nur noch gemeinsam mit der Situation fertig werden. Und die Beziehung und sich gegenseitig nutzen, um diesen Sterbeprozess für sich zu verarbeiten. Das ganz kleinteilig zu untersuchen aus den beiden Perspektiven – der Roman ist ja immer abwechselnd aus Valeries und Roberts Perspektive geschrieben – darum ging es mir."
Ehrlich und ganz schön traurig
Wie ihre Romanfiguren auch kommt die Autorin aus Berlin-Kreuzberg, ist hier aufgewachsen als Tochter von zwei Kommunikationstrainern, mit einem Bruder und einer Schwester. Gleich nach dem Soziologie-Studium hat die hellblonde, gerade mal 1,57 Meter große Frau ihren ersten Roman veröffentlicht. Da war sie gerade mal 27 Jahre alt.
Julia Rothenburg spricht sehr viel und klug darüber, was sie erlebt hat – auch über Krankheit und Tod. Und sie schreibt darüber richtig gut. "hell/dunkel" klingt so ehrlich, dass es an manchen Stellen ganz schön traurig ist. Für ihren ersten Roman "Koslik ist krank" hat sie viel Lob und ein Stipendium bekommen. Jetzt, mit Ende 20, arbeitet sie an ihrem dritten Buch.
"Ich mache das hoffentlich, so lange ich darf. Und solange jemand die Romane lesen möchte, schreibe ich sie weiter. Vielleicht schreibe ich sie auch weiter, wenn sie keiner mehr lesen möchte, einfach für mich selbst."
Beim Schreiben erschafft Julia Rothenburg überzeugende Figuren. Aber nur mit fiktiven Personen fühlt sie sich etwas einsam. Und obwohl sie vom Schreiben gerade leben könnte, arbeitet sie in einem Buchladen – einem der etwas anspruchsvolleren Art.
Die Arbeit ist für die 29-Jährige ein guter Ausgleich und "Reality Check", wie sie es nennt. Nur ganz alleine am Schreibtisch sitzen, das würde nicht passen zu dieser aufgeweckten Frau mit dem leicht spöttischem Blick, mit dem sie ihre Umgebung so gut einfängt.
Ihr nächstes Buch spielt übrigens nicht mehr in einem Krankenhaus. Es soll etwas lustiger werden, sagt Julia Rothenburg und lacht, während sie ihren Kamillentee zu Ende schlürft. Hier in diesem Krankenhaus.