Julia Wolf: „Alte Mädchen“
© Frankfurter Verlagsanstalt
Schönheit vergeht, Trauma besteht
06:04 Minuten
Julia Wolf
Alte MädchenFrankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2022288 Seiten
24,00 Euro
Wie schreiben sich Erfahrungen ins Familiengedächtnis? Wie erinnern wir heute Krieg und Gewalt? Julia Wolf stellt in ihrem Roman drei Generationen von Frauen, Geflüchtete aus Ostpreußen, Vietnam und aktuellen Kriegsgebieten nebeneinander.
„Germany’s Next Topmodel“ ist ein fester Termin für Else, Anni und Hannelore. Die drei Damen gehen „stracks auf die Hundert zu“, aber die „Gänse“ im Fernsehen verpassen sie nie. „Die Mädels! Das sind doch wir!“ Denn auch für die drei „Marjellchen“ aus Ostpreußen steht ein Shooting an. Ihre Seniorenresidenz plant eine große Werbekampagne, sucht Fotomodelle – und natürlich wollen sie alle auf den Plakaten posieren. „Noch einmal wer sein“.
In ihre Mädchenträume drängen sich traumatische wie nostalgische Erinnerungen: an ihre Flucht vor den Russen, an Vergewaltigung, ein erfrorenes Kind, an Arbeitsdienst, Leibesertüchtigung und euphorisch skandierte Nazi-Parolen. Julia Wolf mischt die Stimmen und Zeitebenen zu einem rasanten Bewusstseinsstrom mit gekonnt gesetzten Sprüngen und Auslassungen.
Dreiteiliger Generationenroman
„Alte Mädchen“ besteht aus drei Teilen. Es sind in Personal, Form und auch Qualität verschiedene Erzählungen, aus denen die erste („Marjellchen“) deutlich heraussticht. Thematisch ergeben sich interessante diskursive Verbindungen zwischen den Teilen, die je eine Frauengeneration in den Blick nehmen.
Im zweiten („Neue Heimat, altes Haus“) schickt Tante Gudrun ihrer Nichte eine lange Sprachnachricht nach der anderen. Vordergründig geht es um eine Erbangelegenheit, doch es brechen weit größere Familienkonflikte auf.
Streit über Umgang mit Nazi-Hintergrund
Tini hat ihre Doktorarbeit abgebrochen und arbeitet in Kambodscha für eine Bildungsorganisation. Während sich ihre Mutter, die neben Gudrun im Auto sitzt, um Verständnis bemüht, kann die Tante ihre Verachtung nur schwer verbergen. Sie wiederholt sich, widerspricht sich, redet um den heißen Brei – und rückt am Ende doch mit der Sprache heraus: Dass sie Tinis hartnäckige Nachfragen und ihre vehemente Kritik am Nazi-Hintergrund der Familie überzogen fand.
Tini kommt in diesem Teil des Buches nicht zu Wort. Ihre Generation spricht erst im letzten („Milf“). Die 37-jährige Jenny hat kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes noch einmal zwei alte Schulfreundinnen eingeladen. Ein entspanntes Berlin-Wochenende sollte es werden.
Demonstration für Geflüchtete
Doch die drei Frauen artikulieren aus wechselnder Perspektive bald jene feinen Unterschiede, die sich aus ihrer Herkunft ergeben haben und im Erwachsenenalter nun deutlicher werden denn je.
Wo Jenny bei liebevollen und wohlhabenden 68ern aufgewachsen ist, die sie bis heute finanziell unterstützten, wunderte sich die hart arbeitende Anwältin Thao damals schon, warum ihre Mitschülerinnen nicht mehr über die Nazi-Vergangenheit ihrer Familien erfahren wollten. Thaos Eltern sind aus Vietnam geflüchtet. Heute kann sie nur den Kopf schütteln über das leichtfertige und selbstgewählt prekäre Leben ihrer Freundinnen. Einig stehen die Freundinnen, auch mit der nachfolgenden Generation, aber am Ende des Romans auf einer Demonstration für Geflüchtete.
Literarische Annäherung an aktuelle Fragen
Auch wenn der letzte Teil in Abschnitten programmatisch bis ins Schablonenhafte gerät, ergeben sich in Julia Wolfs episodischem Generationenroman Fragen nach vererbten Erfahrungen, nach Aufarbeitung und dem Weitblick einer aktuellen Erinnerungskultur.
Während zahlreiche Sachbücher zum Thema erscheinen, tun sich deutschsprachige Romanautorinnen damit noch oft schwer. Die vielstimmige, sich mitunter vom fiktiven Subjekt lösende Erzählweise von Julia Wolf bietet in „Alte Mädchen“ vielleicht keine Antwort, allerdings eine gewinnbringend und komplex-schillernd literarische Annäherung.