"Großartiger Erzähler zeitloser Geschichten"
In der Wahrnehmung deutscher Leser steht Julio Cortázar immer ein wenig hinter Autoren wie García Márquez oder Vargas Llosa zurück. Dabei schreibe er Geschichten, die "süchtig machen", meint seine frühere Lektorin Michi Strausfeld.
Liane von Billerbeck: Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Carlos Fuentes, Octavio Paz, allesamt Autoren, die die lateinamerikanische Literatur weltbekannt gemacht haben. Doch begonnen hat der Lateinamerika-Boom in der Literatur mit dem Argentinier Julio Cortázar. Heute vor 100 Jahren wurde er in Brüssel geboren, wuchs in Argentinien auf, verließ das Land wegen seiner Opposition zu Perón und lebte bis zu seinem Tod als Franzose in Paris. Dass Cortázar hierzulande bekannt wurde, ja, überhaupt einen Verlag in Deutschland bekam, das geht auf das Konto von Michi Strausfeld. Sie ist nicht nur eine der besten Kennerinnen der Literatur Lateinamerikas, sie war auch jahrzehntelang bei Suhrkamp dafür zuständig. Jetzt ist sie Beraterin des S. Fischer Verlags. Wir erreichen sie telefonisch in Spanien, grüße Sie, Frau Strausfeld!
Michi Strausfeld: Ich grüße Sie!
von Billerbeck: Wie war das damals, Anfang der 70er-Jahre? Wie sind Sie auf Julio Cortázar aufmerksam geworden?
Strausfeld: Ja, ich habe in der Zeit an meiner Doktorarbeit gearbeitet, die ja über García Márquez und den neuen lateinamerikanischen Roman ging, und da war es selbstverständlich, dass ganz Lateinamerika von Julio Cortázar und von "Rayuela" – "Himmel und Hölle" – gesprochen hat. Also habe ich "Rayuela" sofort gelesen und war fasziniert und begeistert und konnte nicht verstehen, warum das Buch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist.
Aber wie gesagt, ich hatte damals noch keinen Zugang zum Verlag und arbeitete so vor mich hin, bis ich dann Julio Cortázar auf einem Seminar kennen lernen konnte und ihn gefragt habe, was ist denn los, warum kommt das Buch nicht in Deutschland? Und da sagte er nur, ja, das hat mit der Maga vielleicht zu tun. Und da wurde ich natürlich sogleich neugierig. Maga ist ja die Protagonistin des Romans, der erste Satz lautet: "Ob ich die Maga finden würde?" Und er sagte, na ja, das ist eine lange Geschichte, aber das Buch wird sicherlich nie in Deutschland erscheinen.
Und zwei Jahre später war ich dann bei Suhrkamp angestellt und das erste Buch, was wir eingekauft haben, war "Rayuela". Und wie Cortázar gesagt hat, es ist sicherlich mit vielen Schwierigkeiten verbunden, dauerte es sieben Jahre, bis das Buch in Deutschland erschienen ist.
Die Sprache Cortázars: verspielt, intellektuell, hintergründig
von Billerbeck: Warum ist das so?
Strausfeld: Ja, das war dann schwierig mit der Übersetzung. Es gab in den Jahren sehr wenige fähige Übersetzer und die Sprache von Julio Cortázar zu übersetzen, ist überaus kompliziert, damit die Leichtigkeit der Prosa rüberkommt. Und Fritz Rudolf Fries, der Romancier, sagte dann, ja, er macht das. Aber es dauerte und dauerte und dauerte und da musste noch lektoriert werden. Also, insgesamt hat es sieben Jahre gedauert und dann war es da.
Nur haben wir die sieben Jahre genutzt und haben dann die Erzählungen wenigstens nach und nach alle publiziert, und zwar in wirklich herausragenden Übersetzungen von Rudolf Wittkopf, der genau den Ton von Julio Cortázar getroffen hat, dieses Verspielte, Intellektuelle, Hintergründige. Also, die Geschichten von Julio Cortázar auf Deutsch zu lesen, ich würde sagen, das ist das reinste Vergnügen.
von Billerbeck: Das heißt, Sie haben Ihr Publikum angefüttert mit den Geschichten und es ganz neugierig gemacht auf diesen Roman, der dann eben nach sieben Jahren gekommen ist?
Strausfeld: Ja, es hat sich einfach so ergeben, das war nicht der Plan. Normalerweise, wenn man ein Buch einkauft, und ein schwieriges Buch einkauft, was bei "Rayuela" natürlich der Fall war, dann dauert das zwei, maximal drei Jahre. Aber hier hat es sieben Jahre lang gedauert. Und weil es ja so viel Werk von Julio Cortázar gab, was nicht übersetzt war, und er natürlich vor allen Dingen auch als der große, große Geschichtenerzähler, also der Verfasser von Kurzgeschichten gilt, da hat sich das dann so ergeben, dass man einfach diese Bände einen nach dem anderen publiziert hat. Und ich denke, das war gut so.
"Wer Cortázar nicht liest, ist verloren"
von Billerbeck: Cortázar zählt ja zu den ganz Großen der Literatur des Subkontinents, und trotzdem ist es so, dass wir Márquez kennen, Llosa, Fuentes, aber Cortázar ist längst nicht so präsent wie die anderen. Woran liegt das?
Strausfeld: Vielleicht, weil das Genre der Kurzgeschichte es schwer hat in Deutschland. Man muss sich immer wieder auf ein neues Thema einlassen. Wenn man aber einmal in die Welt von Cortázar eintaucht, in seine Welt der Kurzgeschichten, wo das Fantastische um zwölf Uhr mittags stattfindet und jeder Leser sich in einzelnen Begebenheiten wiedererkennt, ob man einen Rollkragenpullover anzieht und steckenbleibt, ob man die Treppe heraufgeht und stolpert, ob man in einem Stau auf der Autobahn ist ... Man kann sich ganz leicht in diese Geschichten versetzen und wird dann süchtig.
Aber die Kurzgeschichte als Genre hat es schwierig. Sie wird nie die Massen erreichen, die ein Romancier erreicht. Aber ich würde hier gerne an einen Satz von Pablo Neruda erinnern, der gesagt hat: Wer Cortázar nicht liest, ist verloren. Das ist, als hätte man noch nie im Leben einen Pfirsich gegessen. Und wenn man noch nie einen Pfirsich gegessen hat, dann fallen einem die Haare aus nach und nach. Und alles hängt nur damit zusammen, weil man noch nie Cortázar gelesen hat! Ich glaube, das ist die beste Empfehlung.
von Billerbeck: Warum sollte man ihn denn heute noch unbedingt lesen?
Strausfeld: Weil die Geschichten zeitlos sind. Weil die Geschichten, die ich vorhin angedeutet habe, Alltagssituationen aufgreifen und sie dann in diesen Geschichten so emblematisch einfangen, dass sie nicht mehr aus dem Kopf herauskommen. Eine Geschichte ist die Vorlage des Films von "Blow-up" gewesen, das heißt, "Teufelsgeifer" ist die Geschichte, die Vorlage. Dann die Geschichte "Das besetzte Haus", wo ein Ehepaar immer weiter in seinem eigenen Haus zurückgedrängt wird. Das war natürlich auch eine Anspielung auf den Peronismus, der die Leute einfach weiter vor sich hergetrieben hat. Also, es sind ganz emblematische Geschichten und ich glaube, wer drei oder vier von ihnen gelesen hat, ist gewonnen.
von Billerbeck: Nun haben wir über den Autor gesprochen, aber er war auch ein politischer Mensch. Gilt Cortázar eigentlich in Südamerika immer noch als ein literarischer Freiheitsheld? Denn er hat sich ja auch für die Freiheitsbewegung in Kuba und Nicaragua eingesetzt!
Strausfeld: Ich glaube, das trennt man. Also, der Literat hat auch immer gesagt: Meine Tätigkeit, wenn ich mich politisch äußere, ist etwas ganz anderes. Als Schriftsteller habe ich nur die Verpflichtung, gut meinen Job zu machen, gut zu schreiben. Und das hat er immer durchgezogen. Was die politischen Ambitionen betrifft, er ist ja sehr spät zur Politik gekommen, 1963 ist er zum ersten Mal nach Kuba gereist, da war er immerhin schon 49 Jahre alt. Also, das politische Engagement und das Interesse ist bei ihm sehr spät wachgeworden. Dann allerdings hat er sich sehr, sehr für Nicaragua eingesetzt und fand die Revolution an ihrem Anfang ganz großartig und hat geholfen, wo er konnte.
In Kuba hat er sich auch intensiv engagiert, aber doch deutlich nuancierter. Er sah durchaus viele Dinge, die da nicht mehr richtig gelaufen sind, und hat das auch gesagt, aber nicht an die große Glocke gehängt. Engagiert hat er sich zum Beispiel gegen die Diktaturen in Argentinien, Chile und Uruguay. Also, er war da sehr engagiert. Aber wenn man heute an Cortázar denkt, dann denkt man an den großartigen Erzähler und an den wunderbaren Menschen.
von Billerbeck: Michi Strausfeld war das, einst bei Suhrkamp Lektorin von Julio Cortázar, über den argentinischen Autor, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Ich danke Ihnen!
Strausfeld: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.