Junge Abgeordnete im Bundestag

"Mein Leben hat sich komplett verändert"

28:06 Minuten
Olaf Scholz beim Fototermin mit den U40 Kandidat*innen der SPD für die Bundestagswahl 2021.
Der jetzige Bundestag kann das jüngste Durchschnittsalter vorweisen. Hier: Olaf Scholz mit den U40 Kandidat*innen der SPD für die Bundestagswahl 2021. © picture alliance / Geisler-Fotopress / Sebastian Gabsch
Von Linda Peikert und Sabina Zollner |
Audio herunterladen
Drei junge Frauen kandidierten 2021 für den Bundestag: Jessica Rosenthal (SPD,) Ria Schröder (FDP) und Schahina Gambir (Grüne). Im Wahlkampf traten sie voller Elan für ihre Herzensthemen ein. Doch wieviel können sie davon jetzt im Parlament umsetzen?
“Es wird knapp in Bonn, von daher zählt jede Stimme. Ich würde mich freuen, ein bisschen frischen Wind in den Bundestag zu bringen”, sagt Jessica Rosenthal an einem warmen Septembertag in Bonn, zwei Wochen vor der Bundestagswahl.
Die SPD-Politikerin Jessica Rosenthal streift durch verschiedene Kneipen in der Innenstadt. Selbstbewusst geht sie von Tisch zu Tisch, diskutiert mit Bonnern und Bonnerinnen über Wohnungspolitik, Steuerreform und BAföG. Für die 28-Jährige ist es eine der letzten Gelegenheiten, Stimmen zu sammeln.
“Der Bundestag und auch die Bundestagsfraktion ist der Ort, an dem die Gesetze gemacht werden. Wir haben als Jusos gesehen, dass unser Einfluss groß ist. Wir haben die SPD verändert, wir haben sie neu aufgestellt. Aber die Gesetze schreiben wir trotzdem nicht. Das will ich ändern”, sagt Jessica Rosenthal. Sie ist seit Januar 2021 Bundesvorsitzende der Jusos, der Jugendorganisation der SPD.

Mehr Bildungsgerechtigkeit

Es ist ihre erste Kandidatur für den Bundestag. Ihr Schwerpunkt ist die Bildungspolitik. “Ich sehe, wie viele Dinge wir einfach nicht so gut machen, wie wir sie machen könnten“, sagt sie. Das habe sie als Lehrerin in der Coronapandemie "natürlich nochmal krasser gesehen, wie ungleich auch Chancen verteilt sind: Dass es halt einen riesigen Unterschied macht, ob ich mir mit meinen vier Geschwistern ein Zimmer teile oder nicht. Ich glaube, dass wir das besser können. Ich akzeptiere nicht, dass mir gesagt wird, dass das nicht geht.”
Wahlplakat von der Bundestagswahl für die SPD mit der Aufschrift "Jessica Rosenthal - Mit Bonn lernen". Zu sehen ist ein Frau in einem Klassenzimmer.
Jessica Rosenthal ist Lehrerin und möchte im Bundestag für mehr Bildungsgerechtigkeit eintreten.© picture alliance / Eibner-Pressefoto / Augst
Spricht man mit Jessica Rosenthal, erlebt man eine schlagfertige Frau. Ob Bildungs- oder Wohnungspolitik: Die junge Politikerin hat immer eine Antwort parat und sie wirkt schon fast genervt, als man sie danach fragt, ob sie sich als Frau im Politikbetrieb benachteiligt fühlt.
“​​Ich habe Sexismus-Erfahrung. Das gehört zu meinem Alltag“, sagt sie offen. „Aber ich bin politische Akteurin und werde Veränderung als solche erstreiten.“ Dass sie oft nur über dieses Thema wahrgenommen und darüber berichtet werde, ihr Rollen zugeschrieben werden, findet sie falsch.

Schwer, als Frau gehört zu werden

Viel mediale Aufmerksamkeit, aber nicht wegen der politischen Ziele, sondern weil sie als junge Frau Politik machen wollte: Das hat die CSU-Politikerin Ursula Männle schon vor 50 Jahren erlebt, als Politik eher Männersache war.
“Natürlich sind Wahlveranstaltungen in Bayern von der CSU gut besucht worden, aber gehört wurde sicherlich auf die Älteren und auf die Männer“, erinnert sie sich. „Man war so schmückendes Beiwerk. Auf die Fotos kam man immer. Jeder hat sich neben einen gestellt. Da war er sicher, in der Zeitung zu sein, weil es einfach eine Ausnahmesituation war.”
Edmund Stoiber und Ursula Männle (beide CSU) schauen in eine Kamera (1997).
"Auf die Fotos kam man immer. Man war so schmückendes Beiwerk", sagt Ursula Männle (CSU) über den Politik-Alltag von Frauen. Hier mit Edmund Stoiber.© picture-alliance / dpa / Torsten Silz
Doch schon damals war es schwierig, als Frau für die eigenen Themen gehört zu werden. Die heute 78-Jährige blickt auf eine lange politische Karriere zurück, setzte sich für Frauenrechte in den 80er-Jahren ein, als Frauen im Bundestag noch ausgebuht wurden. Deshalb kennt sie die Hürden und Widerstände, denen auch die jungen Politikerinnen heute noch ausgesetzt sind

Mehr Frauen in den Bundestag

Ende August 2021: Es regnet in Hamburg-Wilhelmsburg. Die FDP-Politikerin Ria Schröder ist bei einer Veranstaltung für junge Frauen zum Thema Diskriminierung in der Politik. In einem kleinen Konferenzraum sitzen etwa 20 Mädchen im Jugendalter in einem Stuhlkreis zusammen.
Ria Schröder beantwortet geduldig alle Fragen. Sie ist Juristin und seit acht Jahren Mitglied in der FDP. Eine Partei, bei der viele erst einmal an Anzüge und Geschäftsmänner denken. Sie sei aber bei den Liberalen, „weil sie wirtschaftliche und persönliche Freiheit zusammen denkt, also sowohl weniger Steuern, als auch Frauenrechte und Schutz der Privatsphäre“, sagt Schröder. „Das ist auch eine Kombination, die habe ich bei keiner anderen Partei gefunden, und das ist mir beides wichtig.“
Bereits 2016 versuchte die heute 30-Jährige, in den Bundestag zu kommen, scheiterte aber. Dieses Mal will sie es schaffen, auch um Vorbild für andere zu sein. “Der Frauenanteil liegt so bei 30 Prozent”, sagt Schröder. Das findet sie zu wenig und möchte mit ihrer Kandidatur nicht nur den Anteil im Bundestag erhöhen, sondern sich auch für die Rechte von Frauen stark machen.
“Mir ist wichtig, dass Frauen selbstbestimmt leben können: Dass sie nicht aufgrund von Rollenbildern oder aufgrund von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen meinen, sie könnten nicht zum Beispiel Kinder haben und Karriere machen oder sich politisch engagieren und gleichzeitig einen Beruf ausüben.”

Kandidatur nach dem Anschlag in Hanau

Noch fünf Tage bis zur Bundestagswahl: Die Grüne-Kandidatin Schahina Gambir stiefelt mit einer Gruppe von Anwohnerinnen und Anwohnern durch das große Torfmoor in ihrem Wahlkreis Minden-Lübbecke. Ein Naturschutzexperte läuft voraus. Naturschutz, enger Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern im ländlichen Wahlkreis: Das ist Gambir wichtig.
Doch der Grund für die Kandidatur ist ein anderer, erzählt die 30-Jährige vor der Wanderung in einem Straßencafé. “Ich habe nach dem 19. Februar 2020 den Entschluss gefasst, zu kandidieren. Da war der Anschlag in Hanau. Danach hatte ich das Gefühl von Ohnmacht, von dem gelähmt zu sein, was da vor Ort passiert ist”, sagt Schahina Gambir.
Schahina Gambir setzt sich gegen Rassismus ein. Ihre eigene Geschichte hat sie politisiert. „Dadurch, dass wir eine Fluchtgeschichte haben, war es immer wichtig: Welche Entscheidungen hat die Politik gerade getroffen für unser Leben? Das hat uns unmittelbar beeinflusst“, sagt Gambir. Sie ist in Kabul geboren, aber auf dem Land in Niedersachsen aufgewachsen. Lange Zeit bangte ihre Familie um den Aufenthaltstitel.
Sie erinnert sich noch gut an das Gefühl, wenn sie als kleines Mädchen von dem Kindergarten oder der Schule kam und ein Schreiben der Behörde bei der Familie Unsicherheit auslöste.
“Ich wusste einfach nur: Es ist total schlechte Stimmung zu Hause. Es kam ein Brief, und wir müssen uns darum kümmern, wir müssen womöglich Anwälte bezahlen, die einen Haufen Geld kosten. Wir wissen nicht, wie es mit uns weitergeht. Ich habe das als Kind gar nicht so im Detail begriffen, was das jetzt eigentlich heißt. Aber ich habe immer begriffen, dass es Sorge heißt, dass es Angst heißt.”

Politik für die, die häufig vergessen werden

Nach dem Abitur hat Gambir zunächst eine Ausbildung als Veranstaltungskauffrau gemacht, in Ägypten und auf Korfu gearbeitet. Später hat sie sich dann noch entschlossen, Politik und Wirtschaft im Bachelor und Gender Studies im Master zu studieren. In dieser Zeit – genauer im Jahr 2015 – ist Gambir dann auch Parteimitglied geworden.
“Ich habe für mich den Entschluss gefasst, dass ich Politik machen möchte für alle Menschen in unserer Gesellschaft und gerade auch für die Menschen, die häufig vergessen werden und nicht gesehen werden“, sagt sie. „Das sind die Minderheiten in unserem Land, das sind die Menschen mit Migrationsgeschichte, obwohl sie gar nicht mehr so richtig Minderheiten sind.”
Eine junge Frau am Rednerpult: Schahina Gambir von der Partei Bündnis 90/ Dbei ihrer Rede zur Haushaltsdebatte im Bundestag.
Nach dem Anschlag in Hanau beschloss Schahina Gambir (Grüne), in die Politik zu gehen.© picture alliance / Flashpic / Jens Krick
Schahina Gambir hat selbst erlebt, was für Hürden Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland haben. Sie möchte ihnen eine Stimme geben – und aktiv etwas verändern. “Jede vierte Person hat inzwischen in Deutschland eine Migrationsgeschichte – und die gilt es auch in den Fokus zu rücken und gleiche Rechte und gleiche Chancen für alle zu schaffen. Deswegen kandidiere ich.”

Den Bezug zum Alltag nicht verlieren

Die Bundestagswahl steht kurz bevor. Ria Schröder versucht, auf Social Media in kurzen Erklärvideos junge Menschen für politische Themen zu begeistern. Doch nicht nur online möchte die Politikerin nahbar bleiben. Ihr sei es auch wichtig, auch abends mit den Kolleginnen ein Bier zu trinken.
„Dass man auch man selber bleibt und nicht meint, man wäre jetzt so eine politische Kunstfigur und könne gar nicht mehr abends weggehen und vielleicht auch mal ein Bier zu viel trinken oder nachts mal spät über den Kiez laufen oder tanzen gehen oder so.”
Augenhöhe behalten, Zuhören, Empathiefähigkeit – das möchte sich die SPD-Politikerin Jessica Rosenthal auch in Zukunft im Politikbetrieb bewahren. „Wirklich auch zu verstehen, wo der Gegenüber steht und was ihm wichtig ist und wie man ihn vielleicht auch abholen kann, das würde ich gerne so beibehalten und so auch Politik machen“, sagt sie. Denn das fehle häufig.
„Ich glaube, dass wir nicht für Politik begeistern, weil sie so weit weg erscheint. Ich hoffe, dass ich da eine Brücke schlagen kann.“
Jessica Rosenthal, Mitglied des Bundestages und Vorsitzende der Jusos, beim SPD-Bundesparteitag
Nicht abheben, den Bezug zum Alltag bewahren: Das hat sich die junge SPD-Bundestagsabgeordnete Jessica Rosenthal vorgenommen.© picture alliance / photothek / Florian Gaertner
Den Bezug zum Alltag nicht verlieren, auch mit Freundinnen und Freunden in Kontakt bleiben, ob nun im realen Leben oder über Instagram: Das nehmen sich die jungen Frauen fest vor. Eine Illusion?
“Sie gewöhnen sich sehr schnell an Privilegien, an Vorteile, an genügend finanzielle Mittel“, sagt Ursula Männle voraus. Schnell könnten sie von der eigentlich jungen Bevölkerung nicht mehr als ihresgleichen wahrgenommen werden, weil sie völlig privilegiert seien. „Werden sie wahrgenommen als die Vertreter der Jungen? Nur altersmäßig, aber gesinnungsmäßig, von den Ideen her, von der Lebensweise her: Da bin ich mir nicht hundertprozentig sicher.”

Abenteuer Bundestag

Die Bundestagswahl ist gelaufen: Schahina Gambir, Ria Schröder und Jessica Rosenthal haben es geschafft und sind gewählt. In einen Bundestag, der noch nie so jung und divers war. Neben mehr Abgeordneten mit Migrationsgeschichte, einer erhöhten Frauenquote und dem jüngsten Durchschnittsalter haben erstmals auch zwei trans Personen ein Mandat bekommen.
“Ich bin dann ja wirklich von der Wahlparty direkt am nächsten Tag in den Zug gestiegen, bin nach Berlin gefahren, und dann ging das Abenteuer sozusagen los”, erzählt Schahina Gambir. 
Heute treffen sich die frisch gewählten Mitglieder des Bundestags zum ersten Mal, zur konstituierenden Sitzung. Schahina Gambir trägt einen schicken beigefarbenen Hosenanzug. Ihr neuer Platz im Plenarsaal ist relativ weit vorne, direkt neben Cem Özdemir.
Sie ist voller Energie und schmiedet bereits Pläne, wie sie in ihrer neuen Rolle ihre politischen Ziele verfolgen kann. “Bisher hat sich das noch nicht so herauskristallisiert, welche Ausschüsse sich ergeben werden. Wir sind ja ganz am Anfang oder beginnen erst mit den Koalitionsverhandlungen“, sagt Schahina Gambir. „Ich hätte ganz, ganz großes Interesse, im Innenausschuss mitzuarbeiten.“
Doch neben der eigentlichen politischen Arbeit müssen noch andere Dinge geklärt werden. Es geht darum, eine Wohnung zu finden, ein eigenes Team aufzubauen – und vor allem darum, die Abläufe im Parlament zu verstehen.

Kompromisse eingehen und verhandeln

Es ist Ende November 2021. Der Bundestag arbeitet seit zwei Monaten, und die neue Regierung aus SPD, Grünen und FDP steht. Jessica Rosenthal hat den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt.
“Ich bin echt stolz drauf, dass wir die Ausbildungsplatzgarantie haben“, sagt sie in einem Interview mit Welt-TV. „Da sind echt gute Dinge drin. Natürlich hätten wir uns das ein oder andere mehr gewünscht.“ Aber es sei eine gute Grundlage.
Eine junge Frau im Mantel mit Rucksack geht zum Bundestag.
Alles ist noch neu, alles ist noch ungewohnt: FDP-Politikerin Ria Schröder auf dem Weg zur fünften Sitzung des Deutschen Bundestages.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt / Geisler-Fotopres
Zwei Monate nach der Wahl ist sie schnell im Politikbetrieb angekommen. Doch schon in den ersten Monaten muss sie erkennen, dass sich manche Dinge nicht ganz so schnell verändern lassen, und es auch bedeutet, Kompromisse zu machen.
“Es war auch nicht ganz ohne, dann zur Gewerkschaftsjugend zu gehen und zu sagen, die Ausbildungsplatzgarantie wird kommen. Aber die Umlagefinanzierung, die wir eigentlich wollten, dass nämlich alle Unternehmen in einen Fonds einzahlen und darüber dann auch Ausbildungen finanziert werden, gerade in Unternehmen, die nicht genug ausbilden, den konnte ich nicht rein verhandeln, weil das einfach mit der FDP nicht möglich war”, sagt Jessica Rosenthal.
“Sie haben einen Koalitionsvertrag unterzeichnet, und wenn der unterzeichnet ist und da drinsteht, das wird gemacht oder wird nicht gemacht, dann ist es ganz, ganz schwer, davon abzuweichen”, sagt Ursula Männle. Sie spricht aus Erfahrung und fügt hinzu:
“Deswegen sind solche Verträge auch wahnsinnig wichtig zu Beginn einer Legislaturperiode. Das bedeutet, dass sie manchmal das, was sie eigentlich wollen, hinten anstellen müssen, auch entscheidungsmäßig, und sie müssen immer fragen: Kann ich das verantworten? Ja oder nein?”

Die erste Rede im Bundestag

Mitte Januar sitzt Ria Schröder in einem olivgrünen Hosenanzug in der Bundestagskantine. Es ist ein wichtiger Tag für sie, denn heute hält sie ihre erste Rede. Ein letzter Kaffee, bevor es losgeht. “Ich habe sie natürlich geschrieben und auch ein paar Mal geübt, ein paar Mal durchgesprochen mit meinem Büro“, erzählt sie, und sie habe sich am gestrigen Abend nach der Bundestagssitzung, als alle draußen waren, ans Pult gestellt.
„Damit man einmal schon den Blick gesehen hat. Jetzt fühle ich mich gut vorbereitet, aber habe trotzdem Angst, dass ich alles vergesse, ins Stottern komme oder so was.”
Etwas später ist es dann soweit. Das Rednerpult wird noch kurz desinfiziert, ein neuer Wasserbecher hingestellt. Ria Schröder geht nach vorn, atmet kurz durch und beginnt. 
“112 Tage waren die Schulen im letzten Winter zwischen Dezember und Mai geschlossen, während die Fußballstadien schon wieder voll waren, und wenn sich Jugendliche dann mal mit Freunden im Park trafen, konnte es ihnen passieren, dass sie von der Polizei durchs Gebüsch gejagt wurden, wie im Hamburger Jenischpark. Wo sind wir denn gelandet?”
Eine junge Frau am Rednerpult im Bundestag.
Ria Schröders erste Rede im Bundestag. Sie hat vorher mehrfach geübt. Nun geht alles glatt.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Frederic Kern / Geisler-Fotopress
Mit emotionalen Worten spricht Ria Schröder über die Jugend, die in der Coronapandemie vernachlässigt wurde, über Talente, die nicht gefördert werden, und die Frage, wie ein sozialer Aufstieg wieder gelingen kann. Ihre Stimme ist gefasst. Im Gegensatz zu ihren Vorrednerinnen kombiniert sie persönliche Anekdoten mit ihren politischen Forderungen.
“Wir haben es in den nächsten vier Jahren in der Hand, diese Weichen zu stellen. Denn wenn ich einmal Oma bin, dann möchte ich sagen können: Wir haben dafür gesorgt, dass es unseren Kindern besser geht“, sagt sie.
Nach etwa eineinhalb Minuten ist es vorbei. Ria tritt vom Pult, einige ihrer Parteikolleginnen und -kollegen nicken ihr anerkennend zu und sie lässt sich erleichtert in den Stuhl fallen.
“Es ist ein krasses Gefühl, da vorne zu stehen, alle gucken einen an und hören einem zu, echt besonders“, sagt sie später in ihrem Büro, „und natürlich wusste ich: Meine Familie sitzt vorm Fernseher und ist ganz gespannt. Mein Bruder hat mir geschrieben, dass er platzt vor Stolz. Das ist total schön, eine Bühne zu haben, um Themen, die mir am Herzen liegen, zu artikulieren und die Situation von jungen Menschen hier in das Parlament reinzutragen.“ Das sei „echt verdammt cool“.

Scheitern am eigenen Elan

“Ich habe leider Gottes viele scheitern sehen, die mit wahnsinnigem Elan und vielen Ideen gekommen sind, die es nicht ertragen konnten, dass man einfach auch Kompromisse eingehen muss, für sich selber Schwerpunkte setzen muss: Was ist einem wichtig? Nur wenn Sie glaubwürdig das rüberbringen können, wird man auch ernst genommen”, sagt Ursula Männle.
“Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie viel Ausdauer es braucht, ständig dafür zu kämpfen, dass anerkannt wird, wie tief Rassismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist, und immer wieder erklären zu müssen, was es heißt, mit Rassismus konfrontiert zu sein und davon bedroht zu werden. Ich sage den Angehörigen und Überlebenden hier und heute: Wir stehen an Ihrer Seite, nicht nur an diesem Tag, sondern auch an den anderen 364 Tagen im Jahr“, sagt Schahina Gambir. Es ist Mitte Februar. Der Bundestag gedenkt der Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau vor zwei Jahren. Heute hält Gambir ihre erste Rede.  
“Mir war das Thema sehr, sehr nahe“, sagt sie. „Da war ich einfach wahnsinnig aufgeregt, weil ich das so wichtig fand. Mich berührt es persönlich.” Wie sie es sich im Wahlkampf vorgenommen hat, spricht sie in ihrer ersten Rede über Rassismus. Mit emotionalen Worten mahnt sie die Mitglieder des Bundestags:
“Wir sind Stimme und Einfluss für all jene, die hier zu Hause sind und denen Teilhabe, gleiche Rechte, gleiche Sicherheit bisher viel zu oft verwehrt wurden, weil ihre Namen anders klingen oder aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft.”
Junge Frau am Rednerpult im Bundestag
Aufregende Momente: Schahina Gambir (Bündnis 90, Die Grünen) am Rednerpult im Bundestag.© picture alliance / photothek / Xander Heinl
Ein halbes Jahr ist seit der Wahl vergangen. Die jungen Politikerinnen kommen langsam im Bundestag an. Ihr Alltag hat sich dabei komplett gewandelt. “Mir fehlen meine Schülerinnen und Schüler ziemlich. Es war auch nicht leicht, an Schulen vorbeizugehen, wenn es geklingelt hat und die Kinder und jungen Menschen auf dem Schulhof waren. Da hat mir schon so ein bisschen das Herz geblutet”, sagt Jessica Rosenthal. Ihren Beruf hat sie, wie die anderen auch, gegen die oftmals stressige Arbeit im Parlament getauscht.

Wenig Zeit für Freunde und Familie

“Jemand hat früher mal zu mir gesagt, in so einer Sitzungswoche wird man montags verschluckt und am Freitag wieder ausgespuckt“, sagt Ria Schröder.
„Es gibt auch eine Reihe von Nachrichten oder E-Mails, die ein ganz anderes Thema betreffen, die ich dann einfach fünf Tage liegen lasse, weil ich irgendwie denke, da habe ich jetzt keinen Kopf für, ich muss jetzt erst zu dem Termin und dann muss ich das machen und dann gehe ich ins Plenum, danach muss ich nochmal die zehn Artikel lesen und wollte mich nochmal mit dem Thema beschäftigen. Man hat so eine ganze Liste von To-dos.“
Da bleibt immer weniger Zeit für Freunde und Familie. Diese Erfahrung hat auch Ursula Männle gemacht: “Sie verlieren auch sehr schnell Freunde. Sie sagen zu irgendwas zu, da feiert jemand Geburtstag, dann sagen sie ab und dann sagen sie zum zweiten Mal ab. Ein drittes Mal werden sie nicht mehr eingeladen. Sie verlieren so auch zu ihrem früheren Bezugsfeld so schnell die Kontakte. Man ist nicht abgehoben, aber man kann nicht.”

Viel Bürokratie, viel Unerwartetes

Eine Schulklasse zu Besuch bei Ria Schröder im Bundestag. Der Politiklehrer hatte zuvor die junge Politikerin per Instagram kontaktiert und so einen Termin vereinbart. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, als Bundestagsabgeordnete regelmäßig Schulklassen zu treffen. Durch den Russland-Ukraine-Krieg verschieben sich die Prioritäten.
“Ich bin ja auch angetreten und hatte so die Idee: Wir machen den Zugang zu Bildung gerechter in Deutschland und Aufstiegschancen“, sagt sie, „und plötzlich müssen wir uns mit dem Krieg auseinandersetzen“ – und mit ganz anderen Themen. Denn das Politikgeschäft läuft selten nach Plan. Nach einem halben Jahr im Bundestag kommen zudem erste Zweifel auf, wie viel sich in der Mandatszeit wirklich realisieren lässt.
“Ich war schon überrascht darüber, wie bürokratisch viele Dinge laufen“, räumt Ria Schröder ein. „Sowohl, dass man unheimlich viele Formulare ausfüllen muss, um die einfachsten Dinge zu tun, um sich eine Schreibtischlampe auf den Tisch zu stellen. Auf der anderen Seite spiegelt das ja auch so ein bisschen einen anderen Bereich wider, nämlich wie lange es dauert, so ein Gesetz auf den Weg zu bringen.“
Die Entscheidungsprozesse dauern so lang, weiß Ursula Männle nach vielen Jahren im Bundestag. “Da braucht es echt einen langen Atem. Und immer wieder neu anfangen, dann kommen wieder Neue rein, die muss man auch wieder überzeugen. Dann macht der Koalitionspartner nicht mit. Das ist wahnsinnig. Da kannst du schon dran verzweifeln. Max Weber sagte: Politik ist das Bohren dicker Bretter. Und diese dicken Bretter in vier Jahren, die schaffst du nicht.”

Ein enormes Arbeitspensum

Es ist sieben Uhr morgens im Bundestag: Schahina Gambir ist Gastgeberin eines parlamentarischen Frühstücks. Etwa 50 Personen aus Politik und NGOs sitzen an Tischen, die in U-Form angeordnet sind, vor ihnen stehen Käse-, Wurst und Obstplatten.
“Vielfalt ist nicht nur Realität in Deutschland, sondern auch unsere Stärke und eine riesengroße Chance. Diese Chance können wir nutzen, wenn wir das Versprechen einer pluralen Demokratie auch einlösen”, eröffnet Schahina Gambir das Treffen mit einer kurzen Rede.
Gambirs Plan ging auf: Sie sitzt im Innenausschuss des Bundestags und kann sich hier gegen Rassismus engagieren. Aber nicht nur das: Sie arbeitet auch im Auslandsausschuss mit und ist im Familienausschuss für minderjährige unbegleitete Geflüchtete und für geflüchtete Frauen zuständig. 
“Wie es gekommen ist und wie die Arbeit gerade ist, konnte ich mir das gar nicht vorstellen“, sagt sie. „Das heißt, das Arbeitspensum ist enorm und die Verantwortung ist dementsprechend auch sehr, sehr groß.”
Trotz des hohen Arbeitspensums nimmt sie sich regelmäßig Zeit, um sich mit Wählerinnen und Wählern, Vertretern von Verbänden, Vereinen oder Wohlfahrtsorganisationen zu treffen, um zuzuhören und mit ihnen zu diskutieren. Der Elan, den sie schon im Wahlkampf an den Tag legte, ist weiterhin zu spüren.
“Ich habe keine Sekunde in den letzten sechs Monaten gehabt, wo ich dachte, irgendwie ist das jetzt gerade ein bisschen langweilig – oder ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wie ich meine Zeit verbringen soll auf der Arbeit. Es ist eher immer viel zu viel Arbeit da”, sagt die junge Politikerin lachend.
Auch bei Ria Schröder bleibt oftmals nicht viel Zeit für Mittagspausen. Statt fein in das Abgeordnetenrestaurant geht sie an den meisten Tagen in die Cafeteria. “Da gibt es immer so einen relativ räudigen Mittagstisch, der auch gerade das Vegetarische ist, meistens irgendwie so ein One-Pot, wo man dann mit so einer Kelle so einen Schlag auf den Teller bekommt. Es hat so ein bisschen was von Mensaflair. Das ist eigentlich ganz lustig. Da sieht man dann auch mal die anderen Abgeordneten, sitzt plötzlich auch mit drei anderen Fraktionen am Tisch, weil es nicht so viele Tische gibt.”

Verbündete suchen in der Fraktion

Lange Arbeitstage, wenig Zeit zum Essen, wichtige Entscheidungen, die anstehen: Da tut es gut, hilfreiche Freundinnen in den eigenen Parteireihen zu haben. Schahina Gambir freut sich, solche Kontakte schon geschlossen zu haben.
“Verbündete zu suchen in der eigenen Fraktion, ohne das geht es schwer“, sagt auch Ursula Männle. „Als Einzelkämpferin tut man sich wahnsinnig hart, läuft man auf und verzweifelt dann auch. Man braucht eine Gruppe, die einen da mitträgt, mit der gemeinsam was bewirken kann, auch über die Parteigrenzen hinweg.”
Fast genau ein Jahr ist es her, dass die drei Politikerinnen in den Bundestag gewählt wurden. Zeit, Bilanz zu ziehen: “Das erste Jahr war total aufregend und auch von vielen Ungewissheiten geprägt. Mein Leben hat sich komplett verändert, und ich musste mich ganz neu organisieren. Ich bin viel unterwegs, arbeite in Berlin und im Wahlkreis, habe viele Termine, bei denen ich viele interessante Menschen treffe”, sagt Schahina Gambir. Sie wurde erst kürzlich als Obfrau für die Aufarbeitung des Afghanistaneinsatzes gewählt.
Globale Krisen haben das erste Amtsjahr geprägt. Die größte Herausforderung sei deswegen allerdings „die Folgen des Angriffskriegs Russlands, die uns vor essenzielle Fragen und Entscheidungen stellen“, so Gambir.
„Für uns neue gab es insofern keine Schonfrist. Alte Gewissheiten müssen wir neu bewerten und neu betrachten und dabei dürfen wir natürlich unseren politischen Kompass nicht verlieren.”

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Ria Schröder konnte in ihrem Jahr im Bundestag eines ihrer Herzensthemen umsetzen. “Ich muss sagen, von allein passiert hier nichts, sondern die Erfolge, die wir erzielt haben, das war richtig harte Arbeit. Ich freue mich da vor allem über die BAföG-Reform, die wir auf die Straße gebracht haben. Ich bin da auch ziemlich stolz drauf, weil das ein Thema ist, für das ich bei den Julis hart gestritten habe, und jetzt konnte ich es selber umsetzen.”
Auch Jessica Rosenthal blick hoffnungsvoll in die Zukunft: “Ich glaube, dass es eine der wichtigsten Aufgaben ist, die wir haben, auch gerade als jüngere Leute, dass wir nicht aufgeben, dass wir erst recht weitermachen, auf unsere eigene Zukunft schauen, Wahlalter 16 zum Beispiel, oder auch die Bekämpfung des Klimawandels, das steht außer Frage. Deswegen heißt es für mich: weiterkämpfen. Ich habe jetzt auch noch viel stärker verstanden, wie das alles läuft und gute Leute getroffen, die das auch mit mir zusammen verändern wollen.”

Autorinnen: Linda Peikert, Sabina Zollner
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Carsten Burtke
Technik: Christoph Richter
Sprecherin: Bettina Kurth

Mehr zum Thema