Likrat heißt "aufeinander zugehen"
Likrat heißt "aufeinander zugehen". In einem Dialogprogramm von jüdischen Schülern für nichtjüdische Schüler erklären die Likratina Tirzah und Nerli Gleichaltrigen das Judentum.
Tirzah Maor ist 17 Jahre alt und hat gerade ihr Abitur gemacht. Jetzt sitzt sie in einem Kreis von 20 Schülern – die anderen sind nicht viel älter als sie selbst – und reicht ihnen ihren persönlichen Siddur, ihr Gebetbuch.
Die Schüler des Friedrich-Anton-von-Heinitz-Gymnasiums in Rüdersdorf, am Rande Berlins, nehmen an einer religionsphilosophischen Projektwoche teil. Es ist das erste Mal, dass die 10. Klässler jüdischen Menschen begegnen. Die Schüler haben Fragen auf Zetteln notiert, auf die die beiden jungen Likratina zu antworten versuchen.
Tirzah Maor ist gemeinsam mit Nerli Wainstejn nach Rüdersdorf gekommen. Sie haben beide eine Ausbildung zur Likratina absolviert. Tirzah Maor wurde in Jerusalem geboren, kam mit einem Jahr nach Deutschland. Sie hat mit Nerli Wainstejn, deren Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, das jüdische Gymnasium besucht.
Aufeinander zugehen
Für Tirzah Maor spielt die Tradition in ihrem Alltag eine wichtige Rolle. Sie hat schon einige dieser Begegnungen gehabt.
Maor: "Also ich finde es immer schön zu sehen, wie andere Leute, die vorher gar keinen Kontakt hatten zum Judentum, was sie wissen, wieviel sie wissen und für was sie sich interessieren. Das gibt mir nochmal ein besseres Bild von der Gesellschaft hier."
Likrat heißt soll viel wie "aufeinander zugehen". Es ist ein Dialogprogramm von Schülern für Schüler. Eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schülern. So wie Tirzah Maor und Nerli Wajnstein vermitteln junge Juden, meist im Doppelgespann, ihr Judentum. Ausgebildet werden die Likratinos in einem eigenen Trainingsprogramm. Derzeit sind es etwa 130 Likratinos, die im laufenden Jahr bereits 80 solcher Begegnungen hatten. Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland:
Botmann: "Eines der Erwartungen ist der Abbau von Vorurteilen, das ist ein Dialogprogramm auf niedrigschwelligem Niveau. Gleichaltrige untereinander, die in einen Erfahrungsaustausch miteinander treten, die miteinander über die alltäglichen Sorgen und Probleme sprechen, aber auch über die Besonderheiten als Juden in Deutschland."
Was steckt hinter Likrat?
Die Idee für Likrat stammt aus der Schweiz. Dort existiert das Programm schon seit mehr als 15 Jahren, auch in Österreich hat es sich etabliert. In Deutschland wurde es 2007 als Pilotprojekt der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg eingeführt. Seit 2017 hat der Zentralrat das Programm ganz unter seine Fittiche genommen. Es läuft jetzt deutschlandweit. Dalia Grinfeld war anfangs die einzige, die aus Berlin zu Likrat stieß. Sie war 14 Jahre alt, als sie ihre Ausbildung bei Likrat begann.
Grinfeld: "Also einmal ist es wirklich ein bestärkendes Gefühl gewesen, rauszugehen und das Gefühl zu haben, man hat etwas in der Gesellschaft verändert. Vielleicht in ganz klein so auf Mikroebene, aber man hat 20-30 Menschen, die noch nie einen Juden gesehen haben, nicht nur mal einen Juden gezeigt und man war dieser Mensch, sondern man konnte ihnen Fragen beantworten, die sie auf der Zunge hatten, die sie sich sonst wahrscheinlich nie getraut hätten zu stellen."
Sich selbst treu sein um zu vermitteln
Dalia Grinfeld, Präsidentin der Jüdischen Studierenden Union Deutschlands, hat Politikwissenschaft studiert. Politisches und gesellschaftliches Engagement lag ihr schon als Jugendliche sehr am Herzen. Likrat ist ein wichtiger Markstein für sie gewesen. Vor allem, was Fragen zur ihrer eigenen jüdischen Identität angeht.
Grinfeld: "Für mich war Likrat die Stufe, mein Judentum zu erleben, mein Judentum zu finden, ein tieferes Verständnis für mich selbst und wie ich mein Leben als Jude leben will."
Shelly Schlafstein, die Koordinatorin des Programms, steht in intensivem Kontakt zu ihren Likratinos. Nach jeder Begegnung gibt es Feedback.
Schlafstein: Wir versuchen auch nicht, aus ihnen was zu machen, was sie nicht sind. Wir wollen sie nicht religiöser machen, als sie sind, wir wollen sie nicht liberaler machen, als sie sind.
Nicht jede Begegnung verläuft so harmonisch, wie die morgendliche Stunde in Rüdersdorf. Tirzah Maor wurde auch schon mit provozierenden Fragen konfrontiert.
Maor: "Ich hatte mal eine Frage, die war nicht gewollt provokativ, aber das war jetzt sowas wie: Tragen die Juden den Stern noch? Und das ist dann nochmal ein anderes Kaliber."
Der Weg zum Ziel
Auf die Begegnungen werden die angehenden Likratinos intensiv vorbereitet. Vier Mal im Jahr kommen sie für ein langes Wochenende mit gemeinsamem Schabbat zusammen. Dabei erhalten sie nicht nur wichtige inhaltliche Bausteine zur jüdischen Geschichte, zu Ethik, Religion und Tradition, zum Antisemitismus oder zum Nahostkonflikt. Trainiert werden in Simulationsworkshops auch Methoden der Gesprächsführung, Kommunikationsstrategien. Nerli Wainstejn:
Wainstejn: "Ich kam mir nach diesen Trainings auch wirklich sicherer in paar Themen vor, wenn provokante Sachen kommen, wie man sich präsentieren soll mit der Rhetorik. Aber ich beschäftige mich die ganze Zeit mit meiner eigenen Identität und vor allem mit meiner jüdischen Identität."
Für Liam und Lucia war es heute das erste Mal, dass sie unmittelbar jüdischen Menschen begegnet sind. Die beiden Zehntklässler des Rüdersdorfer Gymnasiums hatten im LER- und Religionsunterricht schon das ein oder andere über das Judentum erfahren.
Liam: "Was ich jetzt so bisschen neu erfahren habe, ist wie man halt lebt oder wie generell die Juden jetzt in Deutschland leben. Weil, das haben wir jetzt nicht im Unterricht gehabt."
Lucia: "Was ich gerade gut fand, so die persönlichen Sachen, wie man halt lebt, so die Erfahrungen. Das fand ich halt auch mal wichtig zu wissen, die persönliche Sicht von jemandem."
Die religionsphilosophische Schulprojektwoche ist ein Bildungsformat der evangelischen Landeskirche. Koordiniert wird sie von der Kulturwissenschaftlerin Aline Chille.
Chille: "Auf jeden Fall in so jungen Jahren sich so zu öffnen, zu sagen, mein Leben sieht so aus, am Samstag ist Schabbat, da ist mein Handy aus und dann gehe ich halt am Samstagabend auf die Party und nicht am Freitag. Das finde ich schon beeindruckend und souverän."
Likrat sei für sie auch eine Art Trainingslager für das eigene Verständnis und Erlebnis von Judentum gewesen, erinnert sich Dalia Grinfeld:
Grinfeld: "Eigenes Judentum finden, eigenes Judentum entdecken, zu reflektieren, sich selbst Fragen zu stellen, ich glaube, das war damals wichtig und heute, wenn nicht, umso mehr, dass es wichtig ist, wenn die Teenager mit einem besserem Verständnis von sich selber rausgehen."