Ronen Steinke: Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage
Berlin Verlag, Berlin 2020
250 Seiten, 18 Euro
"Ein Zustand, der für diese Republik eine Schande ist"
11:54 Minuten
Jüdinnen und Juden benötigen in Deutschland Schutz durch bewaffnete Sicherheitskräfte. Der Jurist Ronen Steinke empört sich über diesen Zustand in seinem Buch "Terror gegen Juden" - und noch mehr über das Versagen von Polizei und Staatsanwaltschaft.
Christian Rabhansl: Manche werden sich jetzt ja wahrscheinlich zurücklehnen. Knapp zehn Monate nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, der Täter steht schließlich vor Gericht, die Politik hat den Judenhass verurteilt – und vor ein paar Tagen hat auch der Tischler die neue Synagogentür eingebaut, noch stabiler, noch sicherer als die alte. Der Fall ist also irgendwie abgehakt. Das wäre ein fahrlässiger Irrtum. Klar! Das macht der Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem aktuellen Buch "Terror gegen Juden – Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt".
Sie sehen also auch den Fall Halle, nehme ich an, als weitere Bestätigung für ein Versagen des Staates?
Ronen Steinke: In Halle ist sichtbar geworden, was weit über Halle hinausreicht. Sie haben es gerade angesprochen, die Tür, das Holz, das den Täter aufgehalten hat, hat es gebraucht, weil keine Polizei vor der Tür stand. Und diese Tür musste sich die Gemeinde selber aus den Spendenmitteln zusammenkratzen, weil der Staat, obwohl man ihn gebeten hat zu helfen, nicht bereit war, die Hand zu reichen, dass diese Gemeinde sich schützen kann.
Rabhansl: Sie zitieren auch den Attentäter, der in seinem Pamphlet behauptet, die Scheiben seien bestimmt schusssicher, weil der deutsche Staat ja so viele Steuergelder in jüdische Sicherheit verwendet. Die Wirklichkeit sieht komplett anders aus.
Staatsvertrag mit Regelungslücke
Steinke: Ja, das ist ein Vorurteil, das es gibt, dass Juden es sozusagen genießen, dass man viel öffentliches Geld in ihre Gemeinde hineinbuttert. Ganz im Gegenteil: Die Gemeinde in Halle ist ein Beispiel dafür, in Dessau und in vielen anderen deutschen Städten auch.
Die Gemeinden bekommen vom Staat mitgeteilt, wo Gefahr herrscht, in der Regel sind das Gutachten, die sich ziemlich dramatisch und ziemlich erschreckend lesen. Und dann sind sie auf sich selber gestellt. Dann dürfen sie, wenn sie mögen, Anträge stellen und darum betteln und bitten, und das dauert auch in der Regel Monate oder Jahre, bis das beim Staat bearbeitet wird. Und womöglich bekommen sie dann am Ende ein paar Prozent, wenn es gut läuft auch mal 80 Prozent der Kosten erstattet für Sicherheitsvorkehrungen in den Gebäuden, aber nie alles.
Das ist doch ein Zustand, da können jüdische Gemeinden sagen: Schönen Dank auch! Wofür haben wir eine Polizei, wenn nicht für Gefahrenabwehr? Und wenn die Polizei sich zurücklehnt und sagt - das ist euer eigenes Problem! -, dann spreche ich von einem Versagen.
Rabhansl: Im konkreten Fall in Halle in Sachsen-Anhalt, lerne ich in ihrem Buch, wird so etwas nicht erstattet. Und da ist wirklich konkret ja nach dem Geld für die Tür gefragt worden, wegen einer schlichten Regelungslücke, die seit 13 Jahren bestanden hat.
Steinke: Was Ausdruck von Wurschtigkeit ist oder von Achselzucken.
Rabhansl: Was ist das für eine Regelungslücke?
Steinke: Es gibt einen Staatsvertrag zwischen der jüdischen Gemeinde und dem Land Sachsen-Anhalt, darin stand, dass die Beihilfen für Sicherheit der Gemeinde später geregelt werden. Dann wurde das aber einfach nie gemacht. Dann hat man das vergessen oder vielleicht nicht wichtig genug genommen. Und darin drückt sich natürlich aus, was für einen Stellenwert der Schutz jüdischen Lebens abseits von alljährlichen Sonntagsreden hat.
Wuppertaler sollen für den Nahost-Konflikt leiden?
Rabhansl: Sie klagen in Ihrem Buch eine Polizei an, die die Gefahr vielerorts nicht abwehrt, sondern verwaltet, das ist jetzt ein Zitat, und eine Justiz, die immer wieder beschönigt, so geht das Zitat weiter. Woran machen Sie das fest?
Steinke: Ich erzähle Ihnen mal ein Beispiel aus Wuppertal, wo 2014 ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt wurde. In der Nacht fliegen Molotow-Cocktails auf das jüdische Gotteshaus. Zum Glück wird niemand verletzt und die Täter werden schnell gefasst. Dann stehen die vor Gericht, und der Richter sagt: Das war ja keine judenfeindliche Tat. Deswegen auch keine besonders geschärfte Strafe, kein scharfer Strafrahmen, sondern es werden kleine Bewährungsstrafen ausgesprochen. Einer der drei Täter bekommt überhaupt keine Strafe.
Warum? Weil der Richter sagt, das sei ja Kritik an Israel gewesen. Und da muss ich sagen: Das ist eine Logik, für die dürfen sich die Wuppertaler Juden herzlich bedanken, dass man es für legitim erklärt und auch noch mit juristischen Weihen adelt, dass Leute ihre Meinung, was auch immer diese Meinung ist, zum Nahost-Konflikt in Wuppertal im Bergischen Land abreagieren an Wuppertaler Juden.
Das ist ein Urteil, was leider kein Ausreißer ist. Das Amtsgericht in Wuppertal ist später bestätigt worden von höheren Instanzen. Und das haben sich leider viele andere Gerichte entweder zum Vorbild genommen oder sind in derselben Fahrspur unterwegs gewesen.
Ich glaube, man kann zum israelisch-palästinensischen Konflikt legitimerweise 100 Meinungen vertreten, aber zur Frage, ob man deswegen eine Synagoge attackieren darf in Wuppertal, in Lübeck, in Worms, das sind alles reale Beispiele, mit der Rechtfertigung, dass das ein Protest gegen Israel sei, zu dieser Frage darf es keine zwei Meinungen geben. Da muss die Justiz eine ganz klare Grenze ziehen.
Staatsanwälte klagen einfach nicht an
Rabhansl: Vor den Gerichten stehen die Staatsanwaltschaften. Da schreiben Sie an einer Stelle, manchmal sei es nur ein feiner Unterschied zwischen einer Staatsanwaltschaft, der die Hände gebunden sind, und einer Staatsanwaltschaft, die die Hände in den Schoß legt. Das schreiben Sie als Jurist.
Steinke: Es gibt ja oft den Verweis, dass gesagt wird: Das Bundesverfassungsgericht ist sehr liberal mit Äußerungen. Wenn zum Beispiel in deutschen Straßen gegrölt wird "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein", dann würde ich als Jurist auf die Idee kommen, das zu prüfen, ob das eine Volksverhetzung ist oder eine Beleidigung.
Die Staatsanwaltschaft in Berlin sagt aber: Nein, das könne man vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit überhaupt nicht anklagen. Und man hat auch gar nicht versucht, das vor Gericht zu bringen. Nur wenn man überhaupt nie mal den Versuch macht, die Richter zu fragen, wie sie es denn sehen, also sich nur hypothetisch zurücklehnt und sagt "Wir können ja gar nicht …" - ich bin ich nicht wirklich gewillt, das als Ausrede gelten zu lassen.
Die Staatsanwaltschaft in Berlin sagt aber: Nein, das könne man vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit überhaupt nicht anklagen. Und man hat auch gar nicht versucht, das vor Gericht zu bringen. Nur wenn man überhaupt nie mal den Versuch macht, die Richter zu fragen, wie sie es denn sehen, also sich nur hypothetisch zurücklehnt und sagt "Wir können ja gar nicht …" - ich bin ich nicht wirklich gewillt, das als Ausrede gelten zu lassen.
Rabhansl: Wobei Sie gleichzeitig Berlin auch als kleines Positivbeispiel nennen, weil sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Polizei jeweils Antisemitismusbeauftragte haben. Ändert sich da gerade etwas?
Steinke: Da ändert sich gerade was. Ich bin sehr gespannt, gucke mir das sehr genau an, wie das in Berlin vorangeht. Ein positives Ergebnis meines Buches, über das ich mich gefreut habe, dass die Generalstaatsanwältin in Berlin in Reaktion auf meine Kritik erklärt hat, wenn noch mal so etwas gegrölt wird auf Berliner Straßen, wird sie es zur Anklage bringen. Also dieser furchtbare Satz, Jude, Jude, feiges Schwein, der würde, wenn er noch mal geäußert würde, vor Gericht gebracht werden.
Von der Polizei misstrauisch beäugt
Rabhansl: Sie haben versucht, zu recherchieren, wie viele Anschläge und gewalttätige Übergriffe es eigentlich von 1945 bis heute in Deutschland in beiden Ländern und jetzt in der vereinigten Bundesrepublik gegeben hat. Und haben versucht, in den Polizeistatistiken fündig zu werden, was nicht ganz einfach war. Sie haben am Schluss eine Chronik, die ist sehr lang, die ist erschütternd lang. Aber dass es überhaupt so schwierig ist, an diese Zahlen zu kommen, das hat damit zu tun, dass vieles gar nicht angezeigt wird, schreiben Sie. Wie steht es denn um die Bereitschaft von Juden in Deutschland, antisemitische Taten überhaupt anzuzeigen?
Steinke: Die Bereitschaft ist tatsächlich sehr gering. Also, man geht davon aus, dass nur jede fünfte antisemitisch motivierte Gewalttat überhaupt gemeldet wird. Das ist natürlich ein Ausdruck davon, dass das Vertrauen in die Polizei nicht groß genug ist.
Viele Jüdinnen und Juden, die befragt werden, woran das liegt, erzählen davon, dass sie, wenn sie mal mit der Polizei zu tun haben, das Gefühl vermittelt bekommen, selber Teil des Problems zu sein. Dass also ein bisschen misstrauisch gefragt wird, muss man da jetzt gleich so einen großen Terz machen. Manchmal wird auch der Spieß umgedreht, dass man dann selber sich in der Rolle des Beschuldigten fühlt.
Das ist eine Erfahrung, die machen nicht nur Jüdinnen und Juden, die machen viele marginalisierte Gruppen, dass ihnen suggeriert wird, ihre Wünsche sind Sonderwünsche, ihre Anliegen sind Extrawürste, die sollen sich mal hinten anstellen.
Das ist genau falsch, würde ich als Jurist sagen, die rechtsstaatlichen Einrichtungen sind ja gerade für die Schwachen in der Gesellschaft wichtig. Die Starken in der Gesellschaft können sich besser selber schützen und ein Rechtsstaat muss sich gerade auf die Seite der Minderheiten stellen. Da das nicht der Fall ist, ist die Folge, dass vieles im Dunkelfeld bleibt. Die Dramatik ist: Das bedeutet natürlich im Alltag einen straffreien Raum für die Täter.
Die Weigerung, das als "normal" zu bezeichnen
Rabhansl: Was bedeutet das für das echte Leben? Ist so etwas wie ein normales, im besten Fall vielleicht sogar gewöhnliches jüdisches Leben in Deutschland denkbar?
Steinke: Ich bin selber jüdisch. Ich bin damit aufgewachsen, dass vor den Synagogen Polizei stehen muss. Ich bin damit aufgewachsen, dass Kameras und hohe Zäune rund um jüdische Einrichtungen bis hinunter zum Kindergarten sein müssen. Heute bringe ich meine Kinder in die Schule, und wieder stehen Bewaffnete vor der Tür, weil es nicht anders geht.
Wollen wir das normal nennen? Ich weigere mich eigentlich, das als normal zu bezeichnen. Und der Anschlag von Halle war für mich der Moment, wo eigentlich klar war: Ich bin nicht mehr bereit, mich damit abzufinden, dass das so weitergeht. Das ist ein Zustand, Lebensumstände, für Juden in Deutschland, mit dem sich die Politik arrangiert hat, mit dem sich auch viele jüdische Gemeinden selber arrangiert haben. Auch unter uns Juden wird oft gesagt: Na ja, das ist der Zustand, den kennen wir nicht anders, so leben wir seit Jahrzehnten. Aber das ist falsch. Das ist etwas, gegen das man aufbegehren muss und das man nicht akzeptieren kann.
Rabhansl: Jetzt haben Sie vorhin erzählt, wenn Sie Ihre Kinder an die jüdische Schule bringen, dass die auch wieder hinter bewaffneten Security-Leuten unterrichtet werden. Ich habe mir das vorher nicht ganz bewusst gemacht, bevor ich Ihr Buch gelesen habe, dass dort die Kinder natürlich mehrfach im Jahr die Terrorübungen haben, noch bevor sie schreiben lernen, dass im Zweifelsfall der Schulbus mit einem Spiegel unten drunter untersucht wird, dass da keine Bomben sind, und man den Kindern erzählt, wir gucken nur, ob das Auto einen Motorschaden hat oder dergleichen. Wie erleben die Kinder so etwas?
Steinke: Die Kinder können das zum Glück ausblenden oder die sehen das, - weil sie auch den Vergleich nicht haben -, nicht als etwas so Außergewöhnliches wie wir Erwachsenen. Aber ja, ich meine, das ist das Anliegen, was ich mit diesem Buch verfolge, das auch Menschen außerhalb der jüdischen Community mal vor Augen zu führen. Das ist ein Zustand - das geht so nicht! Das kann nicht wahr sein, dass wir es im achten Jahrzehnt von Demokratie und Grundgesetz nicht anders hinkriegen, dass jüdische Menschen leben, zur Schule gehen, zum Gottesdienst gehen – da geht man ja auch an Männern mit Maschinenpistole vorbei – das ist kein Zustand. Das ist ein Zustand, der für diese Republik eine Schande ist und der auch so nicht akzeptiert werden kann.
Und jetzt gucken wir viel nach Halle oder nach Magdeburg zu dem Prozess gegen den Attentäter von Halle. Und es ist nach dem Anschlag gesagt worden, - ein Schock ging durch Deutschland -, das war "ein Alarmsignal", sagte die CDU-Vorsitzende damals. Nein, das ist nicht etwas Neues! Der Terror ist nie weg gewesen.
Das ist etwas, was ich in dem Buch aufzeige: Es gab schon 1969 einen Bombenanschlag auf die Westberliner jüdische Gemeinde. Es gab 1980 einen Mordanschlag auf den ehemaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in meiner Geburtsstadt, in Erlangen. Es gab 1982 einen Bombenanschlag auf ein jüdisches Restaurant, wo ein kleines Mädchen getötet wurde. 1988 eine Autobombe. 1994 gab es Brandanschläge auf verschiedene Synagogen, 1998 Sprengstoffanschläge auf das Grab des Präsidenten des Zentralrats der Juden. Das ist der Zustand und das kann so nicht weitergehen.
Keine zweite Chance für Beamte mit rassistischen Aussetzern
Rabhansl: Sie entwerfen am Ende Ihres Buches ein paar Punkte, was sich ändern müsste. Können Sie da die wichtigsten nennen?
Steinke: Ich picke gerne zwei raus. Das eine ist der Schutz jüdischer Gemeinden, der Schutz von jüdischen Menschen vor Gefahr ist zu 100 Prozent Aufgabe der Polizei. Ich glaube, das mal so lapidar zu sagen, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und sollte eigentlich keine steile These sein. Und dass das in Deutschland bisher nicht der Fall ist, dass die Polizei sich herausredet, - "Na ja, können wir vielleicht mal gucken, ob die Gemeinde das nicht selber regeln kann" -, das ist eigentlich nicht akzeptabel. Das ist auch für mich als Juristen eine befremdliche Haltung des Rechtsstaates, dass es vulnerablen Gruppen selbst überlassen wird, wie gut sie sich zu helfen imstande sind.
Der andere Punkt ist: Warum ist denn das Vertrauen in Sicherheitsbehörden so gering, warum wenden sich Menschen so selten dorthin? Gucken wir in die Nachrichten, gucken wir auf so eine Affäre wie jetzt NSU 2.0: Wenn die Polizei, wenn in ihren Reihen in WhatsApp-Gruppen oder sonst wo NS-verherrlichende oder rassistische Sätze fallen, nicht ganz klar reagiert und nicht deutlich auch nach außen hin demonstrativ zeigt, solche Menschen sind nicht unsere Kollegen, solche Menschen sind gegen uns und wir stellen uns in Abstand zu denen, dann ist das Gift für das Vertrauen.
Und dann braucht man sich leider nicht wundern, was die Folge ist. Da bin ich dafür, und das halte ich wiederum auch nicht für eine sehr steile Forderung, dass es in solchen Fällen keine zweite Chance gibt. Wer sich so äußert, hat das Vertrauen, was wir als Gesellschaft mit dem Gewaltmonopol in ihn setzen, verspielt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.