"Syrien braucht ein Sondertribunal"
Carla del Ponte, ehemalige Anklägerin des UN-Sondergerichtshofs für Jugoslawien, fordert einen UN-Gerichtshof auch für den Nahen Osten. Er solle Menschenrechtsverletzungen in der gesamten Region untersuchen, fordert sie.
Syrien taucht kaum mehr in den Schlagzeilen der Nachrichten auf. Im fünften Jahr des Konflikts in Syrien nehmen jedoch die Menschenrechtsverletzungen dramatisch zu. Besonders in den Gebieten, die von Regierungstruppen oder Rebellen belagert sind, herrscht humanitärer Notstand.
Mehr als 220.000 zivile Opfer, mehr als neun Millionen Vertriebene, so die bisherige Bilanz des Bürgerkrieges. 40 Prozent der Kinder in einigen der großen Flüchtlingslager sind unterernährt, wie die Unabhängige Kommission des UN Menschenrechtsrates festgestellt hat. Wiederholt wurden in dem Konflikt insbesondere von der syrischen Regierung Fassbomben eingesetzt.
Die Situation in Syrien spitzt sich dramatisch zu, und die Staatengemeinschaft schaut zu. Um die Verursacher von Menschenrechtsverletzungen im ganzen Nahen Osten zur Rechenschaft zu ziehen, fordert Carla del Ponte ein Sondertribunal. Die ehemalige Chefanklägerin des UN- Sondergerichtshofs für Ex-Jugoslawien und Ruanda stellt sich in der Sendung Tacheles auf Deutschlandradio Kultur den Fragen von Burkhard Birke.
Deutschlandradio Kultur: Carla del Ponte ist Mitglied der unabhängigen UN-Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien.
Vielen Dank, Frau del Ponte, dass Sie mich hier am Sitz der Vereinten Nationen in Genf empfangen, wo Sie gemeinsam mit den anderen Kommissionsmitgliedern einen Zwischenbericht zur Lage in Syrien abgegeben haben.
Bevor wir auf die Lage in Syrien eingehen, gestatten Sie mir eine persönliche Frage. Hinter Ihnen liegt ein sehr bewegtes und aufregendes Berufsleben als Anwältin, dann Staatsanwältin in der Schweiz, Bundesstaatsanwältin, später Chefanklägerin beim UN-Kriegsverbrechertribunal und Schweizer Botschafterin in Argentinien. Im Grunde könnten Sie sich doch also in Ruhe zur Rente setzen und Ihrer Leidenschaft nachgehen, schnelle Autos zu fahren.
Weshalb haben Sie sich entschieden, noch einmal in dieser Syrienkommission mitzuarbeiten?
Carla del Ponte: Zuerst mal vielen Dank, dass ich heute mit Ihnen hier dieses Interview besprechen kann. Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich wiederum zur Arbeit komme. Ich bin ja pensioniert, bin eine Großmutter und habe viel zu tun mit meinen kleinen Kindern (Enkelkindern, Anm. der Redaktion). Aber die Schweizer Regierung hat mich gefragt, ob ich eben in diese Kommission einsteigen wollte. Und natürlich, wenn die Schweiz eine Person hat, die viel Erfahrung hat, die bin ich. Ich konnte eigentlich nicht „Nein" sagen. Und ich freute mich auch und ich freue mich, denn partiell bin ich immer noch tätig dort, wo ich ein ganzes Leben tätig war. Das macht mir noch Freude und ich habe noch Interesse.
Jetzt, nach mehr als drei Jahren, dass ich in dieser Kommission bin, bin ich ein bisschen frustriert, weil da eben keine Gerechtigkeit, kein internationaler Gerichtshof tätig wird. Wir ermitteln, aber es gibt keinen Gerichtshof, der sich damit beschäftigt. Das ist für mich natürlich undenkbar. Man sagt ja, später, später... Aber ich weiß, solange die Jahre vergehen, wird es immer schwieriger zu ermitteln und Anklageschriften vorzubereiten. Also, ja, soweit sind wir.
"Eine Tragödie für die Flüchtlinge, eine Tragödie für das Land"
Deutschlandradio Kultur: Der Konflikt in Syrien geht jetzt in sein fünftes Jahr. Es ist unglaublich schwer, menschliches Leid und Menschenrechtsverletzungen in Zahlen, in Statistiken zu fassen. Aber genau das ist ja auch Ihre Aufgabe in der Kommission.
Können Sie den Hörern noch einmal mit ein paar Zahlen eindrucksvoll vermitteln, wie die Situation momentan in Syrien ist? Was hat die Kommission herausgefunden?
Carla del Ponte: In unseren Berichten geben wir eben an, wie neben 200.000 Zivilisten, die getötet wurden, Millionen von Personen weg vom Land sind, damit sie doch entwischen können diesem Terror, diesen Gewalttaten. Aber das ist eine Nummer. Es sollte die internationale Gemeinschaft ein bisschen bewegen, zuerst mal zu einer politischen Lösung zu kommen, damit Frieden herrscht.
Alle diese Syrer, diese armen Syrer, die Familien, Kinder vor allem auch und Frauen usw., die fliehen, aber die wollen sobald als möglich zurück, sobald Frieden dort ist.
Also, auf einer Seite haben wir ein Problem von den europäischen Staaten, um alle diese Flüchtlinge aufzunehmen. Denn es sind natürlich nur Syrer, Eritreer und viele andere Länder. Und man muss sagen, alle diese Leute wollen zurück, sobald Frieden herrscht im Staat und besonders in Syrien. So ist es im Moment. Das ist sehr schwierig und es ist eine Tragödie für die Flüchtlinge, eine Tragödie für Syrien, eine Tragödie für den Staat.
Deutschlandradio Kultur: Frau del Ponte, wie hat man sich Ihre Arbeit vorzustellen? Denn die offizielle syrische Regierung gewährt Ihrer Kommission ja keinen Zugang zum Territorium Syriens? Wie stellen sie Ihre Nachforschungen an?
Carla del Ponte: Natürlich gehen wir oft in die Nachbarstaaten, also Libanon, Jordanien, Türkei, Irak in die Flüchtlingslager und treffen alle diese Opfer und diese Überlebenden. Die werden befragt. Wir haben einige Ermittler, die wir in Missionen schicken, die Deserteure. Und wir haben natürlich auch Kontakt im inneren Syrien mit Telefon und Skype. Natürlich wäre es gut, wenn wir Zutritt hätten nach Syrien, aber leider geht es nicht.
Deutschlandradio Kultur: Weshalb, mit welcher Begründung lehnt die syrische Regierung das ab?
Carla del Ponte: Die syrische Regierung bezweifelt die Unabhängigkeit dieser Kommission. Sie meint, die Kommission sei gegen die Regierung und listet vor allem Straftaten, also Verbrechen von der Regierung und nicht von der anderen Seite auf. Also, es ist so eine Evaluation, die sie machen. Aber das ist nichts Neues. Wir wissen, als ich Chefanklägerin im Ex-Jugoslawien-Gerichtshof war, Milosevic hat mir natürlich keinen Eintritt in Serbien gegeben. Also, ich konnte dort nur hingehen, nachdem er verhaftet worden war.
Deutschlandradio Kultur: Also eine Situation, mit der Sie, Frau del Ponte, vertraut sind. Aber sagen Sie, in dem letzten Bericht spricht die Kommission davon, dass auch Fassbomben eingesetzt worden sind von der syrischen Regierung. – Welches sind denn die krassesten Menschenrechtsverletzungen, die Ihre Kommission auch mit Hilfe der Vertreter oder der Informationen von vor Ort und aus den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern herausgefunden hat?
Carla del Ponte: Diese Fassbomben sind die letzte Waffe, die die Regierung, vor allem die Regierung, nach dem, was wir wissen, benutzt. Was wir feststellen konnten, ist vor allem die Folter in den Gefängnissen – also, von beiden Seiten, nicht nur von der Regierung, Folterung, natürlich Tötung. Denn dort sind es Tausende von Leuten, die getötet wurden. Das haben wir spezifisch aufgenommen.
Und was wir im letzten Bericht auch feststellen, ist, dass – und hier sind es vor allem diese terroristischen Gruppen, die die Krankenhäuser und Schulen attackieren. Und das ist sehr, sehr tragisch. Denn das sind Kinder und das sind Kranke, die getötet worden sind, nicht zu sprechen von den Pflegern, Ärzten und Pflegeleuten von diesen Spitälern.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, die Krankenhäuser, die Hospitäler werden ganz bewusst als menschliche Schutzschilde benutzt?
Carla del Ponte: Exakt, genau. Das ist sehr, sehr widerlich. Tut mir Leid, ich spreche nicht mehr so gut Deutsch, denn wir sprechen immer nur noch Englisch, aber weniger Deutsch. Also, auf alle Ermittlungen zum Einsatz von Chemiewaffe sind ins Stocken geratenFälle vielen Dank für Ihre Hilfe.
Ermittlungen zum Einsatz von Chemiewaffen sind ins Stocken geraten
Deutschlandradio Kultur: Nein, Ihr Deutsch ist hervorragend, Frau del Ponte, und die Hörer verstehen Sie sehr, sehr gut, glaube ich.
Die Situation in Syrien war an einem Punkt vor einigen Jahren besonders dramatisch, weil der Einsatz von Chemiewaffen die Weltöffentlichkeit wach gerüttelt hatte. Haben Sie immer noch Hinweise darauf, dass immer noch Chemiewaffen eingesetzt werden?
Carla del Ponte: Ich muss sagen, dass wir mit dieser Ermittlung nicht weitergekommen sind und wir sind noch an dem Anfangspunkt. Und meine Zweifel sind immer die gleichen. Das heißt, nach meiner persönlichen Einsicht von dem, was ich bekommen habe, waren die ersten, die die chemischen Waffen benutzt haben, die Rebellen, die Opposition. Es kamen dann zusätzliche konkrete Indizien, dass auch das Regime, die Regierung die chemischen Waffen (eingesetzt hat). Aber ich würde das wirklich ermitteln können, aber um es richtig zu ermitteln, müssen Sie nach Syrien. Und ich bin hier im Kontakt mit dem syrischen Botschafter. Ich möchte nach Syrien, auch nur für diesen besonderen Punkt. Denn ich finde, es ist wirklich sehr wichtig, dass man weiß, wer hat genau und welche chemischen Waffen benutzt worden sind.
Das wurde – nicht am Anfang – politisch manövriert. Also, eine Ermittlung würde hier von großer Wichtigkeit sein, auch um zu sehen, was man dann politisch gemacht hat mit solchen Sachen. Das geht eben nicht, wenn man mit der Justiz spricht.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, dass die Rebellen zuerst die Chemiewaffen eingesetzt haben, dann wäre es doch eigentlich im Interesse der syrischen Regierung, dass Sie das beweisen könnten?
Carla del Ponte: Das habe ich etliche Male gesagt zu dem syrischen Botschafter. Vor allem, als ich gehört habe, der Minister of Foreign Affairs, der Auslandsminister, die immer betont haben, sie haben keine chemischen Waffen, habe ich gesagt, ich komme, gebt mir die...... Aber eben, ich weiß nicht, leider rufen sie mich nicht. Sie haben mich zwar eingeladen in 2013, aber in meiner persönlichen Kapazität hat damals die Kommission entschieden, nein. Aber jetzt hat die Kommission gesagt, jetzt kann ich gehen, aber ich warte immer noch auf eine Antwort.
Deutschlandradio Kultur: Woher nehmen Sie denn die Vermutung, dass die Rebellen diejenigen waren?
Carla del Ponte: Es ist so, dass die ersten Ermittlungen, die wir gemacht haben, konkrete Beweise ergeben haben, dass es die Rebellen gewesen sind. Also, zurzeit meiner Zeit haben beide Seiten chemisch e Waffen benutzt, aber wie viel und welche, das wissen wir noch nicht.
Deutschlandradio Kultur: Das Leid in Syrien ist unglaublich. Wir haben, glaube ich, neun Millionen Flüchtlinge, davon eben der Großteil Binnenflüchtlinge. Gibt es überhaupt noch sichere Gebiete in Syrien?
Carla del Ponte: Sehr wenige. Die haben sich stark reduziert in diesem letzten Jahr. Es gibt nur noch ganz wenige sichere Plätze, also, Damaskus natürlich, eigentlich dort, wo die Regierung die Kontrolle hat. Aber die Situation ist sehr tragisch, ja.
Deutschlandradio Kultur: Vor allen Dingen haben wir viele Städte und Regionen, die belagert sind. Was bedeutet das denn nach den Erkenntnissen Ihrer Kommission für die Bevölkerung dort?
Carla del Ponte: Die Belagerung ist auch ein Mittel zum Krieg. Das wird praktiziert sehr stark von beiden Seiten. Und das bringt natürlich Elend, das bringt Armut, das bringt kein Wasser, keine Elektrizität usw. Und das hindert auch humanitäre Hilfe. Somit ist es diesbezüglich sehr wichtig, dass die internationale Gemeinschaft interveniert, dass die UNO interveniert, damit diese Belagerung aufgehoben werden. Aber es ist ein Kampf.
Deutschlandradio Kultur: Halten Sie es für möglich, dass man humanitäre Korridore schafft oder vielleicht auch gewisse Gebiete durch eine Flugverbotszone schützt, damit humanitäre Hilfe ins Land kommt?
Carla del Ponte: Von der Flugverbotszone habe ich keine große Hoffnung. Das ist etwas, was nie große Resultate gegeben hat. Aber humanitärer Korridor ja. Manchmal kann man es haben, aber es dauert so zwei, drei Wochen und dann nicht mehr. Also, es sind immer so prekäre Situationen. Es ist wirklich tragisch für die Zivilisten.
Deutschlandradio Kultur: Ist denn der Islamische Staat und al-Nusra, also diejenigen Kräfte, die gegen das Regime von Baschar al-Assad kämpfen, sind diese Kräfte auch bereit, humanitäre Korridore einzurichten?
Carla del Ponte: Ja, ich glaube, al-Nusra, so viel ich weiß, hat doch zugegeben, also weniger die anderen, diese ISIS. Aber eben, es dauert nur eine gewisse Zeit und dann kommen andere und man muss von neuem anfangen, also große Probleme.
Deutschlandradio Kultur: Frau del Ponte, haben Sie eigentlich auch direkten Kontakt zu Vertretern von al-Nusra und vom Islamischen Staat?
Carla del Ponte: Nein, wirklich nicht. Wir haben schon keine Kontakte mit dem Regime, also mit der Regierung. Aber nein, also, mit diesen Gruppen haben wir überhaupt keine Kontakte. Wir haben Kontakt mit Leuten, die aus diesen Gruppen heraus sind, das schon. Denn natürlich können wir große wichtige Fakten sammeln.
Deutschlandradio Kultur: Was erzählen Ihnen diese Leute, mit Blick auch auf die Verweigerungshaltung dieser Gruppen, hier an den Verhandlungen über einen Frieden zu Syrien teilzunehmen?
Carla del Ponte: Ja, wissen Sie, das ist politisch. Mit unseren Ermittlungen wollen wir nicht politisch denken. Wir wollen, wir müssen über Verbrechen, Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit .... Aber es stimmt, die wollen diesen Islamistischen Staat. Es ist nicht einmal ISIS, es ist nicht einmal spezifisch gegen Regime von Baschar al-Assad, ist wirklich nur ein Staat. Wir sehen ja, wie sie sich expandiert haben in Libyen, im Irak. In Syrien, natürlich sind sie dort im Norden, aber so ist es. Wollen mal sehen.
In Syrien herrscht "totale Straffreiheit"
Deutschlandradio Kultur: Frau del Ponte, Sie haben es angesprochen und Ihre frühere Aufgabe als Chefanklägerin bei den UNO-Tribunalen war es ja, Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Welche Chancen sehen Sie, dass man in Syrien nach Beendigung des Konfliktes wirklich die Verantwortlichen auf beiden Seiten, also auch die vom Islamischen Staat, die vom Regime zur Verantwortung ziehen kann?
Carla del Ponte: Diese Frage ist eine schwere Frage. Denn wenn ich es betrachte, wie es heute aussieht, muss ich sagen, es gibt keinen politischen Willen, das zu erreichen. Also, sollte ich nein sagen. Ich sehe, dass niemand es will. Es ist totale Straffreiheit in Syrien.
Aber als ehemalige Chefanklägerin muss ich sagen: Doch, irgendeinmal müssen wir soweit kommen. Ich hoffe nur, dass es in kurzer Zeit möglichst zustande kommt. Denn es sind jetzt schon fünf Jahre.
Also, wenn Sie bedenken, Ex-Jugoslawien, der Krieg war noch dran und man hat das internationale Tribunal geschaffen, nach nicht einmal einem Jahr Krieg in Jugoslawien. Aber hier spricht man nach fünf Jahren überhaupt nicht von Gerechtigkeit oder von Justiz. Also, wir wollen mal sehen. Aber ich hoffe wirklich für alle diese Opfer, dass einmal Gerechtigkeit kommt.
Deutschlandradio Kultur: Wäre es sinnvoll, ein Sondertribunal für den gesamten Nahen Osten zu schaffen? Denn wir haben ja auch die Vorwürfe gegen Israel, aber auch gegen die Palästinenser, Verbrechen an der Menschlichkeit mit dem Konflikt im Gaza-Streifen begangen zu haben.
Carla del Ponte: Ja, ich finde das particularly auch, damit es schneller gehen kann und effizienter und mehrere Schuldige zu diesem internationalen Gericht kommen. Also, ein Gerichtshof wäre hier eigentlich wünschbar. Er könnte auch in der Nähe sitzen, die Sprache und alles, wir haben ja gesehen mit dem Ex-Jugoslawien-Tribunal, das geht dann besser als mit dem ständigen Gerichtshof. Er hat schon viel zu tun. Also, sicher. Das ist auch eine Idee, die ich habe und die ich ein bisschen verbreite. Wenn es natürlich nicht geht mit dem ständigen Gerichtshof, weil Russland und China es nicht wollen, also machen wir einen Gerichtshof ad hoc. Das wäre eine Alternative, die sicher sehr wertvoll ist.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie da die Unterstützung von der EU?
Carla del Ponte: Ich weiß es nicht. Ich kümmere mich nicht um Politik. Ich kümmere mich um Justiz. Aber ich glaube, die Amerikaner wären dafür, für ein Tribunal ad hoc. Also, wir wollen mal sehen. Ich meine, ich lanciere die Idee, aber es ist die Politik, die da die Lösung finden muss. Also warten wir ab.
Deutschlandradio Kultur: Carla del Ponte, Sie waren Chefanklägerin der UNO-Tribunale für Jugoslawien. Jetzt jährt sich zum 20. Mal der Tag des Massakers von Srebrenica. Sie standen an den Massengräbern. Welche Gedanken gehen Ihnen da jetzt, heute, 20 Jahre danach durch den Kopf?
Carla del Ponte: Ja, wissen Sie, was mir durch den Kopf geht, ist etwas ganz Eigenartiges. Sicher bin ich die Einzige auf der Welt, die so etwas hat. Denn Milosevic ist gestorben und konnte nicht verurteilt werden auch wegen Srebrenica. Was ich von Srebrenica im Kopf behalten habe, ist, dass die internationale Gemeinschaft eine Voranzeige bekommen hatte, dass Mladic einen Völkermord plante. Und die internationale Gemeinschaft hat nicht interveniert, hat nichts gemacht. – Das bleibt mir von Srebrenica im Kopf.
Und drum ist für mich Srebrenica der angemeldete Völkermord und den hat man nicht vermeiden wollen. Das ist für mich Srebrenica.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben wir einen Völkermord in Syrien und die internationale Gemeinschaft schaut zu.
Carla del Ponte: Eben. Und Ruanda war das Gleiche. Also, wieso lernen wir überhaupt nichts von den Fakten der Vergangenheit? Ja, so ist es.
Das UN-Tribunal für Jugoslawien war ein "großer Erfolg"
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie auf Ihre Zeit als Chefanklägerin zurückblicken, was ist das, worauf Sie besonders stolz sind?
Carla del Ponte: Etliches, muss ich sagen, aber ich bin vor allem stolz auf das Prosecutor-Office, auf meine Mitarbeiter, wie wir gut zusammengearbeitet haben. Wir sind stolz darauf, dass wir alle zusammen in einer Gruppe gearbeitet haben und uns gut verstanden haben. Man muss sagen, wir waren 600 im Office of the Prosecutor. Gut, ich meine, 20 im immediate Office. Aber wir konnten alle hohen militärisch und politisch Verantwortlichen vor Gericht stellen. Das ist ein großer Erfolg. Denn ohne die gute Arbeit vom Staatsanwaltschaftsbüro hätte das Gericht nichts zu tun gehabt. Aber wir konnten alle diese Anklageschriften... Und wir haben alle diese 162 Beschuldigten zum Gericht bringen können. Das war ein großer Erfolg für die internationale Justiz. Und das war eine große Genugtuung für die Opfer.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie Bedauern? Gibt es Sachen, wo Sie sagen, das tut mir Leid, dass ich das nicht geschafft habe, das hätte ich gern geschafft? Denn einige dieser Kriegsverbrecher sind ja auch zum Teil freigesprochen worden oder sind noch nicht ganz verurteilt.
Carla del Ponte: Ja, wissen Sie, das gehört zu unserer Arbeit, dass man alle Beweise, die man gesammelt hat, man kann sie nicht vor Gericht stellen, also, ab und zu. Aber ich erinnere mich an ganz wenige Freisprüche. Und die waren nicht so wichtige Angeschuldigte.
Die Frage war?
Deutschlandradio Kultur: Ob Sie Bedauern haben über Sachen, die Sie leider nicht geschafft haben damals.
Carla del Ponte: Ja, wissen Sie, Bedauern, nein, eigentlich nicht Bedauern. Aber unsere Liste von den Verdächtigen war länger als die wir dann bringen konnten. Denn man hat uns eingeschränkt. Der Sicherheitsrat hat gesagt: Jetzt hört mal auf. – Aber eben, das kann man bedauern. Meine Liste war mehr als 300 Beschuldigte. Und wir konnten eigentlich nur 162 vor Gericht stellen, denn wir hatten die Mittel nicht, um weiter zu arbeiten.
Also, diese Tribunale ad hoc sehr gut, aber die Justiz ist nicht billig, kostet viel. Und manchmal will man eben weniger bezahlen für die Justiz.
Deutschlandradio Kultur: Carla del Ponte, im Anschluss an Ihre Aufgabe als Chefanklägerin sind Sie als Schweizer Botschafterin nach Argentinien gegangen. Argentinien, ein Land auch mit einer schwierigen Vergangenheit. Ist es Ihnen da schwer gefallen? Weil, Sie waren ja doch in ein diplomatisches Korsett gesteckt. Und am liebsten hätten Sie doch wahrscheinlich einige der Täter aus der Militärherrschaft vor Gericht gezerrt?
Carla del Ponte: Ja. In Argentinien ist das sehr interessant. Denn es ist die Zeit, wo die Militärischen Behörden vor Gericht gestellt worden sind. Ich war auch im Kontakt mit Staatsanwaltschaften und habe darüber gesprochen. Und ich habe etliches gelernt und auch natürlich von meinem Wissen denen etwas gegeben.
Es war sehr interessant. Und natürlich, als Botschafterin musste ich Etliches lernen – diplomatisch zu sein. Man muss nicht immer die volle Wahrheit sagen, man muss nur Wahrheit sagen, aber manchmal muss man einfach eine Reserve haben. Aber das waren gute drei Jahre dort. Ich habe es sehr gern gehabt.
"Ich bin charakterlich gegen Kompromisse"
Deutschlandradio Kultur: Hat es Sie nie gereizt, in die Politik zu gehen?
Deutschlandradio Kultur: Nein, absolut nicht. Denn ich bin charakterlich gegen Kompromisse. Wenn man Politiker ist, muss man das, das habe ich gesehen. Man muss sehr, sehr viele Kompromisse machen. Nein, Politik hat mich nie nie nie gereizt.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben, und das ist vielleicht für unsere Hörer auch noch interessant, als Scheidungsanwältin angefangen mit Ihrer juristischen Karriere. Wie kam es dazu?
Carla del Ponte: Das war in meiner Stage-Zeit, als ich noch sehr jung war und bis ich mein Brevet für Rechtsanwalt bekommen habe. Ja, ich kämpfte schon damals, mein Charakter war so, dass ich kämpfte. Also, ich kämpfte für diese Frauen in Scheidung und Trennung und konnte natürlich gute Situationen für die Frauen, auch finanziell..... Also, hatte ich so viele Klientinnen. Aber wissen Sie, nach den ersten Fällen, wo man schon noch etwas Freude hat, nachher wurde es ziemlich langweilig. Aber es war schon eigentlich, dass ich diese Frauen als Opfer sehe. Also muss ich für die Opfer arbeiten und durchsetzen, dass sie doch ein schönes Leben weiter haben können.
Aber ich wartete immer, dass ich auf Strafrecht....Strafrecht war mein Lieblingsmotiv.
Deutschlandradio Kultur: Und dann, als Sie Staatsanwältin wurden, dann war Richter Falcone, der Mafia-Jäger aus Italien, Ihr großes Vorbild. – Weshalb?
Carla del Ponte: Ich habe ihn sehr früh kennengelernt. Er kam nach Lugano. Er hatte ja probatorische Rechte auf Durchsuchung gemacht. Das war eine Freundschaft, die sich nicht nur beruflich, auch persönlich ausgebildet hat. Und ich habe viel gelernt und auch viel arbeitet mit ihm. Denn damals in diesen 80er Jahren, die Mafia hatte viele Bankenkonten in Lugano, im Tessin, also, wir haben sehr gut gearbeitet. Dort hat es angefangen bei mir, dass ich eben mit Polizeischutz leben musste. Also, Falcone war schuldig daran, dass ich so weit kam.
Deutschlandradio Kultur: Immer noch mit Polizeischutz – wie ist es dann, das Leben?
Carla del Ponte: Nein, nein, jetzt nicht mehr. Jetzt lebe ich wieder auf freiem Fuß. Aber nur, wenn ich arbeite, also, wenn wir in Missionen gehen oder so. Jetzt habe ich wirklich meine Freiheit wieder erlangt.
Deutschlandradio Kultur: Letzte Frage: Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, welches wären diese drei Wünsche?
Carla del Ponte: Für Syrien, dass Frieden herrscht. Also, das macht mir große Sorgen. Also, zuerst mal das. Aber eben nicht nur Frieden für Syrien, Frieden auf der Welt.
Was ist denn jetzt diese Welt, die immer, immer in Kriegssituationen ist? Also, voller Frieden für alle, für alle Leute, damit einmal nicht immer so große Probleme herrschen.
Für mich persönlich, ich bin froh, Großmutter zu sein und Golf zu spielen. Also, ein Wunsch ist auch, mein Handicap herunter zu bringen.
Deutschlandradio Kultur: Wie hoch ist das?
Carla del Ponte: Zurzeit ist es 21, also sollte schon... Aber ich will es unter 20, also, ich arbeite dran.
Deutschlandradio Kultur: Und Sie fahren immer noch schnelle Sportwagen?
Carla del Ponte: Nein, das nicht mehr. Man kann nicht mehr schnell fahren. Da sind die Geschwindigkeitsbegrenzungen und ich bin sehr Legalistin, also, nein, ich fahre jetzt ein ganz normales kleines Auto.
Carla del Ponte wurde am 9. Februar 1947 in Bignasco im Schweizer Kanton Tessin geboren. Sie studierte Jura, arbeitete als Scheidungsanwältin, wechselte später in die Staatsanwaltschaft. Von 1994 bis 1998 war sie Bundesanwältin der Schweizer Eidgenossenschaft und von 1999 bis 2007 Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und für den Völkermord in Ruanda. Im Anschluss ging Carla del Ponte für drei Jahre als Botschafterin nach Argentinien. Seit drei Jahren ist sie Mitglied in der Unabhängigen UN Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien.