Justiz

Der Angeklagte steuert das Jugoslawien-Tribunal

Der ehemalige Serbenführer Radovan Karadzic vor dem UN-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag.
Der ehemalige Serbenführer Radovan Karadzic vor dem UN-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag. © dpa/ picture alliance / Robin Van Lonkhuijsen / Pool
Von Malte Herwig · 02.06.2014
Vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal ist Ex-Serbenführer Radovan Karadzic wegen seiner Rolle im Bosnienkrieg angeklagt. Dass er das Verfahren in die Länge zieht, sei aber nicht der eigentliche Skandal, sondern vielmehr die mangelnde Unterstützung für das Tribunal, meint der Autor Malte Herwig.
Der Mann mit dem grauen Anzug und der welligen Silbermähne guckt geschäftig und putzt seine Brille. Es ist schon die dritte seit seiner Ankunft in Den Haag. Diesmal ist es eine kleine runde, oben mit einer silbernen Fassung, unten randlos. Radovan Karadzic liest viel.
Nachts studiert er in seiner Zelle die mehr als 1,5 Millionen Seiten Prozessakten. Tagsüber verteidigt er sich vor Gericht in eigener Sache: Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit lauten die Hauptanklagepunkte.
Die Grundidee der internationalen Strafjustiz ist es, selbstherrliche Kriegsherren, die sich als Großdarsteller der Historie verstehen, von ihrem selbstgebauten Sockel zu stoßen, sie auf das Maß von gewöhnlichen Angeklagten zu stutzen.
Aber die Wahrheit ist: Das Tribunal in Den Haag ist selbst eine Bühne. Das Drama, das hier aufgeführt wird, handelt vom Krieg und seinen Verbrechen. Viele der Überlebenden können hier zum ersten Mal ausführlich von ihren schrecklichen Erlebnissen im jugoslawischen Bürgerkrieg erzählen, der vor 20 Jahren den Balkan verwüstete.
Und die ehemaligen Kriegstreiber, die es gewohnt waren, Befehle zu erteilen, müssen hier Rede und Antwort stehen: Zur Belagerung von Sarajevo, zum Mord an 7000 muslimischen Jungen und Männern in Srebrenica und anderen Kriegsverbrechen. Das bedeutet aber auch: Sie haben wieder das Wort.
Vom Serbenführer zum Anwalt
Karadzic ist der Beschuldigte, der die Ankläger am meisten nervös macht. Warlords, Haudegen, breitschultrige Politiker kennt man in Den Haag zu genüge: Der serbische Ex-Präsident Slobodan Milosevic, der 2006 in Haft starb, ließ im Gerichtssaal gern den Bauch raushängen, behandelte Zeugen von oben herab. Auch Serben-General Ratko Mladic bleibt seinem Image als grobschlächtiger Haudegen treu und pöbelt immer wieder vor Gericht.
Ganz anders Karadzic, der ehemalige Psychiater und Nebenberufs-Schriftsteller, der sich auf seiner Flucht jahrelang vor aller Augen als Wunderheiler mit Rauschebart und langen Haaren auf dem Balkan versteckte. Er ist die Höflichkeit in Person. Im Kreuzverhör der Zeugen wirkt er konzentriert und zielgerichtet.
Dass er ein guter Anwalt geworden ist, sagen – halb anerkennend – sogar Juristen, selbst unter den Anklägern. Immer wieder musste der Vorsitzende Richter Karadzic ermahnen, endlich auf den Punkt zu kommen. Doch seiner Verzögerungsstrategie hatte das Gericht wenig entgegenzusetzen. Das Mandat des Tribunals ist offiziell ausgelaufen, das Geld tröpfelt nur noch. Viele der besten Juristen haben das Tribunal bereits verlassen, jeden Monat werden es mehr.
Mangelnde Unterstützung durch die Internationale Gemeinschaft
Und doch ist nicht der Hauptangeklagte Radovan Karadzic daran schuld, dass der wichtigste Kriegsverbrecherprozess auf europäischem Boden seit 1945 zu scheitern droht. Dass ein Angeklagter den Prozess als Bühne nutzt, muss man aushalten, wenn man an den Rechtsstaat glaubt. Der wirkliche Skandal ist die mangelnde Unterstützung internationaler Gerichte durch die UN-Mitgliedsstaaten. Es fehlt an Geld und am politischen Willen.
Auch die Bundesrepublik Deutschland kommt ihren Verpflichtungen nicht genügend nach. Immer wieder hat sie taktiert und verzögert, etwa wenn es um Vorladung deutscher Beamter des Bundesnachrichtendienstes ging. Denn vieles deutet darauf hin, dass mit Hilfe westlicher Geheimdienste während des Jugoslawienkriegs Waffen auf den Balkan geschmuggelt wurden.
Die Kriegsverbrechen, die den Angeklagten vorgeworfen werden, dürfen den Westen nicht davon abhalten, nach der eigenen Verantwortung zu fragen. Wenn wir keine Siegerjustiz wollen, sollten wir nie vergessen, dass es auch bei uns blinde Flecken gibt.

Malte Herwig ist Journalist, Literaturkritiker und Auslandsreporter. Geboren 1972 in Kassel, studierte er in Mainz, Oxford und Harvard Literaturwissenschaften, Geschichte und Politik. Nach der Promotion in Oxford wurde er Journalist, arbeitete seitdem unter anderem für die "New York Times", "DIE ZEIT", "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und im Kulturressort des "SPIEGEL". Jetzt ist er Reporter des Magazins der Süddeutschen Zeitung. Lebt in Hamburg.

Der Autor Malte Herwig
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Für sein Buch "Bildungsbürger auf Abwegen" (Verlag Vittorio Klostermann) erhielt er 2004 den Thomas-Mann-Förderpreis. Zuletzt erschien seine viel beachtete Biografie über den Schriftsteller Peter Handke ("Meister der Dämmerung", Deutsche Verlags-Anstalt).