Gleiches Recht für alle?
Nach dem Völkerstrafgesetz, das 2002 in Kraft trat, können ausländische Staatsbürger vor einem deutschen Gericht angeklagt werden, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung in Deutschland leben. Für die Gerichte ist das noch Neuland.
Tagesschau 18.1.2011: "Völkermordprozess in Deutschland: Erstmals verhandelt ein deutsches Gericht über den Massenmord in Ruanda in den 90er-Jahren. Vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main muss sich ein 54-Jähriger verantworten."
Dieter Magsam: "Man muss sehen, dass Gerichtsprozesse nach dem Völkermord immer die Folge davon sind, dass man den Völkermord nicht verhindert hat."
Ortszeit 4.5.2011: "Milizionäre, die massakrieren und vergewaltigen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben und Kriegsverbrechen. Taten, geschehen zwischen 2008 und 2009 in der Demokratischen Republik Kongo. Die mutmaßlichen Befehlshaber saßen in Deutschland."
Klaus Rackwitz: "Internationale Gerichte in ihrem Bestreben, möglichst hohe Standards anzuwenden, wirken nicht immer sehr abschreckend."
Ortszeit 10.1.2014: "Britische Soldaten sollen irakische Häftlinge systematisch misshandelt und gefoltert haben. Aus diesem Grund hat eine europäische Menschenrechtsorganisation Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt."
Hans-Peter Kaul: "Diese große Anzeige ist eine harte Nuss für die Staatsanwaltschaft."
Eingangskontrolle im Hochsicherheitsgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Ton-, Foto- und Filmaufnahmen sind jenseits der Personenschleuse verboten, Handys müssen abgegeben werden.
Seit dem 15. November 2013 stehen hier drei Deutsche ruandischer Herkunft vor Gericht. Ihnen wird die "mitgliedschaftliche Unterstützung" einer "terroristischen Vereinigung im Ausland" zur Last gelegt. Gemeint sind die im Osten der Demokratischen Republik Kongo operierenden Forces Démocratiques de Libération du Rwanda, die "Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas", kurz FDLR genannt. Der harte Kern dieser Miliz rekrutiert sich aus Hutu-Extremisten, die 1994 aktiv am Genozid in Ruanda beteiligt waren und nach dem Völkermord in den benachbarten Kongo geflohen sind. Von dort aus versuchen sie, die von Tutsi geführte Regierung Ruandas zu stürzen.
Die eigentlichen Drahtzieher der Rebellenorganisation stehen derzeit in Stuttgart vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen, die Kriegsgräuel im Kongo von Deutschland aus gesteuert zu haben. Da sie zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung in Deutschland lebten, können sie vor einem deutschen Gericht angeklagt werden, obwohl sie ausländische Staatsbürger sind. So sieht es das Völkerstrafgesetz vor, das 2002 in Kraft trat. Der Prozess in Stuttgart ist der erste Prozess nach diesem Recht – und eine Mammutaufgabe: Selbst nach über 200 Verhandlungstagen ist das Ende des Verfahrens nicht absehbar. Auch in Düsseldorf ist ein Ende nicht in Sicht.
[Atmo Gerichtsgebäude] Schritte – "Hankel." – "Als Zeuge geladen?" – "Nee, Gutachter." – "Personalausweis. Alles, was Sie in den Taschen haben, hier rein." Taschenkontrolle etc.
Gerd Hankel ist Jurist und Sprachwissenschaftler sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Als ausgewiesener Kenner der Konfliktsituationen im Ostkongo und den Grenzbereichen zu den Nachbarländern Ruanda und Burundi wurde Gerd Hankel sowohl vom Düsseldorfer als auch vom Stuttgarter Gericht als Sachverständiger berufen:
"Es geht vor allem um Aufarbeitung. Es geht darum, dass man diese Verbrechen, die ja über Jahre, man kann schon sagen: Jahrzehnte, im Verborgenen stattgefunden haben, wo die Täterschaft auch nicht immer eindeutig war – mal waren es ruandische Hutu-Milizen, mal war es die kongolesische Armee, dann waren es Terrorkommandos der ruandischen Armee, das geht alles ineinander über. Und die Opfer möchten, dass diese Verbrechen thematisiert werden, dass die Verantwortlichen verurteilt werden, wobei die Strafhöhe sekundär ist. Das heißt, wir müssen etwas tun, wenn wir nicht unsere eigenen Prinzipien verraten wollen. Und aus diesem Verständnis heraus denke ich, ist das Führen dieser Prozesse wichtig und für unser Selbstverständnis – ja, notwendig."
Gerd Hankel war auch Gutachter im Völkermordprozess vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Dort wurde am 18. Januar 2011 der ruandische Ex-Bürgermeister Onesphore Rwabukombe beschuldigt, zu drei Massakern aufgerufen zu haben, bei denen über 3000 Menschen ums Leben kamen. Auch das Verfahren in Frankfurt ist ein Novum für die deutsche Justiz, denn zum ersten Mal wurde das so genannte „Weltrechtsprinzip" angewandt. Es besagt, dass Verbrechen wie Völkermord überall auf der Welt geahndet werden können – also auch in Deutschland. Im Verlauf des Prozesses musste das Gericht das Verfahren zu zwei Massakern mangels Beweisen einstellen. In dem noch verbliebenen Fall wurde Rwabukombe am 18. Februar 2014 mündlich zu 14 Jahren Haft verurteilt – nicht wegen Mittäterschaft, sondern wegen Beihilfe.
Gerd Hankel: "Für die Mittäterschaft gab es keine zweifelsfreien Belege. Er war dort, man weiß nicht genau, was er gemacht hat. Und da kann ich den Urteilsspruch in Frankfurt sehr, sehr gut verstehen, dass man dann sagt: In dubio pro reo."
"Im Zweifel für den Angeklagten." Auch Ruandas Botschafterin in Berlin, Christine Nkulikiyinka, sieht in dem Urteil "ein Stück Gerechtigkeit". Dieter Magsam ist dieses Stück zu klein. Der Hamburger Strafverteidiger leitete nach dem Genozid ein Projekt der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit zum Aufbau eines neuen Justizsystems in Ruanda. Im Frankfurter Völkermordprozess vertritt er die Nebenkläger. In seinem Schlussplädoyer, in dem er die Systematik und Dynamik des Genozids sezierte, wollte er eigentlich die Namen der getöteten Angehörigen seiner Mandanten vorlesen. Aber er schaffte es nicht, weil ihm die Tränen kamen:
"Ich hatte ja drei Mandanten, also drei Überlebende. Und die Toten, die quasi mit anwesend waren, das waren über 60 von diesen dreien, die alle bei einem Massaker nur erledigt worden sind. Das ist schon – da fehlen die Worte."
Alle Beteiligten des Prozesses haben Revision eingelegt: Die Bundesanwaltschaft pro forma, um das noch ausstehende schriftliche Urteil gegebenenfalls anfechten zu können; die Verteidigung plädiert auf Freispruch; die Nebenkläger wollen die Qualität des Verbrechens geklärt haben und plädieren auf Mittäterschaft.
Dieter Magsam: "Die sagen: Rwabukombe war ein Funktionsträger des Systems. Und wenn so jemand am Tatort ist, Leute dahin schaufelt mit seinem Gemeindefahrzeug, damit die Eltern – Gott weiß wer – umgebracht werden und auch noch auffordert 'Beeilt euch!"– das nur als Gehilfentätigkeit zu bezeichnen, da würde sich Fritz Bauer im Grab umdrehen."
Fritz Bauer: "Ich möchte wünschen, dass junge Menschen heute denselben Traum von Recht besäßen, den ich einmal hatte, und dass sie das Gefühl haben, dass das Leben einen Sinn hat, wenn man für Freiheit, Recht und Brüderlichkeit eintritt."
Fritz Bauer 1964. Als hessischer Generalstaatsanwalt spielte er eine entscheidende Rolle bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, die ohne seinen hartnäckigen Einsatz wohl nie zustande gekommen wären. Die von ihm angestrengten Verfahren führten außerdem ab Mitte der 60er-Jahre zu einer verstärkten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Insofern wäre Fritz Bauer sicherlich bestürzt darüber, dass die Mitverantwortung Deutschlands an dem Genozid in Ruanda in dem Völkermordprozess kaum zur Sprache kam. Obwohl UN-Beobachter und damit ihre Regierungen – auch die deutsche – spätestens Mitte April 1994 wussten, dass das systematische Abschlachten die Ausmaße eines Genozids annehmen würde, wurden die Massaker von den Vereinten Nationen offiziell als "Stammes-" oder "Bruderkrieg" heruntergespielt.
Dieter Magsam: "Man muss sehen, dass Gerichtsprozesse nach dem Völkermord immer die Folge davon sind, dass man den Völkermord nicht verhindert hat. Und die Frage muss eigentlich dahin gehen – gar nicht jetzt im Sinne von Schuldzuweisung, aber im Sinne von Verantwortung übernehmen, von Ursachen freilegen: Warum hat man da eine völkische Politik unterstützt, eine rassistische Politik? Warum hat man die Augen nicht aufgemacht? Das ist bis heute unbeantwortet. Wenn man in Europa diese Art von Strafprozessen führt, könnte man darüber nachdenken, für bestimmte Regionen der Welt Spezialzuständigkeiten zu schaffen. Wobei ich dafür plädieren würde, dass die Länder, die eine koloniale Vergangenheit mit diesem Konfliktgebiet haben, nicht der Gerichtsort wären. Das heißt zum Beispiel, dass man Ruanda-Prozesse in Finnland führt, das in Ländern zu machen, die dazu keine politischen Beißhemmungen haben."
Hans-Peter Kaul: "Wir können ja nicht die Welt verändern und können das Verhalten der Staaten nicht ändern. Internationale Zusammenarbeit und internationale Organisationen wie auch der Internationale Strafgerichtshof können nur so stark sein, wie die Vertragsstaaten ihn machen. Das ist das Entscheidende."
Hans-Peter Kaul ist seit 2003 Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Und der Internationale Strafgerichtshof wiederum – nach der englischen Abkürzung für International Criminal Court oft nur ICC genannt – ist das Kind von Hans-Peter Kaul. Er leitete die deutsche Delegation, die sich maßgeblich für das Rom-Statut einsetzte, auf dessen Grundlage das Weltgericht 2002 seine Arbeit aufnahm. Bisher wurde das Statut von 122 Staaten ratifiziert, darunter auch Deutschland. Nicht beigetreten sind unter anderem Israel, Syrien, Russland und die USA.
Die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs kann ohne Zweifel als ein Meilenstein der Rechtsgeschichte bezeichnet werden. Denn zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg war die Internationale Staatengemeinschaft bereit, die so genannten "Kernverbrechen" Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem ständigen Strafgerichtshof verfolgen und verurteilen zu lassen. Allerdings fungiert er nur als eine Art "Reservegericht". Das heißt, er greift erst ein, wenn der jeweilige Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, den Fall selbst zu verfolgen. Außerdem kann er nur auf dem Gebiet eines Vertragsstaates sowie gegen Bürger eines Vertragsstaates tätig werden. Über Ausnahmen von dieser Regel entscheidet der UN-Sicherheitsrat. Der Internationale Strafgerichtshof ist somit weit davon entfernt, eine globale Superstrafinstanz mit universeller Zuständigkeit zu sein.
Hans-Peter Kaul: "Zu einem Gerichtssystem gehören immer drei Teile. Einmal das materielle Recht – das Recht, welches angewandt werden soll. Zweitens Gerichte und drittens ein Zwangssystem, um diesem Recht notfalls auch Wirkung zu verleihen. Jeder in Deutschland weiß, dass das bei uns die Polizei ist. Die setzt die Haftbefehle um. Dieses Zwangssystem ist beim Internationalen Strafgerichtshof unterentwickelt. Als Ersatz hat man die Verpflichtung der Staaten zur Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof genommen. Und in der Tat: Unser Gericht ist zu 100 Prozent – wirklich zu 100 Prozent! – von wirksamer und zuverlässiger Zusammenarbeit der Vertragsstaaten abhängig. Das betrifft insbesondere Festnahmen. Und die Sache ist ganz einfach: Wenn es keine Festnahmen gibt, dann gibt es keine Strafverfahren. Und dann droht de facto Straflosigkeit. Das ist das Problem."
Klaus Rackwitz: "Nehmen wir mal Uganda, die erste Situation, wo vor Ort ermittelt worden ist 2004, 2005: Ermittler vom ICC wollen dahin fahren, der ganze ICC war eine Unbekannte. Und das schlichte Zulassen eines Fahrzeugs hat die Behörden vor fast unlösbare Probleme gestellt."
Auch Klaus Rackwitz ist ein Mann der ersten Stunde. Er hat die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs mit aufgebaut. Inzwischen ist er Verwaltungschef von Eurojust, der Justizbehörde der Europäischen Union mit Sitz in Den Haag – weshalb er, anders als etwa Vertreter der Bundesanwaltschaft, unbefangen über Ermittlungsprobleme in der internationalen Strafjustiz sprechen kann:
"Das war eine oder ist eine der größten Schwierigkeiten, dass Sie immer dann, wenn Sie neue Einsatzgebiete erkunden, wo sich Ermittlungen abspielen sollen, natürlich erst einmal mit den Menschen kommunizieren müssen. Nehmen wir die Sprache Fur, wird in Darfur gesprochen, hat ungefähr 6000 Wörter, wenn ich es richtig im Kopf habe, und viele Begriffe gibt es dort einfach nicht, die wir normal verwenden. Es gibt beispielsweise nicht die Unterteilung in Oberschenkel, Unterschenkel, Fuß und Knie. Es gibt einfach nur Bein oder Fuß. Und das Römische Statut verlangt von uns, dass wir die Schriften – die Anklageschriften insbesondere und alle anderen wichtigen Dokumente für die Verteidigung – in die Sprache übersetzen, die der Angeklagte versteht. Es gibt Gott sei Dank an westeuropäischen Universitäten viele Linguisten, die sich mit afrikanischen Sprachen beschäftigen. Und diese Leute muss man sich eben zu Freunden machen. Netzwerken ist ganz, ganz wichtig in diesem Geschäft."
Mittlerweile kann der Internationale Strafgerichtshof auf einen Pool von Dolmetschern für etwa 75 Sprachen zurückgreifen. Englisch und Französisch sind die beiden Arbeitssprachen. Aber auch diese gängigen Sprachen können ein Gericht vor eine Herkulesaufgabe stellen – zum Beispiel wenn sich im Stuttgarter FDLR-Prozess Anklage und Verteidigung über die korrekte Übersetzung von E-Mails aus dem Französischen ins Deutsche streiten oder wenn Dieter Magsam im Frankfurter Völkermordprozess seinen Mandanten erklären muss, was überhaupt im Gerichtssaal vor sich geht:
"Das ist eine zweifache Übersetzung. Das ist einmal vom Juristischen ins Alltägliche und dann halt noch mal in eine Sprache, die die Nebenkläger verstehen. In meinem Fall war das Französisch. Aber auch deren Französisch ist kein juristisches Französisch. Und dann zu vermitteln, was jetzt der Punkt ist und verständlich zu machen, was hier die Probleme sind, das ist schwierig gewesen."
Noch mühsamer gestaltete sich die Vernehmung solcher Zeugen, die in Ruanda hinter Gittern sitzen. Ihre Aussagen wurden per Videokonferenz in den Frankfurter Gerichtssaal geschaltet – was die Suche nach Wahrheit erheblich erschwerte: Mal brach die Leitung zusammen, weil in Ruanda der Strom ausfiel; mal widersprachen die Zeugen ihren früheren Aussagen, so dass der Eindruck entstehen musste, sie seien unter Druck gesetzt worden, den angeklagten Ex-Bürgermeister nicht zu belasten. Kein Wunder, dass die Verteidigung in solchen Verfahren immer wieder leichtes Spiel mit ihrer Behauptung hat, die Beweisführung sei nicht zweifelsfrei erbracht. Einige Verteidiger in den beiden FDLR-Prozessen, die namentlich nicht genannt werden möchten, meinten sogar, die Führung solcher Prozesse sei wegen der räumlichen und zeitlichen Distanz zum Tatort und zur Tat grundsätzlich eine "Anmaßung".
Klaus Rackwitz: "Damit erfüllen die nur die ihnen vom Gesetz zugewiesene Rolle. Die Beweislast liegt beim Ankläger; die Verteidigung muss eigentlich gar nichts tun. Aber warum fangen wir heute noch Kriegsverbrecherprozesse gegen NS-Straftatverdächtige an? Man kann das Strafrecht und das Strafrechtsprinzip nicht nach dem Motto 'leichte Beweise, gutes Verfahren; schwere Beweise, schlechtes Verfahren' abhandeln. Wenn das Legalitätsprinzip gilt, dann muss man sich diesen Schwierigkeiten stellen – ob es Übersetzungsprobleme oder andere Probleme gibt, spielt keine Rolle. Dass man diese Aufgabe jetzt annimmt und sie nicht einfach wegen Verfahrenshindernissen – nicht durchführbar, keine Zeit, kein Geld, keine Lust – dass das nicht mehr stattfindet, ist schon historisch.
Das Strafrecht kann nur das reflektieren und wiedergeben, was sich auch in der Zivilgesellschaft abspielt. Wenn das Steinigen von Ehefrauen in bestimmten Kulturen ein Allgemeingut ist, dann finden Sie es auch nicht im Strafrecht. Und deswegen muss die Mehrheit zunächst einmal feststellen: "Das ist ein Zustand, den missbilligen wir; und den missbilligen wir so stark, dass wir ihn unter Strafe stellen."
Michael Bothe: "Da muss man ein gewisses Maß an Optimismus haben. Wenn ich Pessimist wäre, hätte ich mich ganz bestimmt nicht spezialisiert auf Fragen von Krieg und Frieden."
Michael Bothe war bis zu seiner Emeritierung 2003 Professor für Völker- und Europarecht an der Frankfurter Goethe-Universität und ist Präsident der Internationalen Humanitären Ermittlungskommission. Die Kommission hat sich die unparteiische Untersuchung von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zur Aufgabe gemacht. Wie für Klaus Rackwitz, so spielt sich auch für Michael Bothe Strafjustiz, die sich mit den "Kernverbrechen" befasst, stets auf der Grenzlinie zwischen Politik und Recht ab:
"Der typische Kriegsverbrecher ist 'ein guter Kerl' in seiner Umgebung. Der tut etwas für sein Vaterland, indem er die schrecklichen anderen umbringt. Das braucht man nicht mit Blick auf Afrika oder Syrien zu sagen, das war ein Phänomen, was bei den deutschen Kriegsverbrechern genauso zu beobachten war. Also darf man sich keine Illusion über die abschreckende Wirkung von Strafrecht in diesem politisch leidenschaftlich besetzten Bereich machen. Es geht viel mehr um eine gesellschaftliche Heilung, auch um Entwicklung einer Kultur, die durch diese Prozesse möglich gemacht wird. Und darum sind diese Prozesse so wichtig. Aber abschrecken tun sie niemand."
Klaus Rackwitz: "Abschreckend ist für mich so gut wie kein Strafgericht. Wenn wir uns überlegen, in Deutschland sitzt ungefähr ein Promille der Bevölkerung im Gefängnis, in Amerika ein Prozent, also zehnmal mehr als in Europa, und die Strafen sind dort wirklich drakonisch bis hin zur Todesstrafe. Und ich sehe den abschreckenden Effekt dort nicht wirklich. Und internationale Gerichte in ihrem Bestreben, möglichst hohe Standards anzuwenden, wirken auch nicht immer sehr abschreckend. Es geht einfach darum, dass man diesen schönen Begriff 'rule of law' nicht nur in der Sonntagsrede vor sich herträgt, sondern dazu eben auch etwas tut."
Dass ein Strafverfahren nicht nur wegen seiner geringfügigen Abschreckung immer nur die zweitbeste Lösung sein kann, trifft nach Meinung von Klaus Rackwitz auch auf die FDLR-Prozesse in Stuttgart und Düsseldorf zu. Denn die Straftaten, die dort verhandelt werden, sind mit massiven wirtschaftlichen und politischen Interessen verknüpft: Es geht um den Stoff, aus dem Mobiltelefone oder Flachbildschirme sind – Coltan. Um die Vorherrschaft im Abbau und im Handel mit diesem Erz kämpfen seit Jahren die unterschiedlichsten Milizen gegeneinander, darunter auch die FDLR.
Klaus Rackwitz: "Solange in Deutschland kein einziges Handy ohne Rohstoffe aus dem Kongo funktioniert, denke ich, dass uns der Kongo durchaus etwas angeht. Nicht nur, weil es um wirtschaftliche Interessen geht, sondern weil wir uns zumindest dafür interessieren sollten, wie und wo die Menschen leben müssen, die uns diese Rohstoffe bringen. Es ist mittlerweile schick, dass wir Kaffee nur noch als 'fair trade' zu uns nehmen. Es wäre schön, wenn das bei seltenen Edelmetallen auch zur Praxis und Regel würde, dass man einfach gewisse Produkte nicht kauft, weil man sich mit den dahinter liegenden Umständen schlichtweg nicht identifizieren möchte."
Ein Boykott dieser Produkte ist zurzeit allerdings nicht absehbar. Von der Zivilgesellschaft kann Klaus Rackwitz in diesem Fall also nichts erwarten. Und wohl auch nicht von der Politik: Strenge und wirksame Regularien für europäische Firmen, keine Rohstoffe aus Konfliktgebieten mehr zu verwenden, scheut die EU-Kommission bislang. 20 Jahre nach dem Genozid in Ruanda warnt die UNO vor einem Völkermord in der Zentralafrikanischen Republik. Gleichzeitig gleitet ihr jüngstes Mitglied Südsudan in einen blutigen Bürgerkrieg ab, der einem Genozid nahe kommt.
Internationale Strafgerichte können kaum mehr als eine Handvoll der Verbrechen ahnden, die weltweit begangen werden. Dabei fällt auf, dass sich der Internationale Strafgerichtshof seit seiner Existenz ausschließlich mit Verbrechen befasst, die auf dem afrikanischen Kontinent verübt wurden. Das brachte und bringt ihm immer wieder den Vorwurf der Selektivität ein. Dies vor allem, nachdem 2006 der damalige Chefankläger, der Argentinier Luis Moreno Ocampo, ein dringendes Ersuchen ablehnte, Ermittlungen gegen britische Soldaten wegen Ermordung und Folterung von irakischen Zivilisten einzuleiten.
Michael Bothe: "Und da kann man, wenn einem das irgendwie gegen den Strich geht, eigentlich nur eines tun: systematisch unbequem sein. Das ist eine Frage des Kampfes gegen die Straflosigkeit. Denken Sie an die Frage des Umgangs mit Abu Ghraib, wo eine Strafanzeige vorlag, nämlich gegen den damaligen amerikanischen Verteidigungsminister, der deswegen dann seine Anreise zur Sicherheitskonferenz nach München krankheitshalber abgesagt hatte. Und nachdem die Einstellungsverfügung da war, wurde er ganz plötzlich gesund und kam also nach München. Das war ein Fall, wo man sich über die juristischen Einzelheiten sehr streiten kann, aber die politische Hemmschwelle, dass wir keine Neigung haben, gegen den Verteidigungsminister eines befreundeten Staates ein Strafverfolgungsverfahren einzuleiten, hat sicherlich eine Rolle gespielt."
Wolfgang Kaleck: "Bei Rumsfeld war es so, dass mir immer wieder die Frage gestellt wurde: „Hast du denn ernsthaft erwartet, dass in der Bundesrepublik ein Verfahren gegen den amtierenden oder ehemaligen Verteidigungsminister der USA eingeleitet werden würde?" Dann sagen wir immer: „Warum nicht? Macht euch doch mal frei! Das hat in den vorigen Jahrhunderten auch eine Weile gedauert, dass auch Mächtige in unserer Gesellschaft vor Gericht stehen können!"
Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt. Von 2004 bis 2008 leitete er gemeinsam mit dem New Yorker Center for Constitutional Rights Strafverfahren gegen US-Militärs ein, darunter auch gegen Donald Rumsfeld. 2007 gründete er mit anderen international tätigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights. Am 10. Januar 2014 sorgte das Center für Schlagzeilen, als es in Zusammenarbeit mit einer britischen Anwaltsfirma dem Weltgericht in Den Haag ein politisch hoch brisantes Dossier unterbreitete: In rund 400 Fällen sollen britische Soldaten irakische Häftlinge schwer misshandelt und gefoltert haben.
Wolfgang Kaleck: "Einzelne Folterfälle der 400 oder 500, die wir da vorgebracht haben, mögen strittig sein. Aber dass es mehrere hundert Folterfälle gegeben hat, steht zweifelsfrei fest. Es sind wirklich erbärmliche Geschichten. Aber es sind auch Geschichten, die klar machen: Das ist ein Systemversagen. Und für Systemversagen stehen diejenigen, die das System angeführt haben, also die obersten Militärführer, Verteidigungsminister, Verteidigungsstaatssekretär. Und da gibt es im Internationalen Recht nicht nur die Variante, dass jemand dafür strafbar gehalten werden kann, der etwas getan hat, der etwas befohlen hat oder auch selber mit Hand angelegt hat, sondern es gibt auch die Vorgesetztenverantwortlichkeit. Das muss auch langsam mal durchsickern! Es ist sicherlich nicht falsch, zu den Sachverhalten zu ermitteln, die im Moment Gegenstand von Verfahren in Den Haag sind. Aber es müssten weitere Verfahren betrieben werden. Und das ist halt zum Teil schmerzhaft."
Hans-Peter Kaul: "Diese große Anzeige ist eine harte Nuss für die Staatsanwaltschaft. Und ich bin mal gespannt, was dabei herauskommt."
Hans-Peter Kaul, Richter am Internationalen Strafgerichtshof: "Es färbt ja auch auf diese Anzeige ab, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, dass es bis heute eine internationale Diskussion darüber gibt, ob Bush und Blair nicht ohne jede Rechtfertigung einen Krieg gegen den Irak angefangen haben. Jeder weiß, es gab keine Massenvernichtungswaffen, wie behauptet; jeder weiß, es gab keine Verbindungen zu Al Qaida, wie behauptet; jeder weiß, es gab keine Sicherheitsratsresolution; jeder weiß, dass der Rechtfertigungsgrund von Selbstverteidigung überhaupt nicht in Betracht kam. Das ist sehr, sehr nahe an einem Aggressionsverbrechen."
Gerd Hankel: "Aus Gründen der Systematik kann ich so ein Verfahren nur befürworten, um zu sagen: 'Ja, die Europäer sind nicht selbstgerecht, sie kehren auch vor der eigenen Haustüre und kümmern sich um eigene Straftaten.' Insofern ist das richtig."
Gerd Hankel vom Hamburger Institut für Sozialforschung:
"Aber man kann ja auch aus einer guten Haltung heraus, indem man sich jetzt mit Volldampf auf Großbritannien stürzt, etwas anderes, was meiner Meinung nach viel, viel dringender wäre, vernachlässigen. Wie zum Beispiel den Kongo, wo wahrscheinlich sogar Millionen Menschen umgekommen sind, unmittelbar oder als Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen – und es spricht niemand darüber, weil man seine Statthalter vor Ort braucht, um den Kongo, der reich an Bodenschätzen ist, ausbeuten zu können. Und dann möchte man nicht mit solchen unangenehmen Strafverfahren kommen."
Wolfgang Kaleck: "Es ist eine Frage der Legitimation: Gleiches Recht für alle. Recht ist das Gegenteil von Willkür und Einzelfallmaßnahme. Die Legitimation, in die Rechte von Menschen einzugreifen, sie vor Gericht zu stellen, sie zu verurteilen, diese Legitimation bezieht man daraus, dass das Recht einen Universalitätsanspruch hat. Also dass bei gleichem Sachverhalt das Recht in der gleichen Weise reagiert. Und das ist leider nicht der Fall."
Trotz dieser ernüchternden Bilanz, weiß auch Wolfgang Kaleck, dass es für die schlimmsten Verbrechen, die die Menschheit kennt, keine Alternative zum Internationalen Strafrecht gibt. Denn nur das Internationale Strafrecht stellt einen Referenzrahmen her, auf den sich Kläger immerhin weltweit beziehen können.
Wolfgang Kaleck: "Es ist eine sehr junge Entwicklung. Und was ich an den Bilanzierungen vermisse: ein Denken in historischen Dimensionen. Gerade die Nürnberger Prozesse haben es doch gezeigt! Was konnte die bundesdeutsche Gesellschaft mit den Nürnberger Prozessen anfangen? Nichts. Und erst Mitte der 60er-Jahre mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt ist da überhaupt etwas aufgebrochen. Der war ja im Grunde genommen juristisch auch das, was man heute so schroff 'Misserfolg' nennen würde. Auf der anderen Seite haben sich dann der Peter Weiss und wie sie alle heißen schriftstellerisch, künstlerisch damit auseinandergesetzt. Und das waren für uns alle, die in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind, bedeutende Referenzpunkte für unser Geschichtsbewusstsein. Und wenn man das im eigenen Land so erlebt hat, dann sollte man irgendwie auch klug genug sein zu sehen, dass das in anderen Ländern ähnlich passieren kann."