Im O-Ton: So begründet der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki die polnische Justizreform: "Die nationalen Identitäten zu respektieren ist für das Vertrauen in die EU lebenswichtig – und jeder EU-Mitgliedsstaat hat das Recht, sein Justizsystem entsprechend seiner Tradition zu gestalten! In unserem Obersten Gericht arbeitet so mancher Richter, der während des Kriegsrechts die niederträchtigsten Urteile gegen Mitglieder der Solidarnosc-Bewegung gefällt hat. Und heute sitzt so jemand in diesem, auch von Ihnen verteidigtem Obersten Gericht. Die Wahrheit ist: der Kommunismus ist bis heute nicht durch uns besiegt worden. Und wir bekämpfen ihn, indem wir unser Justizsystem reformieren."
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Alte Helden im Kampf für Demokratie
Mit einer Herabsetzung des Rentenalters für Richter könnte die polnische PiS-Regierung ihren Einfluss auf die Rechtssprechung im Land vergrößern. Die zwangsverrentete Oberste Richterin Malgorzata Gersdorf warnt vor einem "schrecklichen Werkzeug".
Die polnische Opposition hat es schwer im eigenen Land. An Solidarität internationaler Rückstars mangelt es ihr nicht. Nachdem schon Bono von U2 und Talking Heads-Gründer David Byrne einen neuen Freiheitskampf der polnischen Nation ausgemacht haben wollen, spielte auch Mick Jagger im Warschauer Nationalstadion Anfang Juli auf die sogenannte Justizreform in Polen an, konkret auf die umstrittene Zwangspensionierung führender Richter des Landes. Beim Konzert der Rolling Stones in Warschau rief er Anfang des Monats zunächst auf Polnisch von der Bühne herab:
"Ich bin zu alt, um Richter zu sein. Aber jung genug, um zu singen. Vor langer Zeit waren wir in Polen, 1967. Es war großartig. Und ich hoffe, ihr haltet an dem fest, was ihr seither gelernt habt."
Die Justizgesetze der nationalkonservativen PiS-Regierung sind wieder weltweit im Gespräch. Vor etwa einem Jahr waren es Massenproteste dagegen, die weltweit Schlagzeilen machten. Jetzt gibt es viel weniger Protest, aber die Umsetzung der Gesetze selbst schafft es in die Schlagzeilen.
Der Verfassungsbruch wird offenbar
Zwar sind viele davon längst in Kraft. Doch mit der Zwangspensionierung der obersten Berufungsrichterin Malgorzata Gersdorf und deren Widerstand dagegen, fließt in einer Person plötzlich alles bildlich zusammen und wird auch der Verfassungsbruch offenbar. Denn die sechsjährige Amtszeit der Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts ist in der Verfassung ohne Wenn und Aber garantiert. Noch im vergangenen November erklärte sie im Sejm:
"Ich bin nie Politiker gewesen. Ich habe keine politische Beredsamkeit. Ich verteidige die Unabhängigkeit der Gerichte, und ich möchte auch die Herren Abgeordneten darauf hinweisen, dass das System, dass Sie hier einführen wollen, mit einer parteiischen Besetzung des Obersten Gerichts, auch Sie treffen wird, wenn Sie nicht mehr an der Macht sind. Es ist ein schreckliches Werkzeug."
Werdegang einer robusten Streiterin
Die Warschauerin, Jahrgang 1952, hat sich nicht gedrängt, zum aktuell präsentesten Symbol des Widerstands gegen die PiS-Regierung zu werden; sie wurde auch dazu, weil die politische Opposition so blass ist. Die junge Malgosia wuchs auf im Stadtteil Zoliborz. Im selben Hof spielten die drei Jahre älteren Kaczynski-Zwillinge Lech und Jaroslaw. Man kannte sich, aber der Altersunterschied war für Freundschaften zu groß, erzählte sie in einem Interview.
Dem einen, dem damaligen Staatspräsidenten Lech Kaczynski, begegnete sie Jahrzehnte später wieder, denn er war es, der sie an das Oberste Gericht berief. Dem anderen, Parteichef Jaroslaw Kaczynski, der radikalere der Zwillinge, steht sie heute im Weg. Denn sie nahm die Zwangspensionierung nicht hin und erschien Anfang Juli demonstrativ zur Arbeit.
"Ich möchte sagen, der Posten des Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts, wird, unabhängig davon, wer ihn innehat, von der Verfassung festgelegt. Er unterliegt somit keiner Diskussion und keinen Gesetzen. Daher ist es für mich nicht von Bedeutung, dass das Gesetz das Rentenalter für Richter verändert hat. Das ist meine Stellungnahme dazu."
Rückfall in die Unrechtsjustiz?
Rückblende: Als vor Jahresfrist die Proteste gegen die Justizpolitik in Polen zu eskalieren drohten, legte Staatspräsident Duda überraschend sein Veto ein – und versprach, die Reform mit eigenen Vorschlägen zu verbessern, damit sie weniger polarisiere. Die nachträgliche Senkung des Richter-Rentenalters war dann sein Vorschlag – ursprünglich war die Absicht gewesen, die Top-Richter des Landes auf direktem Wege zu entlassen.
Ein anderer Schlenker, dasselbe Ergebnis, so das Echo der juristischen Fachöffentlichkeit: Die Unabhängigkeit der polnischen Justiz bleibe bedroht. Der Expertenausschuss des Europarats befand, mit diesen Gesetzen falle Polen sogar noch hinter die Unrechtsjustiz der Kommunisten zurück.
Ein Jahr später aber, als Dudas Gesetz trotz aller Proteste Wirkung zeigt, tut der Präsident plötzlich so, als habe er mit dem De-Facto-Rauswurf der höchsten Richter nichts direkt zu tun:
"Ich will mit aller Kraft betonen, dass es keine 'Entscheidung' des Präsidenten ist. Darüber entscheidet das Gesetz. Die Richter gehen einfach in den Ruhestand über, und damit sind bestimmte, mit dem Gesetz übereinstimmende Aktionen verbunden."
Die Lage ist verwirrend
Aktionen freilich, die bislang erstaunlich vage blieben, hat Duda doch eine Schlüsselrolle. Bislang hat der Staatspräsident keine neuen Richter berufen, geschweige denn einen neuen Gerichtspräsidenten.
Erstaunen rief auch hervor, dass er seine Zustimmung zu einer Personalentscheidung von Frau Gersdorf signalisierte, die sie unmittelbar vor ihrer Verrentung verkündete. Sie erklärte den dienstältesten Richter-Kollegen Jozef Iwulski zu ihrem Vertreter für die nahe Urlaubszeit. Geht in Ordnung, ließ Duda danach über einen Mitarbeiter verlauten. In der Präsidentenmaschine kam es dann zu dieser Szene mit einem polnischen Journalisten:
Duda: Den Posten des ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts, der in den Ruhestand getreten ist, übt jetzt der dienstälteste Richter Jozef Iwulski aus.
Journalist: Aber er fühlt sich nicht als Vorsitzender, sondern als Urlaubsvertreter von Frau Gersdorf.
Duda: Dann muss er umdenken.
Journalist: Aber er fühlt sich nicht als Vorsitzender, sondern als Urlaubsvertreter von Frau Gersdorf.
Duda: Dann muss er umdenken.
Noch verwirrender: Der von der PiS-Mehrheit im Parlament bereits umbesetzte, für die Richterwahl zuständige "Landesjustizrat" schickte Iwulski und andere Richter inzwischen endgültig in den Ruhestand. Mehrere Richter, darunter auch Iwulski, hatten unter Verweis auf die Verfassung gegen ihre Verrentung Einspruch eingelegt. Der Landesjustizrat wies dies in seinem Fall einstimmig zurück.
"Da wurde eine Atombombe ins Gericht geworfen"
Zahlreiche Richterstellen sind inzwischen unbesetzt, das Gericht kaum noch arbeitsfähig: Das berichtet Richter Stanislaw Zablocki, auch er gehört zu jenen Richtern, die sich wie die Gerichtspräsidentin gegen ihre Verrentung stellen und weiter im Gericht arbeiten:
"Im Obersten Gericht bemühen wir uns zu arbeiten, wie wir bisher gearbeitet haben. Aber es ist klar, die Bedingungen seit Juli letzten Jahres sind nicht einfach, damals wurde eine Atombombe in das Gericht geworfen, es sollte das Gericht binnen kürze nicht mehr geben. Allein in meiner Kammer sind in letzter Zeit fünf Richter abhanden gekommen. Seit meiner Ernennung zum Kammerpräsidenten fehlen elf. Es gibt nicht weniger Verfahren, aber ein Drittel Richter weniger."
Tiefe Eingriffe in die Rechtsprechung möglich
Das Oberste Gericht Polens als höchste Berufungsinstanz des Landes wurde nach der Wende, anders als andere polnische Gerichte, neu besetzt. Es kontrolliert unter anderem die Rechtmäßigkeit von Wahlen, etwa auch der Europawahl im nächsten Jahr.
Jenseits der allseits diskutierten Personalfrage sehen die Justizgesetze auch den Aufbau völlig neuer Kammern vor, mit denen tief in die Rechtsprechung eingegriffen werden soll. Eine aus neuen Richtern aufgebaute Disziplinarkammer soll gegen Kollegen anderer Instanzen vorgehen, letztinstanzliche Urteile noch Jahre später aufgehoben werden können.
Gersdorf ist Vollblut-Juristin, keine Rednerin
Gegen all das steht jetzt vor allem die Gerichtspräsidentin. Aber Malgorzata Gersdorf eignet sich nicht als Volkstribun. Ihre Art ist bedächtig, ihre Welt die des Rechts, nicht der kämpferischen Reden. Ihr Vater war Anwalt und Experte für Genossenschaftsrecht. Zu Hause habe es geschwirrt vor Rechtsdiskussion, Juristen seien ein- und ausgegangen. Sie habe immer selbst den Beruf ergreifen wollen, sagte sie in einem Interview. Vor Jura-Studenten in Warschau, am Vorabend ihrer Zwangsverrentung, erzählte sie:
"Was bleibt dem Präsidenten der höchsten Instanz übrig, dem die Kadenz rechtswidrig verkürzt wurde? Er hat nichts als Worte. Aber er kann nicht 'apolitisch' in dem Sinne bleiben, dass die Einhaltung der Verfassung selbst zu einer politischen Frage wurde.
"Der demokratische Nachkriegskonsens steht in Frage"
Zur Oppositionsanführerin macht sie das dennoch nicht: Dass man für ihr Gehalt von rund 2000 Euro in Warschau mehr schlecht als recht leben könne, diese Worte wurde Gersdorf lange nachgetragen. Und als sie bei den Protesten gegen die Justizgesetze mit einer Grabkerze in der Hand gesehen wurde, sagte sie später nach Kritik ungelenk, sie habe das Symbol für eine sterbende Justiz in die Hand gedrückt bekommen.
Andererseits – wenn die Regierung behauptet, es gehe ihr darum, korrupte und alt-kommunistische Richter zu beseitigen, dann stimmt das für Gersdorf nicht: in der sozialistischen Volksrepublik blieb sie unauffällig, arbeitete als Justizangestellte und an der Universität. Ihre Karriere als Richterin startete erst nach der Wende.
"Wie ist es dazu gekommen, dass wir heute von einer Krise des Rechtsstaates in Polen sprechen können? Der historische Augenblick, in dem sich nicht nur Europa, sondern die ganze Welt befindet, ist die tiefere Ursache für die Situation in Polen. Das wirtschaftliche Zentrum verschiebt sich, der demokratische Nachkriegskonsens steht in Frage. Werte werden bagatellisiert; die europäischen Gesellschaften fühlen sich betrogen, gefährdet. In einer solchen Situation kommen extreme Kräfte zu Wort."
Opposition im Aufwind dank Jagger
Die Stellungnahme Mick Jaggers auf dem Konzert in Warschau Anfang Juli gab der Opposition im Land etwas Aufwind – aber der Kampf erlaubt kein Unentschieden. Und am längeren Hebel sitzt die PiS-Partei.
Schon will sie erneut die Regeln ändern: Bei der Wahl eines neuen Gerichtspräsidentin müssen künftig viel weniger Richter anwesend sein als zuvor. Und Anfang des Monats gewährte PiS-Parteichef Kaczynski im Interview mit dem rechtsgerichteten Wochenblatt "Sieci" einen tiefen Einblick in das, was ihn, den eigentlichen Drahtzieher der polnischen Politik, antreibt. Bei der Justizreform gehe es um alles oder nichts:
"Wenn wir sie nicht durchführen, haben alle anderen Reformen keinen Sinn. Bei der Justiz, wie wir sie haben, würde alles früher oder später negiert und verworfen werden."