Justizreform in Polen

Angst vor juristischem Chaos

Demonstranten vor einem Gebäude, an das ein Text projiziert wurde.
Demonstranten haben das Urteil des polnischen Verfassungsgericht mit einem Beamer an das Gebäude des Ministerrats in Warschau projiziert. © WOJTEK RADWANSKI / AFP
Von Florian Kellermann |
Der Streit zwischen dem polnischen Verfassungsgericht und der Regierung geht weiter. Unterstützt wird das Verfassungsgericht jetzt vom Obersten Gerichtshof. So könnten zwei unterschiedliche Rechtsräume entstehen - und im schlimmsten Fall ein Bürgerkrieg drohen.
Das polnische Verfassungsgericht ist nicht mehr allein in seinem Streit mit der Regierung. Inzwischen haben sich die Richter des Obersten Gerichtshofs an die Seite der Verfassungshüter gestellt. In einem Beschluss heben sie hervor, dass die Urteile des Verfassungsgerichts rechtliche Wirkung haben, obwohl die Regierung sie weiterhin nicht veröffentlicht.
Dariusz Swiecki, Sprecher des Gerichtshofs:"Wenn das Verfassungsgericht erklärt, dass ein Gesetz der Verfassung widerspricht, dann sollten die allgemeinen Gerichte das auch berücksichtigen. Wenn sie das Recht auslegen, sollten sie also beachten, dass Gesetze, die vom Verfassungsgericht verworfen wurden, nicht mehr als verfassungskonform gelten dürfen."
Politischer Sprengstoff
Diese Haltung des Obersten Gerichtshofs klingt ein wenig rechtstheoretisch, birgt aber enormen politischen Sprengstoff. Davon zeugen die Reaktionen aus dem Regierungslager.
So sagt Beata Mazurek, die Fraktionssprecherin der rechtskonservativen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit", kurz PiS, über das Kollegium des Obersten Gerichtshofs:
"Im Grunde hat sich da eine Gruppe von Kumpanen getroffen, um den Status quo zu verteidigen, wie er unter der Vorgängerregierung geherrscht hat. Ihre Stellungnahme führt dazu, dass sich Anarchie breit macht. Sie heizen den Konflikt um das Verfassungsgericht weiter an und wollen es uns unmöglich machen, zu regieren. Das können wir nicht hinnehmen."
Parallele Justizwelten
Denn, wenn sich allgemeine Gerichte überall in Polen tatsächlich an das Verfassungsgericht halten, entsteht nicht einfach ein rechtliches Chaos. De facto entstehen dadurch zwei parallele polnische Rechtsordnungen, wie Experten warnen. Die beiden juristischen Welten driften immer weiter auseinander, je mehr Gesetze das Verfassungsgericht verwirft. Denn die Regierung und damit die staatliche Verwaltung erkennt die Urteile des Gerichts nicht an. Sie geht davon aus, dass die neu beschlossenen Gesetze gelten. Die Gerichte dagegen urteilen auf Basis der alten Rechtslage.
Die Folgen reichten bis in den Alltag hinein, erklärt Grzegorz Osiecki, Experte der Tageszeitung "Dziennik":
"Nehmen wir das Gesetz, das es Polizisten erlaubt, Autofahrern sofort den Führerschein zu entziehen, wenn sie die zulässige Geschwindigkeit überschreiten. Gegen dieses Gesetz liegt eine Verfassungsbeschwerde vor. Wenn das Verfassungsgericht das Gesetz verwirft, wird die Polizei es trotzdem anwenden, und Gerichte können das wiederum für gesetzeswidrig erklären."
Finanzielle und gesellschaftliche Folgen
Der Status anderer Gesetze, die noch wichtiger sind, könnte bald ebenso unklar werden. So will die Opposition das neue Gesetz über den Verkauf von Ackerland vor das Verfassungsgericht bringen. Wenn es dort scheitert, von der Landwirtschaftsagentur aber weiter angewandt wird, dürften erhebliche Schadenersatzklagen auf den Staat zukommen.
Damit nicht genug: Die neuen Gesetze der PiS-Regierung werden womöglich in manchen Teilen des Landes angewendet und in anderen nicht. Einige Kommunen, wo Oppositionsparteien am Ruder sind, wollen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts folgen, darunter Warschau und Lodz.
Der für seine markanten Formulierungen bekannte rechtspopulistische EU-Abgeordnete Janusz Korwin-Mikke entwirft ein düsteres Szenario:
"Schwer zu sagen, wie das zu Ende geht, womöglich mit einem Bürgerkrieg. Wenn die einen sagen, dass etwas gilt - und die anderen, dass es nicht gilt, dann kann es da keinen Kompromiss geben. Ich fände es nicht schlecht, wenn das Militär eingreifen und die Akteure beider Seiten einsperren würde."
Sie sei weiterhin zu Kompromissen bereit, erklärt die polnische Regierung, und verweist auf einen neuen Gesetzentwurf, der die Arbeit des Verfassungsgerichts regeln soll. Er gehe auf die Empfehlungen der Venedig-Kommission ein, die das ursprüngliche Gesetz kritisiert hatte. Die Opposition will darüber gar nicht erst sprechen: Erst einmal solle die Regierung die jüngsten Urteile des Verfassungsgerichts im Amtsblatt veröffentlichen, damit sie in Kraft treten und sie dann auch umsetzen, fordern Oppositionsparteien.
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