Spurensuche, Hommage, Schicksalsmelodie
Kaddisch ist das jüdische Gebet für die Verstorbenen. Es hat viele Künstler tief bewegt und inspiriert. Auch die Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die Komponistin Mela Meierhans und der Geiger Daniel Hope verbinden ganz persönliche Erfahrungen damit.
Katja Petrowskaja: "Das Wort Kaddisch hab ich zufälligerweise ungefähr mit 16 aus einem Lied von Aleksandr Galic, so ein ganz berühmter Sänger und Chansonnier, gehört. Er hatte so einen Zyklus über Janusz Korczak. Und sein Lied heißt Kaddisch – und das war das erste Mal, als ich das Wort hörte."
Kaddisch kommt aus dem Aramäischen und bedeutet heilig. Im Judentum ist es ein Lobpreis auf Gott, eine Aufzählung von Namen für das Unbenennbare. Es strukturiert den Gottesdienst und verbindet die unterschiedlichen Teile der Liturgie.
Kaddisch verbindet auch die Familiengeschichte der Schriftstellerin Katja Petrowskaja mit dem Schicksal des Schriftstellers und Pädagogen Janusz Korczak. Korczak leitete in Warschau eine jüdische Waisenschule. Ähnlich wie Petrowskajas Vorfahren, die Ende des 19. Jahrhunderts Taubstummenschulen für jüdische Waisenkinder in Wien, Warschau und Kiew gründeten. In ihrem Roman "Vielleicht Esther" begibt sich Petrowskaja auf Spurensuche, um die Herkunft der eigenen Familie zu entschlüsseln.
"Ich habe über meine Tante geschrieben – aber ich habe sie immer als Russin verstanden. Und ich meine, das sind zwar Menschen jüdischer Herkunft, aber sie hatten keine Sprache, hatten Jiddisch nicht gekannt und ich hab über diese Tante geschrieben und hab plötzlich gespürt, ich komm in so einen Sog und wirklich irgendwelche Rhythmus spricht aus mir und ich erzähle, wie sie alles vergessen hat oder verschwiegen hat, also wirklich ein schweigendes Wesen, was nichts wusste und kannte, sondern nur diente."
Zitat aus "Vielleicht Esther":
Sie verschwieg alles, ihre frühere Schönheit, ihre Belesenheit, sie verschwieg alles, im Dienst ihres Mannes, eines Kriegshelden, eines siebenmal Durchschossenen, eines der schönsten unter den Helden, sie verschwieg ihre Krankheiten und Sorgen, ihre Lehrmethoden, ihre zunehmende Taubheit, wenn sie in die Küche ging und zurück, sie verschwieg die Geburtstage der Toten, die Geburtstage der Getöteten, die sie jahrzehntelang feierte, allein,...
Sie verschwieg alles, ihre frühere Schönheit, ihre Belesenheit, sie verschwieg alles, im Dienst ihres Mannes, eines Kriegshelden, eines siebenmal Durchschossenen, eines der schönsten unter den Helden, sie verschwieg ihre Krankheiten und Sorgen, ihre Lehrmethoden, ihre zunehmende Taubheit, wenn sie in die Küche ging und zurück, sie verschwieg die Geburtstage der Toten, die Geburtstage der Getöteten, die sie jahrzehntelang feierte, allein,...
Katja Petrowskaja: "Und dann merkte ich, ich hab das Wort 'allein' geschrieben. Später merkte ich, es kommt aus einer Bach-Arie, die ich im Chor als Kind gesungen habe. Das bedeutet, diese ganze Sequenz über verlorenes Judentum, über Vergessenheit kommt durch Bach. Und dieses Wort 'allein' kommt plötzlich im Text über eine Tante, die mit Bach und meinem Singen und diesem ganzen Christentum null zu tun hatte. Und so kommt es im Schreiben, wenn man jemanden ehren möchte, denkt man, das ist, das war das Gebet."
Zitat aus "Vielleicht Esther":
Als sie erwachsen wurde und dann alt, wartete sie immer noch, und irgendwann wurde sie stumm, weil sie verstand, dass sie taub wurde, und sie ging zurück zu ihren taubstummen Kindern, die sie ihr ganzes Leben lang unterrichtet hatte.
Als sie erwachsen wurde und dann alt, wartete sie immer noch, und irgendwann wurde sie stumm, weil sie verstand, dass sie taub wurde, und sie ging zurück zu ihren taubstummen Kindern, die sie ihr ganzes Leben lang unterrichtet hatte.
Kaddisch Jatom, das Kaddisch der Waisen ist abgeleitet aus der Danksagung des Schülers an seinen Lehrer. Aus Respekt beschließt der Schüler seine Lehrstunde mit dem Lobpreis auf Gott und verleiht so seinem neu erworbenen Wissen den Stempel einer höheren Autorität. Irgendwann steht der Schüler am Grab des verstorbenen Lehrers und bedankt sich ein letztes Mal. Das Gelehrtengebet wird zum Trauergebet des verwaisten Schülers.
"Taubstumme in diesem System, in diesen jüdischen Gemeinden waren eigentlich die unglücklichsten. Schimon aus Wien, er hat die erste solche Schule in Wien gegründet. Er brachte Kindern das Sprechen bei, damit sie gehört wurden, sonst galten sie seinen Glaubensbrüdern als geisteskrank, denn Verstand und Vernunft, so dachten sie damals, sitzen in der gesprochenen Sprache. Es bedeutet, wer gehört wird, gehört dazu. So dieses berühmte 'Schmah' Israel'. Es ist nicht so wichtig zu hören, es ist viel wichtiger, gehört zu werden von Gott. Und dieses Dokument hat mich wirklich sehr berührt – ich hab das durch eine Übersetzung erfahren, dass in der Schule von Schimon ein erwachsener Taubstummer gewesen war. Er hat ungefähr in drei, vier Jahren die Sprache erlernt, also die Lautsprache, obwohl er komplett taubstumm war und dann ist er zum Friedhof gegangen in Wien, wo sein Vater begraben wurde und hat Kaddisch gesprochen."
In elf Trauermonaten wird Kaddisch drei Mal täglich mit der Gemeinde gebetet. Es soll die Seele des Verstorbenen auf ihrem Weg ins Paradies begleiten. Obwohl Janusz Korczak die Möglichkeit zur Flucht hatte, verließ er seine Waisenkinder nicht und begleitete sie aus dem Warschauer Ghetto ins Vernichtungslager Treblinka.
"Janusz Korczak hat ein Buch geschrieben 'Gebete für Ungläubige' – und das sind Gebete für verlorene Mütter, für einen Hooligan oder so und das ist genau, was meine Suche war: Wie erinnert man sich, wie behält man etwas, was man sich nicht einmal anschauen kann – und ich meine jetzt Katastrophen des 20. Jahrhunderts – wenn man schlicht und einfach nicht richtig gläubig ist. Und ich weiß nicht, ob jemandem die Religion geholfen hat, tatsächlich zu verstehen, was passiert ist und noch mehr, das zu akzeptieren. In gewisser Weise hab' ich erst, als ich mit dem Buch fertig geworden bin, verstanden, dass es auch so eine Suche war nach einem Ritual, nach einem Gebet, nach einem Kaddisch vielleicht, obwohl ich nicht wirklich wusste, was Kaddisch ist."
Mela Meierhans: "Eigentlich hätte sie ja das Libretto geschrieben, dann wär's nochmal ganz anders gewesen. Sie ist aber gestorben. Dann hab ich ein gelbes Mäppchen gefunden, mit alten unveröffentlichten Gedichten von ihr und da nehm' ich die raus und dann ist da oben das hebräische Alphabet und dann fängt das an mit Kaddisch und dann war's einfach gelaufen. Und dann hört man Anne so aus dem Jenseits, die war irgendwie da und hat richtig gelacht."
Gedicht "aleph" (Anne Blonstein):
kaddish of petals and perfumes and perhaps'
Names that scintillate names slightly profound
In a temporal lobe of blue gyrations
kaddish of petals and perfumes and perhaps'
Names that scintillate names slightly profound
In a temporal lobe of blue gyrations
"Kaddisch von Blütenblättern, Düften und vielleicht Namen" – so beginnt "aleph" – ein unveröffentlichtes Gedicht der englischen Lyrikerin Anne Blonstein. Es stammt aus ihrem Zyklus "dangerous skin".
Persönliche Totenklage für befreundete Dichterin
Die Schweizer Komponistin Mela Meierhans hat ihn in ihrer Jenseitstrilogie vertont: "Shiva for Anne" ist eine Hommage an die Dichterin jüdischer Herkunft, mit der Meierhans über 20 Jahre zusammen gearbeitet hat. 2011 stirbt Anne Blonstein an Krebs. "Shiva for Anne" wird zur persönlichen Totenklage für die befreundete Dichterin.
Gedicht "aleph"(Blonstein):
ends as beginning exceeds the message
escapes between hormone and receptor
not laid with a wreath of wilting citations
distinguish how much glue intoxicates the lines
ending in beginnings the storydweller
rests on the memory of a reply
ends as beginning exceeds the message
escapes between hormone and receptor
not laid with a wreath of wilting citations
distinguish how much glue intoxicates the lines
ending in beginnings the storydweller
rests on the memory of a reply
Die Anfangsbuchstaben der Zeilen ergeben die Worte "kniender Engel" – der Titel eines Bildes von Paul Klee. Der Engel bei Klee – ein Zwitterwesen zwischen sakralem Ernst und irdischer Ironie – symbolisiert das Anliegen beider Künstlerinnen, religiöse Formen künstlerisch frei zu interpretieren. Blonsteins Gedichte tragen hebräische Buchstaben als Titel. Meierhans vertont diese mit Zwölftonreihen, die sie aus den ersten zwölf Buchstaben des hebräischen Alphabets ableitet.
"Es gibt hinter jedem Gedicht, also, wenn man das nur schon sieht: 'petals and perfumes and perhaps' und dann geht's um dieses p und p und nochmals p. Also wenn ich das lese, 'kaddish of petals and perfumes and perhaps' dann bin ich einfach schon am Komponieren, das ist einfach so unglaublich. So und dann kommt der 'glue' und 'intoxicates the lines' –, also die Bibel ist ja mit Leim zusammengemacht, das heißt, das hat ganz sicher auch mit dem Kaddisch, mit der Thora, mit der Bibel zu tun."
Meierhans geht es darum Verbindungen herauszustellen. Wie fügen sich Buchstaben zu Wörtern, Wörter zu Zeilen? Und wie wird daraus Musik, die Menschen einander näher bringt?
"Und das ist, glaube ich das, was mich so sehr mit dem Judentum, mit der Philosophie, sag ich jetzt mal, des Judentums verbindet: diese immer wieder Neulesung. Man muss das immer neu definieren und diskutieren und das ist eben der Komposition, der zeitgenössischen Komposition sehr sehr nahe."
Mit "Shiva for Anne" erforscht die Atheistin Mela Meierhans das jüdische Trauerritual als Kompositionsform. Gleichzeitig trauert sie um ihre Freundin Anne Blonstein und sucht eine persönliche Form des Gedenkens.
"Ich möchte an einem ganz zentralen Thema die Religion mal von einer anderen Seite her zeigen, nämlich als ein auch mögliches verbindendes Element. Also, was verbindet uns eigentlich? Sterben müssen wir alle."
Daniel Hope: "Dieser Begriff ist mir begegnet – ich glaube, ich war sieben oder acht Jahre alt – und zwar über die Musik, über Maurice Ravel. Und zwar über die Aufnahme von Yehudi Menuhin. Und ich hörte dieses Stück, wusste nicht, was das war, wusste auch nicht, was ein Kaddisch war, aber diese Musik hat mich nicht mehr losgelassen, so dass ich meinen Vater gefragt habe, was ist das? Und dann hat er mir das erzählt, es ist Musik von Maurice Ravel, aber es ist ein Kaddisch, es ist ein Gebet – ja, mehr als ein Gebet, es ist ein Nachruf vom Sohn zum Vater im Prinzip, und dass das Maurice Ravel vertont hatte."
Für den Geiger Daniel Hope bedeutet Ravels "kaddish" eine Schicksalsmelodie, die entscheidende Wendungen seines Lebens begleitet hat. Hope wächst im Haushalt des legendären Geigenvirtuosen in London auf. Menuhin wird Hopes Mentor und legt den Grundstein für dessen eigene Karriere. Später stehen sie bei vielen Konzerten gemeinsam auf der Bühne.
"Als ich 1999 auf Tournee mit Menuhin war, suchte ich nach einem Stück, was ich als Zugabe spielen konnte nach dem Violinkonzert von Johannes Brahms. Und ich hatte dann am letzten Abend, das war in Düsseldorf, einfach diesen Einfall, ich würde diesen Kaddisch spielen, sozusagen als Grußbotschaft an Menuhin. Und an dem Abend kam er mit mir, hat mich nochmal vorgestellt zum Publikum und dann ging er in die ersten Geigen, die Platz gemacht haben, und setzte sich hin. Also er war sozusagen da, mit auf der Bühne. Und das hab ich irgendwie als Zeichen genommen, ich mache jetzt was anderes und dieses Kaddisch kam mir in den Sinn und so hab ich ihm das dann gewidmet und gespielt."
Die Violine hat die Gesangstimme ersetzt, der aramäische Text weicht einem Lied ohne Worte.
"Es ist eine universelle Sprache"
"Und er war sehr gerührt und auch sehr glücklich, dass ich das gespielt habe. Was ich nicht wusste, war, dass er ein paar Tage später hier in Berlin sterben würde. Und das war das letzte Konzert, was er je gegeben hat. Und das war, wenn man so will, mein ungewollter Abschied von ihm."
Seit Menuhins Tod spielt Daniel Hope seine ganz eigene Version des Kaddisch – pur, ohne Begleitung.
"Es kommt noch hinzu für mich, dass die Art der musikalischen Völkerverständigung, die Ravel damit erreicht hat, einfach großartig ist und er zeigt eine Faszination und einen Respekt zum jüdischen Glauben, die für einen nicht jüdischen Menschen besonders sensibel ist. In diesem Moment sind solche Statements und solche Gefühle größer als die jeweiligen Religionen für mich. Es ist eine universelle Sprache."
Das Kaddisch ist eine der Säulen, auf denen die Welt ruht, sagt der Talmud: "Erhoben und geheiligt werde sein großer Name" ist also mehr als ein Lobpreis, es ist ein Gebet, in dem es um Erhöhung, vor allem aber um Erhörung geht. Für Daniel Hope erweitert sich das Kaddisch vom persönlichen Bekenntnis zum politischen Statement. 2010 wird er von der deutschen Bundesregierung eingeladen, auf der Gedenkfeier anlässlich der Befreiung von Auschwitz zu spielen.
Hope im Bundestag: "Ich möchte es gerne meinen beiden Urgroßvätern widmen: Wilhelm Valentin und Clemens Klein. Beide haben Deutschland industriell sowie kulturell maßgeblich geprägt und beide wurden Opfer der Nazis."
"Es gibt großes Pathos und große Schwere dabei und es gibt große Wahrheit dabei. Und das ist es auch, was das für mich persönlich so bewegend macht. Das war der Grund, warum ich es auch für den Bundestag ausgesucht habe. Weil da war es eine sehr persönliche Widmung an meine beiden Urgroßväter, die hier in Berlin gelebt haben, und die beide ihre jüdischen Wurzeln so komplett verleugnet haben. Die hätten einen solchen Stolz gehabt, ihren Urgroßenkel da im Reichstag zu hören. Aber mir war es sehr wichtig, die jüdische Seite meiner Familie zu versöhnen und wieder zurückzubringen, weil der jüdische Teil von meiner Existenz enorm ist und enorm wichtig für mich. Es sind so viele Paradoxen sowieso in meiner Familie und in meiner Familiengeschichte. Aber dieses Kaddisch vereint – oder nicht vereint, sondern es ist ein Trost, ja ein Trost."