Kadhem Khanjar

Lyrische Alltagsschilderungen aus einem verwüsteten Land

Der irakische Lyriker Kadhem Khanjar bei einer Performance in einem Minenfeld: Er hält ein Blatt Papier hoch, auf dem ein Gedicht steht, das er gleich beim Rennen durch das Minenfeld vorlesen wird. Er blickt herausfordernd in die Kamera.
Der irakische Lyriker Kadhem Khanjar bei einer Performance in einem Minenfeld © Screenshot Vimeo / TAPIN2
Von Julia Tieke |
Kadhem Khanjar zählt zur neuen Generation irakischer Schriftsteller. Mit dem Kollektiv "Kultur-Miliz" trat der Lyriker auch im europäischen Ausland auf. Unsere Autorin hat mit ihm über den Alltag im Irak und sein Schreiben darüber gesprochen.
Das Telefon klingelt. Ein freundlicher Mann geht im Irak an sein Handy, der Autor Kadhem Khanjar. Der Ton ist schlecht, aber markiert so die Distanz zwischen Deutschland und dem Irak. Weniger die geographische, als vielmehr die im Alltag.

"Wir leben wie die Untoten"

"Das normale Leben hier? Es ist eine fortwährende Verwüstung, eine Müllkippe", sagt Khanjar. "Das nimmt kein Ende. Wir leben wie die Untoten. Untote, die morgens zur Arbeit gehen und abends nach Hause zurückkehren. Die Gesellschaft ist instabil, am Ende, ziellos. Das führt dazu, dass Du langsam stirbst, weil Du mit ihnen lebst, in dieser Gesellschaft."
Khanjar ist 27 Jahre alt und lebt in der Provinz Babel, nicht weit von Bagdad, in der Region des antiken Babylon, wo Gott laut altem Testament die Sprache der Menschen vervielfältigte. Kadhem Khanjar nennt sich auf Facebook "Rabb Attafaha", der "Gott der Banalität":
"Das ist jemand, der unwichtig ist, eine beinahe ordinäre, billige Person, die keinerlei Bedeutung hat. Ich beschreibe so meine Gefühle, weil ich hier machtlos bin. Es liegt an dem Ort, an dem ich lebe. Ich drehe mich im Kreis und alles ist vermint mit Mullahs, Bärten, Schwertern und Waffen. Es ist ein langes Elend."

Lesungen auf Friedhöfen und im Krankenwagen

Vor drei Jahren gründete Khanjar mit befreundeten Autoren in Babel die Kultur-Miliz. Sie lasen ihre Texte auf Friedhöfen, in Krankenwagen und Leichensäcken oder mit orangener Gefangenenkleidung in einem Käfig des so genannten Islamischen Staats und filmten sich dabei für's Internet.
"Wir hatten es satt, über den Blick aus dem Fenster zu schreiben oder über Wolken. Wir müssen auf das Blut der jungen Leute hinweisen, die jeden Tag zu Dutzenden oder Hunderten auf der Straße sterben und deren Leichen unauffindbar sind."
In einem dieser Videos ruft Kadhem Khanjar während er über ein Minenfeld läuft, das die Amerikaner 2003 hinterlassen haben: "Diejenigen, die töten, haben Angst vor dem Tod. Darum können sie sich nicht vorstellen zu sterben. Sie können es sich nicht vorstellen."
Am Telefon erklärt er: "Wir haben also versucht, etwas Neues zu machen, Poesie-Performances. Inzwischen machen das viele im Irak oder in arabischen Ländern. Sie gehen an die Orte des Geschehens. Man geht also zum Baum, anstatt über ihn zu schreiben. Man geht zum Massker, anstatt nur darüber zu schreiben."

Auslandsauftritte in Frankreich und der Schweiz

Es sind spektakuläre Bilder, die bis heute Berichte über Kadhem Khanjar dominieren. Dabei hat sich die Kultur-Miliz längst aufgelöst und ihre Mitglieder verfolgen eigene, persönliche Projekte. Eines seiner Gedichte lautet so:
"Das Mädchen ist aus dem Haus gegangen.
Seiner Mutter sagte es: Ich werde auf der Straße spielen.
Der Tod ist aus dem Haus gegangen.
Seiner Mutter sagte er: Ich werde auf der Straße spielen.
Seit Jahren spielen sie auf der Straße.
Sie jagen einander.
Das Mädchen fängt den Tod.
Und der Tod fängt das Mädchen.
Abends
Kehrt jeder glücklich mit dem anderen zur Mutter zurück."
Kadhem Khanjar hat Theater studiert und unterrichtet Schauspiel. Er ist mit seinen Texten mehrfach in Europa aufgetreten, vor allem in Frankreich und der Schweiz. In seinen Poesie-Performances dort reißt er Buchseiten aus, oder er schneidet Papierfiguren die Köpfe ab.

Vielleicht erscheinen seine Gedichte bald auf Deutsch

"Ich selbst lebe nur damit ich schreibe. Es interessiert mich, Situationen zu beobachten und aufzuschreiben. Ich betrachte das Leben jenseits der üblichen aufgeklärten Sichtweise. Ich bin gegen die Vorstellung, dass ein Schriftsteller oder Intellektueller eine revolutionäre Rolle einnehmen muss. Ich bin dafür, dass ein Autor beobachtet und schreibt und durch seine Sprache zeigt, worum es geht."

"Ich habe Angst", kommentierte ein Leser im Internet die Literatur Khanjars, "dass eine Kugel aus dem Buch kommt und mich tötet."
Vor einem Jahr erschien eine zweisprachige Gedichtsammlung von ihm auf Arabisch und Französisch, "Der Bluthändler". Gerade hat ein Verlag aus Deutschland seine Texte angefragt – mit etwas Glück kann man den Gott der Banalität bald auch auf Deutsch lesen.
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