Kämpferin für die Naturgesetze
Der Untertitel ist hier wörtlich zu nehmen: In ihrem Roman erzählt Judith Schalansky aus dem tristen Leben einer müden mecklenburgischen Biologielehrerin - und bringt dem Leser nebenbei auf einfühlsame Weise die Naturgesetze bei.
Die Geschichte beginnt mit "Naturhaushalte", wobei es sich hier um die einer neunten Schulklasse handelt, in der die langgediente Lehrerin Frau Lohmark einmal mehr die altbekannten Typen Heranwachsender und das blöde Artverhalten Pubertierender erkennt. Der erste Schultag nach den Ferien, die strenge Biologielehrerin betrachtet die Schüler, die sich über den Sommer verändert haben:
"Folgsame Mädchen verwandelten sich in hysterische Biester und aufgeweckte Jungs in phlegmatische Proleten. Hinzu kam das plumpe Erproben der Partnerwahl. Nein, originell war die Natur nicht. Aber gerecht. Es war ein krankheitsähnlicher Zustand. Man konnte nur abwarten, dass er vorüberging."
Die Pädagogin hat keine Sympathie für diese "gedächtnislosen Wesen". Sie hat keine Lieblinge, kein Bedürfnis nach Nähe oder Anerkennung. Die berufliche Zukunft liegt sowieso hinter ihr, ihre Schule wird mangels Schülermasse abgewickelt und aufgelöst. Diese Tatsache kann auch der aus dem Westen, gleich nach der Wende importierte Direktor, nicht schönreden. Über der ganzen Schule, über dem Kollegium, über all den mecklenburgischen Dörfern, in denen der Schulbus die Schüler morgens aufsammelt, scheint eine Art Mehltau zu liegen. Nichts bewegt sich, die Zukunft liegt hinter der Region.
Das letzte Kapitel dieses Romans ist "Entwicklungslehre" überschrieben, und da geht es unter anderem um das Zentralnervensystem, um Infektionen und Fluchtverhalten. Frau Lohmark, die kühle Verfechterin des frontalen Unterrichts, infiziert sich mit einem seltsamen Sympathievirus. Plötzlich ist ihr eine der Schülerinnen nicht mehr gleichgültig, plötzlich bekommt ihr souveräner Unterrichtsstil Risse von Empathie und Irrationalismus. Das ändert nichts an ihrem Leben, in dem es ebenso wenig Liebe gibt wie in ihrem Klassenzimmer. Ihr Mann züchtet Strauße, die er offenbar mehr schätzt als seine Frau, die Tochter lebt in Amerika und teilt ihre Hochzeit auf einer albernen Karte mit.
Judith Schalansky erzählt vom Leben einer Naturwissenschaftlerin, deren Verstand - vor und nach der Wende - jede Gefühlsregung nivelliert. Sie zeichnet das Bild einer unsympathischen Frau allerdings so eindringlich, dass man heftige Sympathie für diese aus der Zeit gefallene Heldin empfindet, die sich für Tiere stets mehr interessierte als für Menschen oder gar Kinder. Sie ist eine Kämpferin für die Naturgesetze, deren Einhaltung sie nicht retten kann. Auch der Lauf der Natur folgt nämlich durchaus irrationalen Regeln. Das einzusehen, fällt der Biologielehrerin schwer, die jedoch an diesem Bildungsroman nicht zu letzt ihre Freude wegen der Illustrationen hätte, die die Autorin in die Geschichte einfließen lässt: Dass und wie die Mendelschen Vererbungsgesetze funktionieren sieht man hier etwa auf einer ganz und gar hinreißenden Kuh-Seite.
Besprochen von Manuela Reichart
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Ein Bildungsroman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
222 Seiten, 21,90 Euro
Links bei dradio.de
Eine Lange Nacht über literarische Reisen
Traum vom Land, wo die Zitronen blühen
Judith Schalansky: "Atlas der abgelegenen Inseln"
"Folgsame Mädchen verwandelten sich in hysterische Biester und aufgeweckte Jungs in phlegmatische Proleten. Hinzu kam das plumpe Erproben der Partnerwahl. Nein, originell war die Natur nicht. Aber gerecht. Es war ein krankheitsähnlicher Zustand. Man konnte nur abwarten, dass er vorüberging."
Die Pädagogin hat keine Sympathie für diese "gedächtnislosen Wesen". Sie hat keine Lieblinge, kein Bedürfnis nach Nähe oder Anerkennung. Die berufliche Zukunft liegt sowieso hinter ihr, ihre Schule wird mangels Schülermasse abgewickelt und aufgelöst. Diese Tatsache kann auch der aus dem Westen, gleich nach der Wende importierte Direktor, nicht schönreden. Über der ganzen Schule, über dem Kollegium, über all den mecklenburgischen Dörfern, in denen der Schulbus die Schüler morgens aufsammelt, scheint eine Art Mehltau zu liegen. Nichts bewegt sich, die Zukunft liegt hinter der Region.
Das letzte Kapitel dieses Romans ist "Entwicklungslehre" überschrieben, und da geht es unter anderem um das Zentralnervensystem, um Infektionen und Fluchtverhalten. Frau Lohmark, die kühle Verfechterin des frontalen Unterrichts, infiziert sich mit einem seltsamen Sympathievirus. Plötzlich ist ihr eine der Schülerinnen nicht mehr gleichgültig, plötzlich bekommt ihr souveräner Unterrichtsstil Risse von Empathie und Irrationalismus. Das ändert nichts an ihrem Leben, in dem es ebenso wenig Liebe gibt wie in ihrem Klassenzimmer. Ihr Mann züchtet Strauße, die er offenbar mehr schätzt als seine Frau, die Tochter lebt in Amerika und teilt ihre Hochzeit auf einer albernen Karte mit.
Judith Schalansky erzählt vom Leben einer Naturwissenschaftlerin, deren Verstand - vor und nach der Wende - jede Gefühlsregung nivelliert. Sie zeichnet das Bild einer unsympathischen Frau allerdings so eindringlich, dass man heftige Sympathie für diese aus der Zeit gefallene Heldin empfindet, die sich für Tiere stets mehr interessierte als für Menschen oder gar Kinder. Sie ist eine Kämpferin für die Naturgesetze, deren Einhaltung sie nicht retten kann. Auch der Lauf der Natur folgt nämlich durchaus irrationalen Regeln. Das einzusehen, fällt der Biologielehrerin schwer, die jedoch an diesem Bildungsroman nicht zu letzt ihre Freude wegen der Illustrationen hätte, die die Autorin in die Geschichte einfließen lässt: Dass und wie die Mendelschen Vererbungsgesetze funktionieren sieht man hier etwa auf einer ganz und gar hinreißenden Kuh-Seite.
Besprochen von Manuela Reichart
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Ein Bildungsroman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
222 Seiten, 21,90 Euro
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