Hermann Kesten: Dichter im Café
ars vivendi Verlag, Cadolzburg 2015
371 Seiten, 19,90 Euro
Literarische Treffpunkte in funkelnden Städten
Mit "Dichter im Café" entführte der Schriftsteller Hermann Kesten die deutschen Leser 1959 in die Welt der Kaffeehäuser, die er gemeinsam mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Anna Seghers und Irmgard Keun bevölkerte. Die Neuauflage zeigt, dass sie Sehnsuchtsorte geblieben sind.
Hermann Kesten (1900-1996), ein im habsburgischen Galizien geborener Jude, war einer der wenigen Emigranten, die nach 1945 in die Bundesrepublik eine große Rolle spielten. Er galt als homme de lettres und unterstützte zunächst als viel Älterer die jungen, kritischen Autoren vor allem der Gruppe 47.
Doch es kam zu politischen Auseinandersetzungen, weil der in den USA geprägte Liberale, der gleichzeitig aber deutlich antikommunistisch war, mit den diffusen Vorstellungen eines Sozialismus in der frühen Bundesrepublik nichts anfangen konnte. Dennoch galt der früh als Vertreter der "Neuen Sachlichkeit" bekannte Kesten, der im Exil viele Schriftsteller unterstützt hatte, als große moralische Autorität. In den 70er-Jahren war er für vier Jahre Präsident des bundesdeutschen PEN-Zentrums.
Bildungsgesättigt und weltläufig
In den 50er-Jahren hatte er vor allem mit leichthändig geschriebenen, bildungsgesättigten und weltläufigen Essays und Erinnerungen Erfolg: "Meine Freunde, die Poeten" (1953), "Der Geist der Unruhe" (1959) und "Dichter im Café" (ebenfalls 1959). Wenn der fränkische, rührige Kleinverlag ars vivendi nun die "Dichter im Café" in seiner neuen "Edition moderne fränkische Klassiker" vorlegt, ist das eine schöne Referenz – Kesten wuchs als Sohn eines Kaufmanns in Nürnberg auf.
Sein für die 50er-Jahre aufschlussreiches Panoptikum "Dichter im Café" versammelt all das, was man damals vermisste und wonach man sich sehnte: literarische Treffpunkte in funkelnden Städten wie Paris, London, Rom und natürlich auch Wien. Daran wollten sich die Bundesbürger damals orientieren: am Glanz und der bürgerlichen Kultur des Westens. Und sie wurde vorgeführt von einem Kenner, der geeignet schien, eine Brücke zu schlagen.
Ein "Wartesaal der Poesie"
Das Kaffeehaus definiert Kesten als einen "Wartesaal der Poesie", und wenn er die Szenerie beschreibt, wie er mit Anna Seghers und Irmgard Keun in den 30er-Jahren im Pariser Exil im "Rotonde" sitzt und alles beobachtet, wirkt das alles atmosphärisch dicht und ruft indirekt die unmittelbar zurückliegende Zeitgeschichte ins Bewusstsein. Aber es scheint den zeitgenössischen Lesern im Deutschland Adenauers vor allem auch ein Angebot zu machen: Schließt euch an, widmet euch wieder der internationalen Kultur!
Kestens Café-Prosa ist aber nicht bloß aktuelles Feuilleton, sie ist in erster Linie Geschichtsunterricht. Im Paris-Kapitel taucht er tief ins aufklärerische 18. Jahrhundert ein, in London rückt er mythische literarische Gestalten wie Daniel Defoe und Jonathan Swift ins Rampenlicht, und in Rom feiert er die Via Veneto, die zeitgleich mit dem Erscheinen von Kestens Buch im Film "La dolce vita" den Brennpunkt des Geschehens bildete. Dasselbe gilt für das "Café Flore" in Paris, wo in dieser Zeit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir saßen – und auch Hermann Kesten, der sich 1959 aber vor allem zurück nach den alten Zeiten sehnt. Wir Heutigen indes sehnen uns ins Café Flore des Jahres 1959 zurück und sind damit mitten im Kern von Kestens Buch.