"Franz Kafka. Der ganze Prozess"
Martin-Gropius-Bau, Berlin
30. Juni bis 28. August 2017
Spektakuläre Einblicke in den Kopf eines Autors
Rauschhafte Schreibzustände, völliges Eintauchen in den Stoff – so hautnah wie noch nie kann man Franz Kafkas Arbeit an "Der Prozess" jetzt in einer Ausstellung sehen, so der Kafka-Biograf Reiner Stach. Das Originalmanuskript des berühmten Romans ist erstmals als gesamtes Werk zu sehen.
Ute Welty: Josef K. steht vor Gericht. Er ist sich keiner Schuld bewusst, er erfährt auch den Grund der Anklage nicht, und am Ende steht die Hinrichtung. 1925 wird Franz Kafkas Roman posthum veröffentlicht. Und als der ganze "Prozess" wird ab heute das ganze Manuskript im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen sein.
Das ist eine bisher einmalige Gelegenheit in dieser Form für die Öffentlichkeit. Ein wahrer Kafka-Kenner ist der Literaturwissenschaftler Reiner Stach. Seine Kafka-Biografie umfasst drei Bände, mehr als 3.000 Seiten. Und Reiner Stach hat 18 Jahre lang daran gearbeitet. Guten Morgen, Herr Stach!
Reiner Stach: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie aufgeregt waren Sie, als Sie dieses Manuskript zum ersten Mal in Händen hatten? Denn Sie haben es ja schon gesehen und eben auch anfassen dürfen.
Stach: Ich bin eigentlich kein Fetischist, wenn es um Originale geht, muss ich sagen. Mir kommt es mehr auf den Inhalt als die Form an. Aber als ich diesen Stapel Papier direkt vor mir liegen hatte, über den schon unendlich viel veröffentlicht worden war, das war schon ein Moment, wo man schon die Gänsehaut gespürt hat, ja.
Originalmanuskript offenbart die spontane Arbeitsweise Kafkas
Welty: Was macht die Faszination aus?
Stach: Zunächst mal, das ist einer der einflussreichsten Romane der Weltliteratur, vielleicht einer der fünf einflussreichsten. Und nicht nur jetzt auf Literatur bezogen, sondern Theaterleute haben sich davon inspirieren lassen, Kinoleute und so weiter. Aber dann auch die Schönheit dieses Manuskripts.
Ich weiß nicht, ob Sie die Handschrift schon mal gesehen haben? Sie ist sehr schön und auch sehr gut lesbar, was für Schriftsteller ja nicht selbstverständlich ist – manche können ihre eigene Schrift nicht mehr lesen.
Dann vor allem kann man sehen, wie Kafka gearbeitet hat. Das ist sehr ungewöhnlich. Viele Autoren arbeiten ja so, dass im Kopf eigentlich schon alles fertig ist, wenn sie zu schreiben beginnen, und dann ist das Manuskript nicht so interessant.
Aber wenn jetzt jemand so spontan arbeitet wie Kafka, dann kann man die Sofortkorrekturen sehen. Man kann sehen, wie er zurückschreckt vor einem Einfall und ihn durchstreicht. Man kann auch sehen an dem Manuskript, wie er sich selbst erregt bei bestimmten Szenen, mit denen er sich sehr stark identifiziert.
In der Hinrichtungsszene schreibt Kafka plötzlich "Ich" statt "Er"
Welty: Woran erkenne ich das?
Stach: Sie erkennen es zum Beispiel daran, dass ihm Fehler passieren. Auf der letzten Seite ist ja eine ganz schreckliche Szene, die Hinrichtung. Und da schreibt er plötzlich "ich" statt "er". Das ist unglaublich. Das ist ein handwerklicher Fehler größten Ausmaßes, würde man bei einem durchschnittlichen Autor sagen, in einem Roman, der in Er-Form geschrieben ist, hat das Wort "ich" nichts zu suchen, und das unterläuft Kafka.
Welty: Sind das Punkte, die man auch als Nicht-Literaturwissenschaftler erkennt, wenn man durch die Ausstellung geht?
Stach: Man muss natürlich sich schon ein bisschen Zeit nehmen, um auch etwas zu lesen, das ist ja klar. Das ist unvermeidlich. Es sei denn, man hat einen Führer dabei, der einen auf bestimmte Stellen dann explizit hinweist.
Je mehr man weiß, das muss ich zugeben, je mehr man über Kafka weiß, desto mehr sieht man, was in diesen Blättern passiert ist, was in diesem Arbeitsprozess genau passiert ist, das ist klar. Ein bisschen Anleitung wäre natürlich dann schon ganz gut.
Aus "gefangen" im allerersten Satz wurde "verhaftet"
Welty: Und im Zweifel sollte man Ihre Biografie lesen?
Stach: Nein, nicht unbedingt. Das wäre jetzt wirklich ein bisschen viel verlangt. Nein, man muss einfach mal sich vor allem die Korrekturen Kafkas anschauen, die sind wirklich sehr interessant. Das geht übrigens schon im allerersten Satz los. Der erste Satz ist ja sehr berühmt, der von der Verhaftung handelt und der angeblichen Unschuld.
Und im ersten Satz schreibt Kafka zunächst mal, dass der nicht verhaftet war, sondern er war "gefangen", plötzlich war Josef K. gefangen. Und in dem Moment hat sich Kafka wahrscheinlich überlegt, wenn ich das stehen lasse, dann weiß jeder Leser sofort, das ist nicht real, weil im alltäglichen Leben, im zivilen Leben wird man ja nicht gefangen. So was passiert höchstens im Krieg. Nein, Kafka wollte, dass der Leser von Anfang an glaubt, es handelt sich hier um eine reale Story, und deswegen hat er es ersetzt durch das Wort "verhaftet".
Fehlleistungen offenbaren Kafkas "hohe Identifikation" mit der Story
Welty: Wir erfahren eine Menge über den Schriftsteller Kafka, wenn wir uns dieses Manuskript anschauen, aber was erfahren wir über den Menschen Franz?
Stach: Wie ich schon sagte, man sieht schon, dass er sich sehr identifiziert hat mit der Story, die er beschreibt. Das sieht man an den Fehlleistungen, man sieht es auch an der Schrift. Manchmal wird die Schrift dann hektisch, wenn er sich sehr erregt.
Es passiert ihm, dass er aus Versehen "F.K." schreibt, seinen eigenen Namen. Also statt "F.B.", das ist die Fräulein Bürstner, schreibt er mehrmals aus Versehen "F.K.". Und da sieht man wirklich, in seinem Kopf ist das alles völlig real. Das ist wie ein sehr intensiver Tagtraum.
Man kann schon an solchen Details sehen, welcher Rauschzustand das gewesen sein muss. Er ist völlig abgetaucht. Er hat das ja auch beschrieben im Tagebuch, welches wunderbare Gefühl das ist, so abtauchen zu können. Das hat in dem Manuskript viele Spuren hinterlassen.
Schreiben erzeugte Endorphine - wie bei einem Marathonläufer
Welty: Schreiben als Droge?
Stach: Ja, unbedingt. Das hat die Endorphine bei ihm sehr angeheizt, so wie bei anderen Leuten vielleicht der Marathonlauf. So muss man sich das vorstellen. Das ist natürlich – das kennt man auch von Komponisten zum Beispiel, die beim Komponieren von Musik in solche Zustände geraten.
Welty: Das Manuskript wurde 1988 gemeinsam von der Bundesregierung und der Kulturstiftung der Länder und dem Land Baden-Württemberg auf einer Londoner Auktion für 3,5 Millionen Mark erworben, damals ein absoluter Höchstpreis. Wie ist es überhaupt auf diese Auktion gekommen?
Ein Literaturkrimi: Die zweimalige Rettung des Manuskripts durch Max Brod
Stach: Max Brod hat ja das Manuskript gerettet. Er hat es sogar zweimal gerettet. Einmal wollte ja Kafka, dass alles verbrannt wird, was sich in seinem Nachlass an unfertigen Werken befindet. Dann hat es Max Brod vor den Nazis gerettet, 1933. Dann hat er allerdings den Fehler gemacht, er hat es den falschen Erben sozusagen vermacht.
Und seine Erbin hatte nichts Besseres zu tun, als es nicht etwa an ein Archiv zu geben, sondern sie hat es auf eine Auktion gegeben und hat damit eben in Kauf genommen, dass es in Privatbesitz kommt. Das wäre ja auch beinahe passiert, wenn nicht diese Aktion gestartet worden wäre, die Sie eben angeführt haben, dass eben mehrere Institutionen und auch noch private Spender sich zusammengetan haben, um dieses Manuskript zu retten davor, dass es eben in irgendeinem privaten Tresor verschwindet. Da haben wir großes Glück gehabt. Das ist mit anderen Kafka-Manuskripten eben so nicht geglückt.
Welty: Auch das eine Geschichte für ein eigenes Buch, glaube ich.
Stach: Das ist ein eigener Krimi. Das geht jetzt schon seit hundert Jahren so.
Welty: Literaturwissenschaftler und Kafka-Biograf Reiner Stach anlässlich der Ausstellung "Der ganze Prozess" im Martin-Gropius-Bau. Ab heute ist das Manuskript von "Der Prozess" von Franz Kafka zu sehen. Herr Stach, ich danke sehr für dieses Gespräch!
Stach: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.