Kafka ist für alle da

Von Jürgen König |
Groß war die Sorge, Kafkas Brief-Nachlass könnte in alle Welt verstreut und zum Objekt von Spekulanten werden. Doch das Deutsche Literaturarchiv Marbach und die Bodleian Library der Universität von Oxford wollen die Autographen nun gemeinsam kaufen - und für Leser und Forscher zugänglich machen.
Wem gehört Kafka?, fragte die Philosophin Judith Butler vor kurzem in der "London Review of Books". Der Direktor des Marbacher Literaturarchivs, Ulrich Raulff, gibt eine Antwort:

"Kafka gehört nicht dem Kunstmarkt, er gehört nicht einer einzelnen Kulturnation, er gehört nicht einer politischen oder religiösen Gemeinschaft, sondern er gehört der Welt der Literatur, der Welt der Leser, der Welt der Forschung."

Das werden - angesichts einer verworrenen Rechtslage - viele anders sehen, zumal in Israel, wo die Nationalbibliothek um die Rechte am Kafka-Nachlass kämpft, den Kafkas Freund Max Brod 1939 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in einem Koffer aus Prag zunächst nach Palästina gebracht hatte. Teile davon schickte er - vor der drohenden Suez-Krise - 1956 in die Schweiz an die Überlebenden der Kafka-Familie. Drei der Enkel Ottla Kafkas haben nun die 111 Briefe und Karten, die Franz Kafka an seine Lieblingsschwester Ottla schrieb, verkauft: an zwei Eigentümer, das Deutsche Literatur Archiv Marbach und die Bodleian Library der Universität von Oxford – wo das Konvolut der Autographen seit 1970 schon deponiert war.

Groß war der Druck gewesen, die Autographen in eine Versteigerung zu geben, Mindestgebot 500.000 Euro. Und groß war die Angst, dass am 19. April, dem Auktionstag, die Briefe als Konvolut versteigert und dann einzeln in alle Welt weiterverkauft worden wären – für alle Zukunft unauffindbar.

"Kafkas Nachlass wird, so weit uns das in diesem Augenblick möglich ist, vor der Verstreuung bewahrt und wird davor bewahrt, zum Spekulationsobjekt zu werden. Zweitens: Bodleian und Marbach unterstreichen durch dieses Zusammengehen ihre Verantwortung für diesen kostbaren Bestand, aber auch ihre Kompetenz; und drittens: das ist wissenschaftspolitisch ein Novum, dass in dieser Weise über Ländergrenzen hinweg kooperiert wird."

Die privaten, sehr privaten Briefen Franz Kafkas an seine Schwester Ottla werden nun in Marbach aufbewahrt und gezeigt, den englischen Miteigentümern stehen sie zur Verfügung. Strahlende Gesichter allenthalben, bei Ulrich Raulff vom Marbacher Literaturarchiv wie bei
Richard Ovenden von der Bodleian Library.

"Wir in Oxford sind hocherfreut über die Möglichkeiten dieser Zusammenarbeit in Zukunft: Ausstellungen und Veröffentlichungen; die Digitalisierung, der Austausch von Wissenschaftlern – unsere Studenten lieben Marbach, es ist ein wunderbarer Ort zum Lernen und wir hoffen, dass es reichhaltigen und vielfältigen Austausch geben wird."

Über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart. Der Berliner Rechtsanwalt Peter Raue vermittelte, die Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder, Isabel Pfeiffer-Pönsgen, fuhr nach Paris zu Verhandlungen mit den Erben. Man einigte sich, die Erben fügten dem Briefkonvolut sogar noch 23, der Forschung weitgehend unbekannte Briefe hinzu: von Kafkas Mutter an ihre Kinder Franz und Ottla, und: Briefe von Dora Diamant und Robert Klopstock, die den kranken Kafka während seiner letzten Lebensmonate betreuten.

Das Geld schließlich kam von der Kulturstiftung der Länder, vom Staatsminister für Kultur und Medien, vom Land Baden-Württemberg, von verschiedenen privaten Stiftern, die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck und ihr englischer Ableger Macmillan Publishers beteiligten sich, das Berliner Auktionshaus Stargardt verzichtete auf die Versteigerung, erhält aber eine Entschädigung. Wahrlich: es sind beeindruckende Anstrengungen, die da unternommen wurden: von Privatpersonen und Politikern, von Unternehmern, einer Stiftung und zwei großen Literaturarchiven in Deutschland und England. Wie schrieb Kafka: "Wege entstehen dadurch, dass man sie geht."