Kaleidoskop der Inhumanität
2009 wurde der Dokumentarroman "Die Elenden von Łódź" mit dem August-Preis, dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis ausgezeichnet. In einer einzigartigen Mischung von Fakten und Fiktion zeichnet Steve Sem-Sandberg das Schicksal der Menschen im Getto nach.
Ein weiteres Buch über den Holocaust, geschrieben von einem, der 1958 geboren wurde. Der kein Zeitzeuge ist und der sich auf die Dokumente stützen muss, die vom Grauen überliefert sind: Hier ist es die mehr als 3.000 Seiten umfassende Chronik des Gettos von Łódź, jenes Gettos, das die Deutschen Litzmannstadt nannten. Ein weiteres Buch über den Massenmord an den Juden, aber keines wie die anderen.
Steve Sem-Sandbergs gewaltiger Roman erzählt von den Jahren 1940-1945, "diesen äußersten Zeiten", die man aus dem Geschichtsunterricht zu kennen meint und doch hier erst in ihrer ganzen Schrecklichkeit entdeckt. Man hat die Bilder von Stacheldrähten vor Augen, den "hungerblanken Blick" der Getto-Bewohner, die sadistischen Foltermethoden von Gestapo und SS.
Aber Sem-Sandberg interessiert an der Geschichte des Gettos von Łódź noch etwas Anderes: wie das Leben, an dessen systematischer Liquidierung die Nazis arbeiteten, aussah und wer sich - als Jude - an dessen Auslöschung mitschuldig machte, bevor er 1944 selbst in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Mordechai Chaim Rumkowski war der Judenälteste des Gettos von Łódź, der die Nazis bei der "Durchführung" (einer dieser Begriffe aus dem "Wörterbuch des Unmenschen") ihrer Verbrechen alles andere als behinderte. Im Gegenteil: Man nannte ihn früh "Pan Śmierć, Herr Tod", und seine Kritiker sagten von ihm, "er würde, wenn es dazu käme, selbst mit dem Teufel zusammenarbeiten".
In der Tat paktierte er mit seinen späteren Henkern. Rumkowski war Fabrikant und Waisenhaus-Direktor, nach Aussage anderer Juden "ein Monstrum" und "Fanatiker", "unfassbar dünkelhaft und dumm", der als Oberster in der Getto-Hierarchie Heinrich Himmler sagte: "Ich bin reich, Herr Reichsführer, weil ich ein ganzes Volk zu meiner Verfügung habe." Seine Kollaboration sah so aus: Brachen Hungerkrawalle oder Streiks im Getto aus, strafte der Präses Rumkowski die "verweichlichten Parasiten und Arbeitsverweigerer" sofort ab, indem er sie vor die Alternative "Fäkaliendienst" oder Deportation stellte.
Er half mit bei der "Aussiedlung", indem er zuerst die Alten und Kranken, danach die Kinder den Deutschen ans Messer lieferte. Die im Getto-Gefängnis Inhaftierten waren ihm nichts weiter als "ein Depot brauchbaren Menschenmaterials". Der "Allerhöchste des Gettos" war ein tüchtiger Mitverwalter im Vernichtungsapparat. Sein Credo: "Arbeit ist der Fels Zions!" Retten könnten sich die Juden nur, glaubte er, wenn die Nähmaschinen in den Schneiderwerkstätten des Gettos, die Wehrmachtsuniformen ebenso fertigten wie "Damenunterwäsche für Neckermanns Modefirmen in Berlin", nicht stillstünden.
So folgte er der Logik seiner Feinde. Ein fataler Irrtum – auch als "Arbeiterstadt" hatten die Juden von Łódź, deren Getto bald ein Durchgangslager wurde für Juden aus Prag, Berlin, Wien und anderen Orten auf dem Weg ins KZ, keine Überlebenschance. Den die Realität ignorierenden Rumkowski stellt Steve Sem-Sandberg in den Mittelpunkt seines Buches: "Und der große Chaim ging in seiner Lüge umher wie ein Kaiser in seinem Palast." Die große Leistung dieses außergewöhnlichen Dokumentarromans (der wie Per Olov Enquist in seinem legendären Dokumentarroman "Die Ausgelieferten" versucht, "die Tatsachen zu durchschauen") besteht darin, uns die Welt des Gettos unter Zuhilfenahme aller verfügbaren Fakten nahezu unerträglich plastisch vor Augen zu führen. Es geht ihm dabei bei weitem nicht nur um "den Alten", sondern um viele Einzelschicksale. So gerät "Die Elenden von Łódź" zu einem einzigartigen Kaleidoskop der Inhumanität.
Besprochen von Knut Cordsen
Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Łódź
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek.
Klett Cotta, Stuttgart 2011
652 Seiten, 22.95 Euro
Steve Sem-Sandbergs gewaltiger Roman erzählt von den Jahren 1940-1945, "diesen äußersten Zeiten", die man aus dem Geschichtsunterricht zu kennen meint und doch hier erst in ihrer ganzen Schrecklichkeit entdeckt. Man hat die Bilder von Stacheldrähten vor Augen, den "hungerblanken Blick" der Getto-Bewohner, die sadistischen Foltermethoden von Gestapo und SS.
Aber Sem-Sandberg interessiert an der Geschichte des Gettos von Łódź noch etwas Anderes: wie das Leben, an dessen systematischer Liquidierung die Nazis arbeiteten, aussah und wer sich - als Jude - an dessen Auslöschung mitschuldig machte, bevor er 1944 selbst in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Mordechai Chaim Rumkowski war der Judenälteste des Gettos von Łódź, der die Nazis bei der "Durchführung" (einer dieser Begriffe aus dem "Wörterbuch des Unmenschen") ihrer Verbrechen alles andere als behinderte. Im Gegenteil: Man nannte ihn früh "Pan Śmierć, Herr Tod", und seine Kritiker sagten von ihm, "er würde, wenn es dazu käme, selbst mit dem Teufel zusammenarbeiten".
In der Tat paktierte er mit seinen späteren Henkern. Rumkowski war Fabrikant und Waisenhaus-Direktor, nach Aussage anderer Juden "ein Monstrum" und "Fanatiker", "unfassbar dünkelhaft und dumm", der als Oberster in der Getto-Hierarchie Heinrich Himmler sagte: "Ich bin reich, Herr Reichsführer, weil ich ein ganzes Volk zu meiner Verfügung habe." Seine Kollaboration sah so aus: Brachen Hungerkrawalle oder Streiks im Getto aus, strafte der Präses Rumkowski die "verweichlichten Parasiten und Arbeitsverweigerer" sofort ab, indem er sie vor die Alternative "Fäkaliendienst" oder Deportation stellte.
Er half mit bei der "Aussiedlung", indem er zuerst die Alten und Kranken, danach die Kinder den Deutschen ans Messer lieferte. Die im Getto-Gefängnis Inhaftierten waren ihm nichts weiter als "ein Depot brauchbaren Menschenmaterials". Der "Allerhöchste des Gettos" war ein tüchtiger Mitverwalter im Vernichtungsapparat. Sein Credo: "Arbeit ist der Fels Zions!" Retten könnten sich die Juden nur, glaubte er, wenn die Nähmaschinen in den Schneiderwerkstätten des Gettos, die Wehrmachtsuniformen ebenso fertigten wie "Damenunterwäsche für Neckermanns Modefirmen in Berlin", nicht stillstünden.
So folgte er der Logik seiner Feinde. Ein fataler Irrtum – auch als "Arbeiterstadt" hatten die Juden von Łódź, deren Getto bald ein Durchgangslager wurde für Juden aus Prag, Berlin, Wien und anderen Orten auf dem Weg ins KZ, keine Überlebenschance. Den die Realität ignorierenden Rumkowski stellt Steve Sem-Sandberg in den Mittelpunkt seines Buches: "Und der große Chaim ging in seiner Lüge umher wie ein Kaiser in seinem Palast." Die große Leistung dieses außergewöhnlichen Dokumentarromans (der wie Per Olov Enquist in seinem legendären Dokumentarroman "Die Ausgelieferten" versucht, "die Tatsachen zu durchschauen") besteht darin, uns die Welt des Gettos unter Zuhilfenahme aller verfügbaren Fakten nahezu unerträglich plastisch vor Augen zu führen. Es geht ihm dabei bei weitem nicht nur um "den Alten", sondern um viele Einzelschicksale. So gerät "Die Elenden von Łódź" zu einem einzigartigen Kaleidoskop der Inhumanität.
Besprochen von Knut Cordsen
Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Łódź
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek.
Klett Cotta, Stuttgart 2011
652 Seiten, 22.95 Euro