San Quentin - Alltag in der Hölle
San Quentin State Prison ist das älteste Gefängnis in Kalifornien und eines der berüchtigtsten in den Vereinigten Staaten. Der Ort zahlreicher Legenden hat Filmemacher und Musiker gleichermaßen inspiriert.
Das Gefängnis San Quentin gilt als brutal und überbelegt. Die hier durchgeführten Hinrichtungen erregen weltweites Aufsehen. Was weniger bekannt ist: Es gibt in Kaliforniens bekanntestem Gefängnis rund 70 Freizeit- und Förderprogramme, eine eigene Zeitung, eine Gefängnis-Uni und beeindruckende Kunstwerke, die Gefangene geschaffen haben.
Sechs Uhr morgens vor dem Tor des kalifornischen Staatsgefängnisses in San Quentin. Schichtwechsel im ältesten Gefängnis des Bundesstaates. 1852 wurde es eröffnet, eine mittelalterlich anmutende Burg in der heute mehr als 4200 Gefangene untergebracht sind. Hier liegt die kalifornische "Death Row" mit derzeit mehr als 750 Todeskandidaten, daneben viele Gefangene mit langjährigen und lebenslangen Haftstrafen.
Vom Außentor des Geländes geht es entlang der San Francisco Bay auf das Hauptgebäude zu. Auf dem Wachturm links vor dem Haupteingang zum inneren Bereich stehen bewaffnete "Correctional Officers".
San Quentin liegt im Bezirk "Marin County", eine der reichsten Gegenden Kaliforniens. Wer das Gefängnis besucht, darf keine Blue Jeans tragen und keine grünen Hosen. Blau ist die Farbe der Gefangenen, Grün, die der Wärter.
Die Stahlgittertüren fallen laut ins Schloß, eine gesicherte Schleuse. Mitarbeiter müssen ihren Ausweis zeigen, Besuchern wird ein leuchtfarbener Stempel auf den rechten Unterarm gedrückt. Dann geht die erste Stahltür auf. Erst als sie laut krachend ins Schloß fällt, geht die nächste auf.
Ein Innenhof. Vorne der Krankenhausneubau, rechts die Gebetsräume der Katholiken, der Protestanten, der Juden und Muslime. Links das sogenannte "Adjustment Center", das Gefängnis im Gefängnis.
Schlimmste Gewaltverbrecher in San Quentin
Dort sind die schlimmsten der schlimmen Gewaltverbrecher Kaliforniens untergebracht. Jene, die nicht einmal mit der Wimper zucken würden, wenn sie einen anderen erstechen könnten. 23 Stunden am Tag sind sie in ihren Zellen, eine Stunde lang werden sie draussen alleine in einen vier mal vier Meter großen Käfig gesperrt. Der tägliche Hofgang. Es hänge von jedem einzelnen Gefangenen selbst ab, wie lange er im "Adjustment Center" bleiben muss, meint "Public Relations Officer" Sam Robinson:
"Einige der Gefangenen, sind dort unbegrenzt untergebracht, das hängt ganz von ihrem Verhalten ab. Ob sie aktive Gang Mitglieder sind, oder ob sie Mitarbeiter angreifen wollen oder andere Gefangene. Davon hängt es ab, wie lange ein Häftling dort bleiben muss."
Der erste Anlaufpunkt an diesem Morgen ist der "South Block", wo das "Reception Center" untergebracht ist. Frisch Verurteilte kommen aus den "County Jails", den lokalen Untersuchungsgefängnissen, hierher.
Im County Jails werden sie eingestuft – als gefährliche Gangmitglieder oder als potentielle Opfer, als Gefangene, die einer besonderen Betreuung bedürfen oder ärztliche Überwachung brauchen. Danach werden sie auf eines der kalifornischen Gefängnisse verteilt – oder bleiben gleich in San Quentin.
Eine Reihe von Gefangenen wird bereits vom Zellentrakt in den Speisesaal gleich nebenan geführt. Die meisten sind tätowiert, einige am Hals, im Nacken, auf der Stirn. Gang-Initialien, Namen, Hakenkreuze, SS Runen.
Die sogenannte "Chow Hall" ist eine größere Halle, die durch Trennwände aufgeteilt wurde. Dadurch sind mehrere Essensäle entstanden. Im Boden sind wie bei Picknickplätzen Eisentische mit Sitzgelegenheiten festgeschraubt.
Die Gefangenen reihen sich vor der Essensgabe in eine Schlange. Aus einem kleinen, hüfthohen Fenster werden Tabletts heraus geschoben. Darauf Waffeln, Sirup, Butter, Milch und zwei Äpfel. Teller, Messer und Gabel gibt es nicht, hier wird mit den Händen gegessen. Einige der Gefangenen haben Plastiklöffel dabei. Wer will, kann sich noch einen äußerst wässrigen Ersatzkaffee aus einer Warmhaltekanne holen.
Im Speisesaal sieht man auch eines der beeindruckendsten, wenn auch unbekanntesten Wandbilder der USA: ein Monumentalwerk, gemalt vom Häftling Alfredo Santos. Von 1953 an arbeitete er zwei Jahre lang Tag für Tag an der Geschichte Kaliforniens, mit vielen Details, von den Indianern bis zum Wirtschaftsboom in den Nachkriegsjahren der frühen 50er.
Auf sechs Wänden, jeweils 30 mal 4 Meter, schuf er ein einzigartiges Wandgemälde, dessen Stil an Diego Rivera und die Plakatkunst der 30er- und 40er-Jahre erinnert. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Entlassung konnte Alfredo Santos sein Bild wiedersehen. 2003 durfte er zum ersten mal als Besucher das Gefängnis und auch den normalerweise nicht zugänglichen Speisesaal betreten.
Schreiben, Malen, Musik machen - in San Quentin findet man hochbegabte und talentierte Gefangene. Das war merkwürdigerweise schon immer so. 1936 zum Beispiel wurde der amerikanische Komponist Henry Cowell aufgrund einer sogenannten moralischen Straftat zu 15 Jahren Haft verurteilt. Vier Jahre lang saß er in San Quentin, bevor er begnadigt wurde. Cowell komponierte in dieser Zeit Musik, die Schwere und die Eintönigkeit des Gefängnislebens ausdrückt.
Im South Block gehen die Häftlinge langsam in ihre Zellen zurück. Vier Stockwerke übereinander, auf jeder Seite des Blocks 250 Zellen. Insgesamt sind in jedem der vier Blöcke1000 Häftlinge untergebracht.
Plötzlich schrillt eine Trillerpfeife, 10, 12, 15 "Correctional Officers", Vollzugsbeamte, rennen die Stahltreppe hinauf. Im zweiten Stock ist es in einer Zelle zu einer Schlägerei gekommen.
Die beiden Streithähne werden nach draussen gezogen, auf den Boden gedrückt und in Handschellen gelegt und abgeführt. Ein normaler Zwischenfall.
Hier wird schnell reagiert, um die Situation erst gar nicht eskalieren zu lassen. Das könnte sie leicht. Aber schnell beruhigt sich die Lage wieder, der Tagesablauf geht weiter.
Raymond Estrada wurde 1992 nach einer Schießerei zwischen Gangs zu einer 25-jährigen Haftstrafe verurteilt. Er kam zuerst nach San Quentin, in den South Block. Noch heute kann er sich an diese ersten Momente erinnern:
"Die Wärter im Erdgeschoss zeigten nach oben und sagten, 'im vierten Stock ist deine Zelle'. Ich schaute hoch, und da waren nichts als Gitter und Stacheldraht. Dann der Wachturm, auf dem ein Wärter mit dem Gewehr in der Hand stand. Gefangene warfen brennende Zeitungen vom dritten und vierten Stock. An Schnüren seilten sie Zigaretten ab. Und überall Geschrei, einige haben gesungen, andere gepfiffen. Ein paar Typen redeten ... es war irre. Wie ein seltsamer Zoo, total verrückt.
Als ich mich umsah, überkam mich das Gefühl, 'wow, das hier 25 Jahre. Komme ich hier noch mal lebend raus?' Dann ging ich langsam die Treppen hoch. Aber ich erinnere mich, der erste Gedanke war, ob ich hier sterben werde. Es war total verrückt."
Der "Condemned Row", dem Trakt der Verdammten, der Todestrakt ist durch eine in der Mitte gewölbte Stahltür von den anderen Gefängnisteilen abgetrennt. Derzeit warten rund 750 zum Tode Verurteilte auf das, was da kommen mag. Um als Reporter dorthin zu kommen braucht es eine besondere Genehmigung vom kalifornischen Minister für Strafvollzug und Rehabilitierung.
"Ein Ort, an dem Menschen schließlich hingerichtet werden"
Interviews mit zum Tode Verurteilten sind niemals direkt, sondern nur telefonisch möglich. Ein Gespräch mit dem Gründer der Crips Gang in Los Angeles, Stanley Williams vor seiner Hinrichtung vor fast einem Jahrzehnt:
"Ich sitze im Todestrakt von San Quentin, in einer Zelle, die etwa 2,70 Meter lang und 1,20 Meter breit ist. Ich habe eine Pritsche, eine Toilette, ein Waschbecken und ein Regal. Alles ist aus Stahl.
Dazu Stahlgitter und ein Maschendraht aus Stahl, der an der Außenseite der Gitter angebracht ist. Der Tod ist hier stets mit dir. Dies ist ein Ort, an dem Menschen schließlich hingerichtet werden."
Stanley "Tookie" Williams war während seiner Zeit in San Quentin auch im Gefängnis der harte Gangsterboss, bis er mit dem Schreiben anfing. Seine "Redemption", seine Wiedergutmachung, wie er es nannte. Denn Williams schrieb aus seiner Todeszelle Bücher für Kinder und Jugendliche, um sie vor dem Weg zu warnen, den er selbst eingeschlagen hatte:
Nach seiner Hinrichtung am 13. Dezember 2005 führten die Proteste gegen die Exekution dazu, dass seither keine Todesstrafe mehr in Kalifornien vollzogen wurde.
Im North Block ist die Stimmung gelassen, hier sind überwiegend die "Lifers", die Lebenslänglichen untergebracht. Was sofort auffällt, sind die Duschen am Ende des Gebäudes. Hinter einer hüfthohen Mauer duschen gleich mehrere Männer. Privatsphäre gibt es hier nicht.
"Public Relations Officer" Lieutenant Sam Robinson läßt eine Zellentür öffnen. Nicht viel Platz ist in der 2,70 mal 1,20 "großen" Zelle. Der Abstand zwischen Bett und Wand ist zu schmal für einen normal gebauten Mann, um normal stehen zu können. Man muss die Schultern einziehen oder sich quer stellen.
"So lebt jeder Häftling, der in San Quentin untergebracht ist. Die Zelle ist vier bei neun Fuss, es gibt ein Stockbett, ein paar Regale, hinten ein Waschbecken und daneben eine Toilette, die quasi direkt gegenüber dem Eingang ist."
Es spricht sich schnell rum, dass Sam Robinson in einer der Zellen ist. Er lacht nur über die flapsigen Kommentare:
"Jede Zelle hat ihre eigenen Regeln. Normal ist, wenn ein Gefangener steht, ist der anderer auf seinem Bett. Wenn der oben im Stockbett sich bewegt, kann sich der andere frei bewegen und umgekehrt. Wenn Dein Zellennachbar aufs Klo muss, gibt es keine Möglichkeit da auszuweichen. Alles passiert hier."
Es geht an den Duschen vorbei, die Männer beachten auch den Besucher kaum. Einige jedoch sprechen Lieutenant Robinson an, unterhalten sich kurz mit ihm. Er ist zu jedem freundlich, lacht, scherzt. Zwei Insassen einer Zelle auf die Frage, wie sie gemeinsam auf diesem engen Raum zurecht kommen: Man müsse sich eben arrangieren, sagt der eine. Und der andere mit einem Lachen "ich schmeisse ihn einfach immer mal wieder raus".
Es ist laut im North Block, es wird durch die Gegend geschrien, riesige
Ventilatoren versuchen, die Luft zu kühlen. 20 Meter weiter treffen wir auf Johnny Mohammed, einen Schwarzen, der eine Plastiktüte auf dem Kopf trägt.
Ventilatoren versuchen, die Luft zu kühlen. 20 Meter weiter treffen wir auf Johnny Mohammed, einen Schwarzen, der eine Plastiktüte auf dem Kopf trägt.
"Warum? / Keine Ahnung." Er grüßt freundlich und ist auch gleich bereit, ein paar Fragen zu beantworten. Für ihn sei es wichtig, die Beschäftigungsprogramme mitzumachen, einfach, um nicht durchzudrehen. Er spiele viel Tennis.
Wie lange hast Du noch?
Zwei bis fünf Jahre, hofft er. Er wurde nach dem "Three-Strikes"-Gesetz verurteilt. Das sollte mehrfach gewalttätige Täter von den Straßen schaffen. Nach der dritten Straftat wurde automatisch eine 25-jährige Haftstrafe ausgesprochen. Doch das Gesetz war falsch formuliert, den Zusatz gewalttätig hatte der Gesetzgeber bewusst oder unbewusst vergessen.
Die Wähler nickten das Gesetz in einer Abstimmung ab. Danach wurden Menschen selbst für kleinere Diebstähle zu 25 Jahren verurteilt, wenn es ihre dritte Straftat war. Viele landeten hier.
Der nördliche Ausgang des North Blocks liegt neben dem Speisesaal, in dem Johnny Cash am 24. Februar 1969 sein berühmtes Konzert gab. In dem gekachelten und kahlen Raum erinnert nichts mehr an dieses spannende Kapitel Musikgeschichte.
Johnny Cash traf genau den richtigen Ton mit seinen Liedern, mehrmals musste er seinen Song "San Quentin" spielen, in dem die Zeile "San Quentin you've been living hell to me" lautstark bejubelt wurde.
Zahlreiche Beschäftigungs- und Freizeitprogramme
Hinter dem Speisesaal der "Yard", der große Gefängnishof. Ein Baseballfeld, Tennis- und Basketballplatz. Geräte fürs Krafttraining. Rund 400 Gefangene sind an diesem Morgen draußen. Einige joggen, andere spazieren plaudernd um den Platz. Was auffällt: Die Schwarzen sind dort, die Latinos da, dort drüben die Weißen, weiter hinten die Asiaten und ganz hinten ist der Treffpunkt der "Native Americans". Alle streng getrennt voneinander. Auf dem Hof herrschen eigene, ungeschriebene Gesetze.
In San Quentin gibt es rund 70 Beschäftigungs- und Freizeitprogramme, weitaus mehr als in jedem anderen kalifornischen Gefängnis: von Yoga bis zu Mal- und Schreibkursen, von einer Shakespeare Theatergruppe bis zu Gewaltpräventionskursen. Es gibt sogar eine "Prison University", eine Art Abendschule, in der Häftlinge einen Schul- und Collegeabschluss erlangen können. Das Baseball Team, die San Quentin Giants" existiert schon seit den 1920er-Jahren, die Zeitung "San Quentin News" wurde von Clinton Duffy Anfang der 1940er-Jahre gegründet.
Der Redaktionsraum erinnert an eine Schüler- oder Studentenzeitung, nur aufgeräumter. Dort ein paar Computer, Stapel mit alten Ausgaben der Zeitung, Stühle, ein paar Tische, in der Ecke ein Fernseher, auf dem passenderweise gerade das Programm der Deutschen Welle ausgestrahlt wird.
Juan Haines, der zu lebenslänglicher Haft verurteilt ist, sorgt hier für den täglichen Ablauf. Man merkt gleich, dass der schmächtige, etwa 1,70 große Schwarze, sich in dieser Gruppe durchsetzen kann.
"Die Idee zu dieser Zeitung entstand in den 40er-Jahren. Der damalige Direktor, Clinton Duffy, meinte, um zu vermeiden, dass sich Gerüchte verbreiteten, wäre es wohl besser, wenn die Gefangenen Neuigkeiten von ihren Mitgefangenen erführen. Einfach um Falschmeldungen vorzubeugen.
Wenn man Nachrichten selbst verbreite, könne man außerdem zugleich den Informationsfluss kontrollieren. Die Zeitung San Quentin News waren geboren, die mit Unterbrechungen bis heute erscheint."
San Quentin State Prison ist wie eine Kleinstadt, das zeigt sich auch in dem, was die Reporter in gefängnisblau berichten, erklärt Ricky Malik Harris, der Herausgeber der Zeitung.
"San Quentin ist einzigartig unter den 33 kalifornischen Gefängnissen. Wir haben 70 Programme hier, ein College und Fernstudienprogramme. Es gibt immer wieder Veranstaltungen, Abschlussfeiern, Bankette. Erst vor Kurzem hatten wir gleich zwei Veranstaltungen, den Friedenstag und den Avon 'Walk for Breast Cancer'. Das alles passiert an Wochenenden, die Jungs gehen dahin und berichten darüber."
John Eagan ist einer von drei Beratern. Der pensionierte Journalist arbeitete lange Zeit für die "associated press". Er wurde vom früheren "Warden" Bob Ayers angesprochen, ob er nicht dieses "Prison Project" fachlich mit betreuen wolle.
"Wir kriegen keine öffentlichen Mittel. Am Anfang ließen wir noch die Zeitung in der San Quentin Druckerei drucken. Aber schon nach einem Jahr schlossen sie die Druckerei aus finanziellen Gründen. Also, überlegten wir, ob wir auch dicht machen. Und die Antwort war: nein!
Wir wollten Gelder finden, um den Druck selbst finanzieren zu können. Das gelang auch und heute drucken wir die Zeitung draußen und zahlen dafür."
Noch fließen die Fördermittel privater Stiftungen. Deshalb kann die San Quentin News monatlich in einer Auflage von 11.500 erscheinen. Die Hauptleserschaft befindet sich hinter dicken Mauern. Aber auch außerhalb wird sie gelesen. Anfang 2014 Jahres wurde die Zeitung aus dem Gefängnis sogar mit einem Journalistenpreise ausgezeichnet.
Es geht wieder über den Hof, wo noch immer einige Häftlinge ihre Kreise ziehen. Sam Robinson wird mehrfach angehalten, in Gespräche verwickelt. Ihn kennt man, er ist beliebt. Sam Robinson sagt, er liebe diesen Job, gerade, weil jeder Tag etwas neues, etwas anderes bringt.
Und doch, die Arbeit hier hat ihn verändert. Seine kleinen Kinder läßt er nirgends mehr alleine auf die Toilette gehen. Dafür hat er hier zu oft mitbekommen, was alles passieren kann.