Kaliningrad
Während einer Busreise durch das nördliche Ostpreußen entfuhr einem älteren Besucher aus Deutschland der Satz: "Nein, das nehmen wir nicht mehr zurück." Seit die Reisegruppe Kaliningrad, das einstmals deutsche Königsberg, Richtung Osten verlassen hatte, fuhren die Touristen durch eine versteppte Landschaft.
Rechts und links der Straße brachliegendes Ackerland und versumpfte Wiesen, auf denen kein Vieh weidete. Der Ausspruch war nicht ernst, sondern eher ironisch gemeint. Er gab die Empfindung des Mannes wieder, der sich daran erinnerte, dass diese vernachlässigte Provinz einmal die Kornkammer des Reiches genannt worden war.
Ganz aus der Luft gegriffen war der Stoßseufzer des Besuchers freilich nicht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg den nördlichen Teil Ostpreußens einverleibt hatte, hegten manche Bundesbürger die Illusion, das Land am Pregel wiedergewinnen zu können. Doch das angebliche Angebot Michail Gorbatschows, die Region Deutschland zum Kauf anzubieten, entsprach wohl mehr dem Wunsch als der Wirklichkeit. Und auch die Hoffnung, durch die massenhafte Zuwanderung von Russlanddeutschen aus ehemals asiatischen Sowjetrepubliken frühere Verhältnisse wiederherstellen zu können, ist längst dahin. Viele der Zugezogenen hatten nichts anderes im Sinn, als möglichst schnell in die Bundesrepublik überzusiedeln.
Die zerplatzten Träume von einer Regermanisierung bedeuten allerdings nicht, dass die deutsche Zeit des heutigen Oblast Kaliningrad, wie die Region offiziell heißt, in Vergessenheit geraten würde. Das Gegenteil ist der Fall. Hatten Stalin und seine Nachfolger noch alles daran gesetzt, in dem für Ausländer gesperrten Gebiet die Spuren einer Jahrhunderte alten deutschen Kultur auszulöschen, so besinnt man sich zunehmend auf die lange verschwiegene Vorgeschichte der Region. Verbunden mit der Erkenntnis: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten.
Beispiele gibt es genügend: Der mit Geld aus Moskau und Spenden aus Deutschland wieder aufgebaute Königsberger Dom mit seiner in Potsdam gefertigten neuen Orgel ist zum kulturellen Zentrum der Stadt geworden. Vor der Universität, die den Namen Kant trägt, steht ein Denkmal des Philosophen. Die historischen Herrscher-Gestalten am restaurierten Königstor, denen man 1945 die Köpfe abgeschlagen hatte, sind wieder vollständig. Herzog Albrecht, der letzte Ordenshochmeister, steht auf einem Denkmalsockel neben dem Dom. Und eine Reihe von Gedenksteinen erinnern an prominente deutsche Königsberger, vom Dichter E.T.A. Hoffmann bis zum Theologen Julius Rupp.
Auf der Suche nach einer neuen Identität frönen Bewohner der zwischen Polen und Litauen eingezwängten russischen Exklave einer Art Nostalgie. "Königsberg" heißt ein heimisches Bier, eine andere Marke trägt den Traditionsnamen "Ostmark". Ein Weinbrand nennt sich "Altes Königsberg", geschrieben freilich in kyrillischen Buchstaben. Kaliningrader Zeitungen bringen Berichte über die Stadt vor 1945. Und historische Fotos vom alten, unzerstörten Stadtbild zieren Geschäfte, Restaurants und sogar öffentliche Gebäude. Das gegenwärtige Antlitz der Gebietshauptstadt ist voller Kontraste. Hier die hässlichen Plattenbauten aus Sowjetzeiten, dort neue Büropaläste, Warenhäuser und Einkaufspassagen aus Glas und Beton. Doch was fehlt, ist ein Zentrum, das an die im Herbst 1944 durch britische Bomben zerstörte Altstadt erinnert. Es gibt Pläne für die Wiederbebauung der zur Parklandschaft gewordenen Dominsel, zu deutscher Zeit Kneiphof genannt. Und auch der Wiederaufbau des Schlosses, dessen Ruine 1968 gesprengt worden war, ist schon im Grundsatz beschlossen. Mit dem Segen Moskaus.
Anders als Boris Jelzin, dessen Interesse am Königsberger Gebiet eher gering war, haben die gegenwärtigen Machthaber Russlands mit dem westlichen Vorposten der Föderation viel vor. Wladimir Putin und Dimitri Medwedjew, sein Nachfolger im Präsidentenamt, wollen die Exklave an der Ostsee zu einer Musterregion ausbauen, die ein Bindeglied zwischen Russland und der Europäischen Union, speziell Deutschland, werden soll. Ehemals deutsches Territorium als Brücke zwischen Ost und West. Mit besseren Bedingungen für in- und ausländische Investoren, als sie in der bisher nur halbherzig geförderten Sonderwirtschaftszone gegeben waren. Wie so oft in der Politik spielen bei diesem strategischen Projekt auch persönliche Gründe eine Rolle. Putins Ehefrau Ljudmilla, eine ehemalige Stewardess, ist in Kaliningrad geboren und kennt die Stimmung der Bewohner. Und die suchen in ihrer exponierten Lage mehrheitlich den Anschluss zum nahen Westen. Von Königsberg nach Berlin ist es nur etwa halb so weit wie nach Moskau.
Peter Pragal, Autor und Freier Journalist, 1939 in Breslau geboren. In den 60er und 70er Jahren arbeitete er für die Süddeutsche Zeitung, zuletzt als Korrespondent in der DDR. 1979 Wechsel zum STERN, zunächst als Leiter des Bonner Büros, dann als Korrespondent in Ost-Berlin mit Zuständigkeit für mehrer Länder Ost-Mitteleuropas. 1991-2004 Politischer Korrespondent der Berliner Zeitung. Mit-Herausgeber des STERN-Buches "40 Jahre DDR".
Ganz aus der Luft gegriffen war der Stoßseufzer des Besuchers freilich nicht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg den nördlichen Teil Ostpreußens einverleibt hatte, hegten manche Bundesbürger die Illusion, das Land am Pregel wiedergewinnen zu können. Doch das angebliche Angebot Michail Gorbatschows, die Region Deutschland zum Kauf anzubieten, entsprach wohl mehr dem Wunsch als der Wirklichkeit. Und auch die Hoffnung, durch die massenhafte Zuwanderung von Russlanddeutschen aus ehemals asiatischen Sowjetrepubliken frühere Verhältnisse wiederherstellen zu können, ist längst dahin. Viele der Zugezogenen hatten nichts anderes im Sinn, als möglichst schnell in die Bundesrepublik überzusiedeln.
Die zerplatzten Träume von einer Regermanisierung bedeuten allerdings nicht, dass die deutsche Zeit des heutigen Oblast Kaliningrad, wie die Region offiziell heißt, in Vergessenheit geraten würde. Das Gegenteil ist der Fall. Hatten Stalin und seine Nachfolger noch alles daran gesetzt, in dem für Ausländer gesperrten Gebiet die Spuren einer Jahrhunderte alten deutschen Kultur auszulöschen, so besinnt man sich zunehmend auf die lange verschwiegene Vorgeschichte der Region. Verbunden mit der Erkenntnis: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten.
Beispiele gibt es genügend: Der mit Geld aus Moskau und Spenden aus Deutschland wieder aufgebaute Königsberger Dom mit seiner in Potsdam gefertigten neuen Orgel ist zum kulturellen Zentrum der Stadt geworden. Vor der Universität, die den Namen Kant trägt, steht ein Denkmal des Philosophen. Die historischen Herrscher-Gestalten am restaurierten Königstor, denen man 1945 die Köpfe abgeschlagen hatte, sind wieder vollständig. Herzog Albrecht, der letzte Ordenshochmeister, steht auf einem Denkmalsockel neben dem Dom. Und eine Reihe von Gedenksteinen erinnern an prominente deutsche Königsberger, vom Dichter E.T.A. Hoffmann bis zum Theologen Julius Rupp.
Auf der Suche nach einer neuen Identität frönen Bewohner der zwischen Polen und Litauen eingezwängten russischen Exklave einer Art Nostalgie. "Königsberg" heißt ein heimisches Bier, eine andere Marke trägt den Traditionsnamen "Ostmark". Ein Weinbrand nennt sich "Altes Königsberg", geschrieben freilich in kyrillischen Buchstaben. Kaliningrader Zeitungen bringen Berichte über die Stadt vor 1945. Und historische Fotos vom alten, unzerstörten Stadtbild zieren Geschäfte, Restaurants und sogar öffentliche Gebäude. Das gegenwärtige Antlitz der Gebietshauptstadt ist voller Kontraste. Hier die hässlichen Plattenbauten aus Sowjetzeiten, dort neue Büropaläste, Warenhäuser und Einkaufspassagen aus Glas und Beton. Doch was fehlt, ist ein Zentrum, das an die im Herbst 1944 durch britische Bomben zerstörte Altstadt erinnert. Es gibt Pläne für die Wiederbebauung der zur Parklandschaft gewordenen Dominsel, zu deutscher Zeit Kneiphof genannt. Und auch der Wiederaufbau des Schlosses, dessen Ruine 1968 gesprengt worden war, ist schon im Grundsatz beschlossen. Mit dem Segen Moskaus.
Anders als Boris Jelzin, dessen Interesse am Königsberger Gebiet eher gering war, haben die gegenwärtigen Machthaber Russlands mit dem westlichen Vorposten der Föderation viel vor. Wladimir Putin und Dimitri Medwedjew, sein Nachfolger im Präsidentenamt, wollen die Exklave an der Ostsee zu einer Musterregion ausbauen, die ein Bindeglied zwischen Russland und der Europäischen Union, speziell Deutschland, werden soll. Ehemals deutsches Territorium als Brücke zwischen Ost und West. Mit besseren Bedingungen für in- und ausländische Investoren, als sie in der bisher nur halbherzig geförderten Sonderwirtschaftszone gegeben waren. Wie so oft in der Politik spielen bei diesem strategischen Projekt auch persönliche Gründe eine Rolle. Putins Ehefrau Ljudmilla, eine ehemalige Stewardess, ist in Kaliningrad geboren und kennt die Stimmung der Bewohner. Und die suchen in ihrer exponierten Lage mehrheitlich den Anschluss zum nahen Westen. Von Königsberg nach Berlin ist es nur etwa halb so weit wie nach Moskau.
Peter Pragal, Autor und Freier Journalist, 1939 in Breslau geboren. In den 60er und 70er Jahren arbeitete er für die Süddeutsche Zeitung, zuletzt als Korrespondent in der DDR. 1979 Wechsel zum STERN, zunächst als Leiter des Bonner Büros, dann als Korrespondent in Ost-Berlin mit Zuständigkeit für mehrer Länder Ost-Mitteleuropas. 1991-2004 Politischer Korrespondent der Berliner Zeitung. Mit-Herausgeber des STERN-Buches "40 Jahre DDR".