Die Ausstellung "Einander sehen" in der Evangelischen St.-Thomas-Kirche am Berliner Mariannenplatz ist noch bis 9.7. 2017 zu sehen. Sie ist Montag bis Samstag von 10.00 – 18.00 Uhr geöffnet, Sonntag 11.00-18.00 Uhr. Der Künstler ist sehr häufig anwesend, um mit den Besuchern in Dialog zu treten. Nächste Stationen seiner Ausstellung sind St. Stephan in Mainz und St. Katharinen in Frankfurt.
Ästhetische Brücke im Dialog der Religionen
Kalligrafie ist die traditionelle bildende Kunst in der islamischen Welt. An diese Tradition knüpft der Künstler Shahid Alam an. Seine Ausstellung "Einander sehen" in einer Berliner Kirche versteht er als interreligiöse Brücke zwischen Judentum, Christentum und Islam.
Shahid Alam steht in der Evangelischen St.-Thomas-Kirche in Berlin Kreuzberg vor einer mannshohen Buchenholztafel, kunstvoll beschrieben mit arabischen Schriftzeichen:
"Dies ist die Tafel mit der ersten Sure aus dem Koran. Jeder aus der islamischen Welt kann dies auswendig, so wie die ganzen Menschen in der christlichen Welt kann jeder Vaterunser."
Alam weist auf die gegenüberliegende Kirchenwand: eine zweite Kalligrafie, die dem uneingeweihten Betrachter zunächst ganz ähnlich erscheint. Nur, dass es sich bei diesen Schriftzeichen um das Vaterunser handelt.
"Wenn wir den Inhalt vom Vaterunser lesen, dann fragt sich der Leser oder Zuhörer: Wenn alles so identisch ist, so eins ist, wo ist bitte dann das Problem? Und das will die Ausstellung auch neben dem ästhetischen Aspekt, der sowieso im Vordergrund steht, dass gewisse Aufklärung dort stattfindet. Also die Kunst als eine Brücke zum interreligiösen Dialog, wo die Kunst auch eine Brücke zur Aufklärung wird."
Die abrahamitischen Religionen als Triptychon
Eine Woche vor der Eröffnung von "Einander sehen" herrscht noch große Unruhe in der Kirche, Helfer packen Kisten aus, diskutieren die Platzierung der 95 Bildtafeln und Skulpturen. Unbeirrt steuert der Künstler auf ein bereits ausgepacktes Triptychon zu. Es verbindet Texte aus Tora, Neuem Testament und Koran:
"Hier sehen Sie die abrahamitischen Tafeln. Die rechte Tafel ist die jüdische Tafel. Hier ist das Glaubensbekenntnis der Juden dargestellt, 'Schma Israel' genannt, in der Mitte ist aus dem Johannesevangelium: 'Im Anfang war das Wort' und links die Sure 'Licht' aus dem Koran, sodass die drei abrahimitischen Religionen hier zusammen stehen."
Alam möchte den Blick auf das Gemeinsame der monotheistischen Religionen lenken – die Suche nach dem einen Gott, die Sehnsucht nach Spiritualität, den Wunsch nach Frieden. Er möchte aber auch zeigen: Es gibt Juden und Christen, deren Muttersprache Arabisch ist. Alam selbst bringt viel Erfahrung im interreligiösen Dialog mit. Geboren in Pakistan, besuchte er eine katholische Schule, lernte dort Kalligrafie. Seit 45 Jahren lebt er in Deutschland, vor zwölf Jahren erhielt er seinen ersten Auftrag von einer katholischen Kirchengemeinde:
"Ich bin an der ersten Stelle ein Mensch und es sind so viele Gegebenheiten im Leben gewesen, dass ich in der christlichen Welt lebte, dass ich auch in der hinduistischen Welt lebte. Ich fühle mich eigentlich in jeder Religion zu Hause und dort steht für mich nicht die Religion im Vordergrund, sondern der Glaube eines Menschen."
Kunst, die Raum zum Nachdenken öffnet
Andreas Goetze ist von Alams Kunst begeistert. Er ist Beauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz. Goetze bezeichnet Kalligrafie als "Musik für die Augen", die die Wahrnehmung schärfe:
"Alle Schriftreligionen liegen in der Gefahr, fundamentalistisch ein Wort buchstabengetreu nur wahrnehmen zu wollen. Also man nimmt die Texte wortwörtlich – 'Hier steht doch' und 'so ist es'... in der Kalligrafie ist ein Zeichen dafür: So ist Schrift nie gemeint. Schrift eröffnet einen Raum zum Nachdenken, zum Feiern und es ist vieldeutig, es ist mehrdeutig auf alle Fälle und damit ist es auch ein Beitrag gegen radikalisierte Tendenzen."
Goetze holte Alams Ausstellung nach Berlin und warb zahlreiche Kooperationspartner. Friederike von Kirchbach, Pfarrerin in der Evangelischen St.-Thomas-Kirche freut sich auf die kommenden Wochen:
"Wir sind sehr gespannt. Als Kirchgemeinde ist das eine unglaubliche Chance – wir sind eine christliche Kirchgemeinde in Kreuzberg und Kreuzberg ist multikulturell und sehr viele Muslime, die hier am Mariannenplatz wohnen und es gibt auch eine jüdische Bevölkerung in Kreuzberg. Es gibt viele Nicht-Christen und ein paar Christen. Und diese Ausstellung bietet für alle Beteiligten die Möglichkeit zum Gespräch. Und wir öffnen die Kirche jeden Tag den ganzen Tag und wir hoffen eben auf diesen Dialog."
Live-Kalligrafie für die Vernissagen-Gäste
Am Abend der Eröffnung sind die Kirchenbänke gut gefüllt. Es sprechen Vertreter der jüdischen, muslimischen, christlichen Kooperationspartner. Schließlich auch Shahid Alam selbst. Er dankt der deutschen Gesellschaft für die Freiheit, die sie ihm geschenkt habe. Dann setzt er sich an den Zeichentisch mit dem Projektor und taucht den Pinsel in die Tusche. Mit ruhigem Strich gleitet seine Hand über das Papier. Gebannt verfolgen die Zuschauer, wie vor ihren Augen ein Wortbild entsteht – ein Zitat des muslimischen Mystikers Rumi aus dem 13. Jahrhundert: "Seid sicher, in der Liebe der Religion gibt es keine Gläubigen und Ungläubigen; die Liebe umarmt alle."