Wie Görlitz den Rückzug von Siemens auffangen will
Der Siemens-Standort im sächsischen Görlitz soll geschlossen werden. Mehr als 700 Menschen werden voraussichtlich ihre Jobs verlieren. In der Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Sachsen könnte die Quote wieder auf über 20 Prozent ansteigen.
Neben dem Görlitzer Rathaus warten an diesem Mittag Schafe darauf, gefüttert und gestreichelt zu werden. Budenbetreiber füllen Vorräte auf und warten auf die ersten Glühweintrinker auf dem Weihnachtsmarkt. Die Görlitzer Altstadt mit ihren restaurierten Baudenkmalen ist kürzlich zur beliebtesten europäischen Filmkulisse gewählt worden.
Höchste Arbeitslosigkeit in Sachsen
In seinem Büro hat der Oberbürgermeister Siegfried Deinege schon Hollywoodstars begrüßt, aktuell ist sein Alltag weniger angenehm. Deinege befindet sich im Arbeitskampf, spricht bei Demonstrationen der Siemens-Mitarbeiter. In Görlitz herrscht Unverständnis darüber, dass die Manager ein gut laufendes Werk dichtmachen wollen. Über 700 Menschen werden voraussichtlich in Görlitz ihre Jobs verlieren. In der Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Sachsen könnte die Quote wieder auf über 20 Prozent ansteigen. Zum Vergleich: Sachsenweit liegt sie mit sechs Prozent auf einem Rekordtief. Oberbürgermeister Deinege:
"Auf die Wirkung mache ich mir die größten Sorgen um eine Generation, die vermutlich sich wieder Alternativen suchen muss, wie schon in den 90er-Jahren. Das sind diejenigen, die sich dann bewegen werden, in andere Gebiete Deutschlands, wo sie Arbeit finden, die Demografie ist überall wirksam, Arbeitsplätze gibt es genug. Man wird sich in Bewegung setzen, das ist ein Riesenverlust für die Stadt."
Denn mit jungen Leuten geht Leben, Kaufkraft, Innovation. Der jetzt schon hohe Altersdurchschnitt wird weiter steigen. Görlitz hat sich als familienfreundliche Stadt aufgestellt, versucht, attraktive Bedingungen für junge Menschen zu schaffen, sagt Deinege. Aber die Region an der polnischen Grenze habe in Deutschland keine Lobby.
"Auf der anderen Seite sind Sonderwirtschaftsgebiete, entwickelt sich Polengerade nach dem Motto Trump 'Polen first'. Also alles läuft in diese Richtung, Sonderwirtschaftszonen entstehen noch und nöcher, Bis hin zur Steuerbefreiung über viele Jahre. Das sind die Anreize, die da gegeben werden, und wir können da nicht mithalten."
Und dann sei da die Infrastruktur, sagt Deinege. Die Bahnlinie zwischen Breslau und Dresden ist auf polnischer Seite elektrifiziert. Nicht aber in Deutschland, wo Regionalbahnen gemächlich zuckeln. Die Autobahn 4 ist chronisch verstopft. Deinege würde gern einen grenzüberschreitenden Zweckverband gründen, wie es ihn etwa an der deutsch-Luxemburgischen oder niederländischen Grenze gibt.
"Wir müssen schneller reagieren in dieser Region. Wir müssen, so bin ich politisch unterwegs, auch die Voraussetzungen schaffen, damit wir wettbewerbsfähig sind hier in der Region. Die Betriebe an sich, die sind es. Hochmodern, neu entstanden in den 90er-Jahren, flexible Mitarbeiter, das ist alles da."
Leuchtturmpolitik in Dresden und Leipzig
Zu Besuch bei Apparet IT, die Firma bietet IT-Lösungen für Mittelständler an. Inhaber Edgar Wippel ist Vorsitzender des Allgemeinen Unternehmerverbandes Görlitz und Umgebung. In Sachsen hat die CDU in der Wirtschaftsförderung auf die sogenannte Leuchtturmpolitik gesetzt, vor allem in den großen Zentren wie Dresden und Leipzig. In Görlitz hätten sich Unternehmer immer schon mehr selbst kümmern müssen, sagt Wippel:
"Unsere Gegend ist ja hier gekennzeichnet durch den kleinen und Mittelstand. Das durchschnittliche Unternehmen in unserer Region hat weniger als zehn Mitarbeiter, also wir sind einfach KMU, Klein und Mittelstand geprägt, das K manchmal sogar noch klein geschrieben. Und insofern ist natürlich das Wegbrechen eines so zentralen Unternehmens wie Siemens mit so vielen Zulieferern, hat klar Auswirkungen auf Zulieferer in der ersten, zweiten, vielleicht sogar in der dritten Kette."
Wirtschaft ist in einer Phase der Konsolidierung
Neben Siemens überlegt auch der Waggonhersteller Bombardier, sich aus der Region zurückzuziehen. Der Rückzug treffe die regionale Wirtschaft in einer Phase der Konsolidierung, sagt Wippel. Er lobt den Wirtschaftsstandort Görlitz als attraktiv für Unternehmer:
"Also erstmal findet er qualifizierte Arbeitsplätze, das ist so. Die sind eben da, wir sind Hochschulstandort, wir haben eine sehr ausgebaute Kindergarten-, Schullandschaft, das muss man der Stadt hoch anrechnen, da sind die Hausaufgaben gemacht worden in den letzten Jahren. Was jetzt dran ist, ist das Primat der Wirtschaft vor der Kultur. Ohne Wirtschaft ist alles nichts, und Kultur ist halt nicht alles, und das muss hier halt gefördert werden."
Wippel fordert eine niedrigere Gewerbesteuer. Auch er verweist auf die fehlende Elektrifizierung der Bahnstrecke zwischen Görlitz und Dresden, die ständig überlastete Autobahn 4.
"Wenn ich als Unternehmen nach Görlitz komme, dann frage ich erstmal nach Fläche in Größenordnung X, und dann frage ich, wie komme ich dahin, also Nahverkehr. Und wie ist die Internetanbindung."
Weniger als 100 Kilometer sind es von Dresden nach Görlitz, die Regionalzüge brauchen dafür eine Stunde 15 Minuten. Jede zweite Stunde dauert es mit Unterwegshalten deutlich länger. Jan Otto ist viel unterwegs und würde gern öfter den Zug nehmen, aber der sei zu langsam. Otto ist Lokführer und Erster Bevollmächtigter der IG Metall für Ostsachsen. Ein schwieriges Pflaster für Gewerkschaftler, sagt er:
"Wir haben viele Metallbetriebe, als wir sie angefasst haben, wussten wir das noch gar nicht, die eben knapp über dem Mindestlohn gerade bezahlt haben. Da erzählen dann die Arbeitgeber natürlich anderen Unfug und rechnen das schön. Aber die Wahrheit ist, es gibt ein Gap im Lohn, der ist riesengroß. Es gehen leider viele junge, das ist auch die große Angst, die ich jetzt in Bezug auf Siemens und Bombardier habe, dass die jungen Kolleginnen und Kollegendiese Gegend verlassen."
Die AfD hat hier die meisten Stimmen geholt
Otto will kämpfen, die drohende Schließung des Siemens-Werks abwenden. Er erlebe derzeit eine ungewohnte Unterstützung für die Gewerkschaft. Gerade in einer Region, in der die AfD die meisten Stimmen bei der Bundestagswahl geholt hat, sei dies aber auch dringend notwendig.
"Ich sehe sonst auch eine Gefahr für Ostsachsen in Gänze. Wir müssen diesen industriellen Aufschwung auch begleiten. Und ja, wir können ganz viel als IG Metall, wir sind da auch hinterher, wir wachsen auch seit zweieinhalb Jahren massiv. Aber wir erwarten natürlich schon, dass es eine vernünftige Strukturgibt, in der wir uns auch bewegen können, ohne jedes Mal das Gefühl zuhaben, dass wir Revolution machen."
Der Gewerkschafter Otto erhofft sich Unterstützung für den Görlitzer Kampf um die Arbeitsplätze bei Siemens: Für die nächste große Demonstration im Januar hat er Bundeskanzlerin Merkel eingeladen.