Eine Millionenstadt des Mittelalters
Archäologische Sensationsfunde in der Nähe der berühmten Tempelanlage bei Angkor Wat machen Schlagzeilen. Was ist dran an diesen Meldungen? Unsere Korrespondentin ist aufs Moped gestiegen, um im kambodschanischen Dschungel nachzusehen.
Der Weg zur verlorenen Stadt führt über halsbrecherische Bergstrecken, löchrige Holzbohlenbrücken, Wasserläufe, Sandlöcher, hitzeflirrende Plateaus, die nur von Grillen beherrscht scheinen, wurzelüberwucherte Pfade, weiter durch den Wald, bis hoch oben und versteckt auf dem heiligen Berg Phnom Kulen eine kleine Behausung von weißgekleideten Mönchen anzutreffen ist.
Von dort geht es nur noch zu Fuß weiter, vorsichtig, auf keinen Fall den schmalen Pfad verlassen – in diesem Gebiet finden sich, wie an so vielen anderen in Kambodscha, noch amerikanische Landminen. Es stinkt nach Fledermaus, tief in den Felsen, die den Weg flankieren, liegt eine heilige Höhle. Und weiter, in Indiana Jones-Manier. Plötzlich stehen sie da, tief im Wald, die Hüter des Berges: ein Elefant, zwei Löwen, ein Frosch, ein Bulle.
Weiter vorne ein rundes, wassergefülltes Loch, der Elefantenteich, die Quelle alles Wassers von Kambodscha, Sra Damrei. Und damit auch die Quelle der Kraft des mächtigen Khmer-Imperiums. Zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert blühten hier Städte, deren Herz die riesigen hinduistischen Tempelanlagen wie Angkor Wat waren und deren Lebensadern die umfangreichen Bewässerungskanäle. Auch hier unter dem Wald ruhen frühe Städte wie – Mahendraparvata.
Woher das bekannt ist? Indiana Jones käme hier am Boden nicht weiter, ein Laser hat, unten an einem Hubschrauber befestigt, aus der Luft die Landschaft gescannt – Lidar, eine Technologie, die in den vergangenen Jahren einen Quantensprung der Archäologie erlaubt hat.
"Das Neue an Lidar ist, dass er durch die Vegetation sehen kann und die Topographie unter dem Waldboden aufzeichnet."
Das hat sich Damian Evans von der Universität Sydney zusammen mit einem französischen Team zunutze gemacht, in einer ersten Befliegung 2012 und dann in einer nie dagewesenen Ausführlichkeit 2015. Die jetzt veröffentlichten Bilder zeigen alte Steinbrüche, elaborierte Bewässerungssysteme, urbane Anlagen, die zwischen den Tempeln existierten, ganze Städte, eine Millionenstadt, die tief im Mittelalter hier in Kambodscha existierte, die damals größte Stadt der Welt. Und die Forscher haben mysteriöse Muster gefunden, Schlangenlinien:
"Wir dachten, sie wären einzigartig für die Tempelanlage von Angkor Wat, also den größten Tempel hier aus dem 12. Jahrhundert, aber sie sind überall hier verteilt, sie könnten Gärten sein, auf jeden Fall sind sie mit Tempeln aus einer bestimmten Periode verbunden."
Wer einmal durch die Tempelanlagen gelaufen ist oder auch nur ansatzweise versucht hat, alle Tempel zu sehen, alle feinsten Reliefs zu bewundern, die Kämpfe der Götter und Dämonen, die Entstehung der Erde und des Götterbergs, der weiß, wie hoffnungslos das Unterfangen ist. Die Fläche, auf denen immer und immer neue Heiligtümer zu finden sind, plötzlich hier mitten im Dschungel, ist riesig, und die Verbindung dazwischen herzustellen, ganze Strukturen nachzuweisen, ist in dem waldüberwucherten Gebiet nicht einfach.
Der erste Blick auf urbane Strukturen
Da hilft Lidar, sagt auch Professor Hans Leisen von der Technischen Hochschule Köln, er leitet seit knapp 20 Jahren ein Konservierungsprojekt in und um Angkor Wat:
"Man sieht also unendlich viele Strukturen, die man bis jetzt nicht gekannt hat. Zwar war die Existenz einer Stadt auf dem Phnom Kulen schon bekannt, aber wie die Stadtstruktur tatsächlich war, das sieht man jetzt zum ersten Mal, also das ist schon ganz toll."
Das begeistert viele Wissenschaftler – dass der Nachweis der urbanen Strukturen das Imperium der Khmer sozusagen mit Leben füllt. Es stehen nicht mehr nur die Tempel im Mittelpunkt, die den Gottheiten und Königen und Hohepriestern galten, sondern die Existenz der normalen Bevölkerung.
Ob jetzt die Geschichte Südostasiens wirklich neu geschrieben werden muss, was das Ende des Khmer-Imperiums betrifft, wie Damian Evans sagt, das bezweifelt Hans Leisen:
"Der Niedergang des Reichs, das sind sicher multiple Faktoren, wie man das aus den neuen Bildern sehen will, weiß ich noch nicht genau, aber wir warten ab, wir warten auf die Interpretation, das ist sicher ganz spannend."
Eines ist auf jeden Fall klar: Die neuen Bilder sind das eine, aber das reicht nicht:
"Man braucht so genannten Ground Truth, man braucht unbedingt die Bodeninformation, die man stichpunktartig gewinnen muss, in diesem Fall archäologisch natürlich."
Also Zeit für Indiana Jones, wieder aufs Moped zu steigen.