Der Weltzeit-Podcast liefert Ihnen jede Woche seltene Einblicke in andere Länder. Hören Sie rein, wo es Fortschritte, Konflikte und Einzigartiges auf der Welt gibt.
"Er ist eher wie der Führer"
Kambodscha wird seit über drei Jahrzehnten von Ministerpräsident Hun Sen regiert, seit letztem Herbst ohne jegliche Opposition. Im Juli stehen Parlamentswahlen an. Kritische Medien wurden verboten. Doch die jungen Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern.
Vögel zwitschern, sattgrünes Gras wuchert auf Massengräbern, bunte Stoffbändchen bedecken den Exekutionsbaum – hier haben Pol Pots Schergen die Schädel der Kinder zerschmettert, erzählen die Fremdenführer. Um Munition zu sparen. Das Summen von Fliegenschwärmen, die Schreie und das Flehen erfüllten die Luft, es stank nach Blut, Schweiß, Urin und Kot. Jetzt duftet es nach Blumen. Vögel zwitschern.
"Massengrab für 166 Leichen ohne Kopf", steht auf dem Schild vor der unscheinbaren Kuhle im Gras. Man kann das Grauen schwer nachfühlen an diesem friedlichen Sommertag in der Gedenkstätte für die Opfer der Killing Fields, auch wenn da immer noch die eisernen Fussfesseln in den Beton der Zellen verschraubt sind. 50 Leute zusammengekettet an einer Stange auf nacktem Boden – Sonne taucht den Raum in freundliches Licht. Nur für die Überlebenden von damals ist das Grauen auch nach 40 Jahren noch präsent.
"Es kommt immer wieder hoch. Heute Morgen kamen mir die Tränen, und meine Kinder fragten: Warum weinst du. Und ich sagte: Weil ich meinen Vater und meine Schwester verloren habe und sie mein Baby getötet haben."
Sie kannten keine Barmherzigkeit
Die Opfer wohnen bis heute mit den Mördern ihrer Familien Tür an Tür. Viele der Roten-Khmer-Krieger waren nicht älter als 13, 14, 15 Jahre, als sie am 17. April 1975 in die Hauptstadt Pnom Phen einmarschierten. Fanatische Mädchen und Jungen in schwarzer Kluft der Roten Khmer, die nur das Leben als Soldaten und keine Barmherzigkeit kannten:
"Ich war damals ein schmächtiges Kerlchen, der Kleinste von Allen, aber die Leute haben meinen Namen mit Angst ausgesprochen. Unsere Führer sagten, wir müssten die Feinde töten, ohne Mitleid. Wir durften uns aussuchen, welche Waffen wir benutzen wollten. Aber ein Mörder? Nein, ich bin kein Mörder."
Die Killing Fields sind der Schlüssel zum Verständnis Kambodschas. So wie Auschwitz für das Deutschland der Nachkriegszeit. Es geht nicht um Vergleiche. Sondern um die tiefen Spuren, die dunkle Kapitel der Geschichte hinterlassen. Pol Pot ist der Bruder Nummer eins, dessen kommunistischer Traum das Leben seines Volkes zum Albtraum machte.
Ein einziges Bauernkollektiv wollte er aus Kambodscha machen. Innerhalb weniger Tage trieben seine Roten Khmer die Stadtbevölkerung auf die Reisfelder – Phnom Penh wurde zur Geisterstadt. Tausende starben an Hunger und Entkräftung auf diesen langen Märschen hinaus aufs Land. Industriebetriebe, Schulen, Kliniken, Banken wurden geschlossen, Geld abgeschafft, Bücher verbrannt, jegliche staatliche Infrastruktur zerschlagen.
Kambodscha leidet bis heute unter den Folgen und gilt als einer der am wenigsten entwickelten Staaten der Erde. Dem Land fehlt eine ganze Generation Lehrer, Ärzte, Professoren, Richter, Verwaltungsfachleute, Ingenieure. Fast die gesamte geistige Elite Kambodschas wurde ausgerottet oder ins Exil getrieben. Als die Armee Vietnams dem Spuk nach vier Jahren ein Ende machte, war die Bevölkerung verarmt, schlecht gebildet und gesundheitlich extrem schlecht versorgt.
Hören Sie auch unser Interview mit Naly Pilorge, kommissarische Leiterin der renommierten Menschenrechtsorganisation Licadho, über die politische Lage in Kambodscha und die Traumata der Vergangenheit.
"Wir müssen lernen, wie man lebt"
Der Politologe und Menschenrechtler Dr. Lao Mong Hai studierte in Wales, als Pol Pots Revolutionäre die Macht übernahmen. Später wirkte er mit am Friedensvertrag von Paris, der den Bürgerkrieg beendete. Erst danach – 1991 - kehrte er zurück in die Heimat. Heute ist er einer der schärfsten Kritiker des aktuellen kommunistischen Regimes.
"Wir müssen in Kambodscha lernen, wie man lebt. Wie man eine Gesellschaft bildet, eine Nation formt. Weil all die Elemente, die Menschen verbinden – Moral, Ethik, Tradition, Gerechtigkeit – all das wurde durch die Kommunisten zerstört. All die Bande, die Menschen miteinander verbinden. Wir wissen auch nicht, wie man Politik macht. Wie neigen dazu, alle abweichenden Meinungen und anderen Gruppen und Parteien als Feinde zu betrachten. Nicht als Konkurrenten und Mitbewerber – sondern als Feinde. So haben die Kommunisten es uns eingetrichtert. Nicht nur unter Pol Pot, sondern auch jetzt noch. Wir leben immer noch in einer Diktatur. Unser Premierminister ist das Gesetz. Er ist eher wie der Führer."
Partei-Parolen scheppern aus den Lautsprechern, junge Frauen und Männer mit blauen Mützen und T-Shirts laufen Fähnchen schwenkend durch die Straßen von Phnom Penh – ein wenig erinnert es an die FDJ-Aufmärsche im Ostberlin der früheren DDR, nur sehr viel wärmer. Und womöglich noch ein Stück gestelzter. Weil die Lustlosigkeit so unübersehbar ist – bei Akteuren wie Zuschauern.
Premierminister Hun Sen ist ein Apparatschik mit langer Funktionärslaufbahn und der Ausstrahlung des späten Erich Honecker. Er hat schon Pol Pot gedient als Kommandant während der Terrorherrschaft der Roten Khmer, und er gibt sich nicht einmal besondere Mühe, seine Demokratieverachtung zu verbergen. "Ich schwäche die Opposition nicht nur, ich mache sie tot", droht Hun Sen. "Und wenn sich welche für stark genug halten, um Demonstrationen zu veranstalten, werde ich die Hunde schlagen und in Käfige sperren."
Die Jugend hat die Nase voll
In Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh tobt das Leben. Menschen sitzen in Straßencafés und tanzen in Clubs, Mopeds quälen sich durch den Verkehrskollaps, Tuk-Tuk-Fahrer werben um Touristen, Restaurants bieten "Happiness Pizza" an, Pizza mit Haschisch. Aus Kneipen zieht der Rauch von Marihuana. Ein surrealer Kontrast zu den sozialistischen Spruchbändern und Wandparolen - Mischung aus Amsterdam und Ostberlin.
Und die Menschen scheinen so unglaublich jung – das Durchschnittalter in Kambodscha liegt bei knapp 22. Junge Männer und Frauen, die von den alten Parteikadern die Nase voll haben und ihren Anteil haben wollen am wachsenden, bescheidenem Wohlstand, der so ungleich verteilt ist. Frauen wie Sokni, die mit fünf Freundinnen die "Moto-Girls" gegründet hat und Touristen auf dem Rücksitz ihres Rollers zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt fährt.
"Wir bieten verschiedene Touren an. Die Stadtrundfahrt, die Nachtfahrt, die Fototour und Einkaufsparadies. Unsere Kunden kommen von überall her. Aus den USA, aus Kanada, England, Australien oder Hongkong. Der Kunde bekommt seinen eigenen Führer. Wir sind dabei nicht nur Fremdenführer, sondern so etwas wie ein Freund, der einem Anderen seine Stadt zeigt. Wir spulen nicht bloß ein Programm ab, sondern zeigen ihm, was ihn interessiert, wir wissen wo man günstig was einkaufen kann, wir handeln sogar für ihn. Wir kennen die besten Restaurants für kambodschanische Küche oder für High-Class. Und das Gute ist, mit einem Moped bleibt man nie im Stau stecken."
Geschickt lenkt die zierliche Frau ihr Moped durch das Verkehrschaos von Phnom Penh, schlängelt sich durch kilometerlange Staus, stoppt wenig später vor dem Denkmal für die kambodschanische Unabhängigkeit.
Zwölf Dollar pro Stunde nehmen die Moto Girls für ihre Touren, und sie kommen jeden Tag ins Gespräch mit Menschen aus anderen Ländern. Noch können die fünf jungen Frauen von den Einnahmen nicht leben – aber Sokni glaubt an die Zukunft ihrer Idee.
Die Alten teilen die Zuversicht der Jungen nicht
Ein alter Mann sitzt in einem Hauseingang auf dem Boden und schnippelt Gemüse. 64 Jahre ist er alt, wirkt aber sehr viel älter mit den tiefen Falten, Bartstoppeln, den Zahnruinen im Mund und der Resignation in den Augen. Die Zuversicht seiner jungen Landsleute teilt er nicht.
"Ich kann überleben mit meiner Rente. Gerade so. Wir bereiten Gemüse zu und verkaufen es auf dem Markt, meine Frau und ich. Wir dürfen nur nicht krank werden, das kann tödlich enden – weil Medizin für uns unerschwinglich ist."
Viele Ärzte verlangen Bargeld unter dem Tisch, bevor sie einen Patienten auch nur ansehen. Das staatliche Gesundheitssystem ist chronisch unterfinanziert, Ärzte verdienen einen Hungerlohn.
Auf dem Korruptionsindex von Transparency international nimmt Kambodscha Platz 150 von 168 ein. Korruption ist Alltag, und gerade deshalb wurde sie lange gar nicht als etwas Besonderes wahrgenommen und auch akzeptiert – Bestechungsgeld an Ärzte, Lehrer und Beamte zu zahlen ist einfach normal.
Vor allem die Jungen aber haben mehr und mehr die Nase voll von Vetternwirtschaft und Korruption, und auch vom ewigen Premier Hun Sen. Der ein offizielles Monatseinkommen von 1150 Dollar veröffentlicht, aber sich tatsächlich um Milliarden bereichert hat.
Mehr als 30 Radiostationen verboten
Radio Free Asia – ein nicht kommerzielles Radio mit Sitz in Washington – hat in der kambodschanischen Sprache Khmer gesendet, wurde von vielen regierungskritischen Sendern in Kambodscha ausgestrahlt. Gehört wurde es von vielen, die sich jenseits der staatlichen Propaganda informierten – und deshalb ist es seit kurzem verboten.
Auch "Voice of America" darf nicht mehr senden. Mehr als 30 Radiostationen hat die Regierung schließen lassen. "Abstieg in die offene Diktatur" – so lautete die Schlagzeile auf dem letzten Titel der "Cambodia Daily". Die unabhängige, englischsprachige Zeitung – in den 90ern gegründet von dem US-amerikanischen Journalisten Bernard Kister, um die Zivilgesellschaft Kambodschas zu stärken – musste schließen, weil sie eine astronomische Steuerschuld nicht zahlen konnte. Unter dem Motto "Ohne Furcht und Gefälligkeit" hatte die Cambodia Daily 24 Jahre lang über unliebsame Themen wie Korruption, Umweltzerstörung oder illegale Abholzung berichtet. Die Macht, Steuern zu erlassen, ist die Macht zu zerstören. Sagten die Herausgeber zu dem Steuerbescheid. Sechseinhalb Millionen Dollar für ein kleines Blatt mit 30 Mitarbeitern und einer Auflage von 5.000 – eine Phantasiesumme, um die unliebsame Zeitung kaputt zu machen.
China unterstützt Hun Sens Regime ohne moralische Vorgaben
Abstieg in die völlige Diktatur? Damit war ein Artikel über die Festnahme von Kambodschas Oppositionsführer überschrieben. Kem Sokha wird Hochverrat und ein von den USA gestützter Plan zur Machtergreifung vorgeworfen. Hun Sens Regime konnte sich mehr und mehr unabhängig machen von der Entwicklungshilfe des Westens mit seinen moralischen Vorgaben, weil Peking eingesprungen ist. China investiert massiv in die Infrastruktur des armen südostasiatischen Landes, unterstützt Pnom Pen auch militärisch – und erwartet dafür keine demokratischen Strukturen als Gegenleistungen.
Die Kommunalwahlen haben gezeigt, dass die Kriegsrhetorik Hun Sens nicht mehr automatisch funktioniert. "Die Kambodschanische Volkspartei muss Wahlen gewinnen und zwar jede Wahl…. Es wird Krieg geben, wenn die CPP nicht mehr das Land kontrolliert." Das ist sein Motto. Aber statt in 97 Prozent der Kommunen regiert die CPP jetzt nur noch in 70 Prozent.
Vor allem die jungen Menschen verkörpern daher für den Menschenrechtler Lao Mong Hai die Hoffnung auf ein besseres, freies, demokratisches Kambodscha:
"Erstens sind sie besser ernährt, als wir damals und zweitens besser ausgebildet und informiert. Die Regierung kann die Zeitungen zensieren, aber die Jungen haben die sozialen Medien, sie wissen was vor sich geht und wie das Ausland Kambodscha wahrnimmt. Sie haben sich verändert von Objekten zu Bürgern, sie sind politischer geworden, wir bekommen eine politische Nation. Ich habe große Hoffnungen, ich bin sehr optimistisch, was mein Volk angeht. Sie wissen, was sie nicht mehr wollen. Und was sie wollen. Sie fordern. Sie protestieren. Und sie lassen sich nicht mehr einschüchtern von den Drohungen der Regierung. Und das ist gut!"