Kamel Daoud: "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung"
aus dem Französischen von Claus Josten
Kiepenheuer & Witsch 2016
208 Seiten,17,99 EUR
Eine arabische Antwort auf Camus
In Albert Camus' berühmtem Roman "Der Fremde" ermordet die Hauptfigur Meursault einen Araber. Bei Camus bleibt das Mordopfer namenlos, Kamel Daoud gibt ihm einen Namen und eine Geschichte. Er schildert, was der Mord mit der Familie des Toten anrichtet.
Kamel Daoud legt in seinem ersten Roman den Finger in die Wunde des Konflikts zwischen Europa und den arabischen Kulturen. Der algerische Journalist ist prononcierter Kritiker seines Landes, der Instrumentalisierung des Islam als politischer Doktrin sowie der repressiven Moral in den islamischen Gesellschaften. Gleichzeitig ist er hochsensibel für post-kolonial geprägte Haltungen vieler Europäer in Bezug auf die Maghreb-Staaten.
"Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" ist die Fort- und Umschreibung eines der berühmtesten Bücher der Weltliteratur: Meursault heißt der Protagonist in Albert Camus' 1942 erschienenem existentialistischen Roman "Der Fremde". Dessen Kern ist die mehr oder weniger beiläufige und grundlose Ermordung eines Arabers durch den Franzosen Meursault.
Daoud gibt dem Opfer die Würde zurück
Wie schon andere Autoren vor ihm, arbeitet sich Kamel Daoud daran ab, dass Camus den Toten immer nur den "Araber" nennt – ihn damit nicht als Individuum, sondern als austauschbares Element einer anonymen Masse zeichnet. In seiner "Gegendarstellung" gibt Daoud diesem "Araber" einen Namen - und damit seine Würde und eine Geschichte, die er den Bruder des Ermordeten erzählen lässt.
Aus der Opfer-Perspektive schildert Daoud die psychische Zerstörung der Familie des Toten, aber auch die Rachegelüste von dessen Mutter, die letztlich in der willkürlichen Tötung eines Franzosen münden - Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Daoud schreibt aus der Sicht eines Algeriers, ohne jedoch die Schuld an den undemokratischen Zuständen in seinem Land allein der historischen Unterdrückung zuzuschreiben - was viele seiner Landsleute tun.
Kritik an Fundamentalismus und Kolonialismus
Das Buch ist nämlich auch eine grundlegende Kritik an den fundamentalistischen Entwicklungen in den arabischen Gesellschaften heute, insbesondere am Einfluss der Religion. So wie in Camus' Roman das Christentum als erstickend gezeichnet wird, so leidet Daouds Protagonist am Islam.
Dem Autor gelingt es meisterhaft, eine Art Ideologiekritik an Camus' kolonial geprägter Weltsicht mit einer kongenialen Fortschreibung des legendären Romans zu verbinden.
Brillant ist das Buch, weil es die Vorlage nicht denunziert oder zu widerlegen versucht. Vielmehr nimmt sein Held im Laufe der Erzählung immer mehr die charakterliche Disposition Meursaults an – und wird letztlich auch zu einem, der existentiell an der Welt leidet wie das berühmte Vorbild in "Der Fremde".
Daoud greift Camus' Sprache und Motive auf, er ist kein Bilderstürmer, sondern entwickelt das literarische Material weiter. "Stein um Stein von den ehemaligien Häusern der Kolonialherren nehmen", so lässt Daoud seinen Helden sagen, "um mein eigenes Haus zu bauen, meine eigene Sprache zu formen."
Verhältnis des Westens zur arabischen Welt
"Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" ist einer der anregendsten und wichtigsten Romane über das Verhältnis des Westens zur arabischen Welt. Sowohl wegen seiner interkulturellen Dimension als auch wegen seiner literarisch feinen Methode.
Für die Religionskritik in wurde Kamel Daoud von einem algerischen Salafisten mit einer Fatwa belegt. Das Buch, im französischen Original ein Bestseller, war 2014 in der Endauswahl für Frankreichs wichtigsten Literaturpreis, den "Prix Goncourt", und wurde schließlich in der Kategorie "bester Debütroman" ausgezeichnet. Der Autor ist seither ein begehrter Kommentator des Weltgeschehens, zuletzt auch in deutschsprachigen Medien. Er äußert sich auch politisch sehr differenziert, zuletzt etwa anlässlich der Ereignisse von Köln über das schwierige Verhältnis zum Körper in islamischen Gesellschaften.