Kamel Daoud: "Zobor"
Aus dem Französischen von Claus Josten
Kiepenheuer&Witsch, Köln 2019, 384 Seiten, 23 Euro
"Literatur wendet sich gegen jede Ordnung"
12:37 Minuten
Algeriens Präsident Bouteflika wird 82. Und dass er nun wohl keine weitere Amtszeit mehr anstrebt, ist den Protesten der Bevölkerung zu verdanken. Für Schriftsteller Kamel Daout hat Algerien nun die Chance, sich "seine Zukunft zu schaffen".
Joachim Scholl: Kamel Daoud wurde 1970 in Algerien geboren. Als Journalist hat er begonnen, inzwischen ist er auch als Schriftsteller bekannt mit Romanen, die zum Teil nur im Ausland veröffentlicht werden können, denn Kamel Daoud ist nicht nur ein scharfer Kritiker des politischen Regimes in seiner Heimat, sondern richtet sich auch entschieden gegen jedweden islamistischen Fundamentalismus – eine Haltung, die ihm sogar eine Fatwa, eine Todesdrohung eingebracht hat. Jetzt gibt es einen neuen Roman von Kamel Daoud auf Deutsch, deshalb ist der Autor auch in Deutschland, jetzt im Studio, guten Tag, bonjour, bienvenue im Deutschlandfunk Kultur, Monsieur Daoud!
Kamel Daoud: Bonjour et merci beaucoup!
Scholl: Wochenlang gab es Proteste, Demonstrationen gegen eine neue Amtszeit von Präsident Bouteflika, nun hat der 82-Jährige erklärt, nicht mehr anzutreten und die für den April anberaumten Wahlen wurden verschoben. Sehen Sie das als Erfolg, Monsieur Daoud? Wie schätzen Sie diese Entwicklung jetzt ein?
Daoud: Also es geht nicht um einen rein politischen Erfolg, es ist aber ein symbolischer Erfolg, das Mandat ist zurückgenommen worden. Der Clan und die Familie Bouteflikas haben versucht, ihn als lebenslangen Präsidenten zu installieren, aber das haben die Demonstranten, die großen Manifestationen, verhindert. Und das war wirklich spektakulär, selbst wenn man das vielleicht im Rest der Welt nicht wahrgenommen hat, dass die Algerier millionenfach auf die Straße gezogen sind. Ja, es ist ein symbolischer Sieg.
Seit 1962 herrscht in Algerien Demonstrationsverbot
Scholl: Sie haben die Proteste ja unterstützt und begrüßt, Kamel Daoud. Was erhoffen Sie sich als Schriftsteller und Journalist? Gibt es eine Chance, dass sich die Meinungsfreiheit verbessert?
Daoud: Es gibt wirklich in dieser Zeit jeden Freitag Demonstrationen. Es sind vor allen Dingen auch universitäre Vereinigungen, es sind Richter, es sind Anwälte, die auf die Straße gehen, das ist sehr wichtig, und das Allerwichtigste ist, dass der öffentliche Raum zurückerobert wird. Man muss wissen, dass es in Algerien seit jeher, seitdem es diesen Staat gibt, seit 1962, ein Demonstrationsverbot gab.
Und dass sich im Moment sämtliche Klassen mischen, dass das Volk gemeinsam auftritt, das ist eine große, große Errungenschaft. Zweitens ist es neu für uns, zu sehen, dass Frauen auf die Straße treten. Und drittens: Die Demonstranten äußern politische Forderungen, sie wollen kein fünftes Mandat von Bouteflika, sie wollen, dass die ganze Regierung abdankt, und sie fordern dies mit Freude, sie gehen mit Musik auf die Straße, sie haben Humor und die Slogans sind ganz, ganz toll. Und das Allerwichtigste ist, dass Freude zurückkehrt ins Leben der Menschen.
Scholl: Sie sind ja seit vielen Jahren von staatlicher Zensur betroffen, aber auch durch eine Fatwa fundamentalistischer Muslime, einer Todesdrohung also, ja, mit dem Leben bedroht. Können Sie sich vorstellen, dass für Sie sich auch die Dinge vielleicht ändern, verbessern werden?
Daoud: Also die Texte zirkulieren natürlich schon längst im Internet, denn das lässt sich nicht beschränken. Universitäten, Schulen, alle großen Institutionen standen unter Kontrolle des Staates, aber wir haben in Algerien 20 Millionen Facebook-Nutzer. Also man kann tatsächlich sagen, und ich empfinde das so: Das Internet hat uns befreit. Ich selber brauche keine Regierung, um meine Texte zu streuen, ich nutze verschiedene Plattformen, ich bin in den sozialen Netzwerken aktiv und erreiche einfach meine Leser.
Was wir brauchen ist eine politische Revolution und vor allen Dingen eine kulturelle Revolution. In Algerien geht es tatsächlich zu wie unter dem Stalinismus. Alles ist monopolisiert, und das muss aufgebrochen werden. Wir brauchen eine breite Debatte über den Islam, über den Islamismus, über Konservatismus und Laizität. Es gibt ein bekanntes Sprichwort, das in Algerien zirkuliert: Wir waren taub und stumm, Gott hat uns das Internet und die sozialen Netzwerke geschickt, um uns zu befreien.
Die Islamisten haben den Glauben der Menschen ausgebeutet
Scholl: Kommen wir zu Ihrem neuen Roman, Kamel Daoud, "Zabor", ist jetzt auf Deutsch erschienen, und darin schildern Sie, wie ein junger Mann versucht, sich von, ja, traditionellen Vorschriften, Regeln und Tabus zu befreien. Ist das auch eine Parabel auf die gegenwärtige Gesellschaft Algeriens? Ist sie noch stark in diesen Traditionen verhaftet?
Daoud: Ich denke, man kann jeden Roman auch als Beschreibung des Zustands eines Landes lesen, in dem er nun mal entstanden ist. Aber meine Romane sind an kein Land gebunden. Ich beschreibe die condition humaine, also man kann in Chile oder im Senegal ebenso verstehen. "Zabor", ja, er versucht, sich zu befreien, das ist ein Befreiungsschlag, den er lebt.
Die algerische Gesellschaft ist sehr konservativ und die Islamisten wie auch das Regime haben den Glauben der Menschen in gewisser Weise ausgebeutet. Die Islamisten bedienen eine Klientel. Die Gesellschaft ist tief religiös und, ja, sie ist so einfach sehr viel einfacher zu beherrschen. Der Konservatismus in Algerien ist so schwer verankert, dass ich keine genauen Prognosen wage, aber die Buntheit, die Durchmischtheit, die sich jetzt zeigt bei den Demonstrationen, gibt einem doch Hoffnung. Es ist noch nicht alles gewonnen, aber ich denke, wir haben eine Zukunft.
Scholl: Der Held Ismaël, der abfällig Zabor genannt wird, versucht, sich auch aus religiösen Rastern zu lösen. Wie riskant ist es, darüber in Algerien zu schreiben, wenn Sie sagen, die Gesellschaft sei so tief religiös, Monsieur Daoud? Wie groß ist der Einfluss des Islam?
Daoud: Wenn man einen Roman schreibt, bewegt man sich immer in diesem Umfeld. Fiktionen sind in Algerien nicht toleriert. In gewisser Weise bewegt man sich bei dem Verständnis der Literatur in dem Land immer in Konkurrenz zu dem Heiligen Buch, zum Koran. Ich selbst fühle mich aber, wenn ich schreibe, frei, sonst würde ich das nicht tun. Ich bin niemand, der nur lesen würde. Ich tue das, was ich machen möchte. Es ist kein Verbrechen, zu schreiben, und ich habe die Augen nicht zu senken, ich verstecke mich nicht schamvoll.
Schriftsteller im Übrigen bringen ja niemanden um. Trotz der Risiken, die ich eingehe, würde ich sagen, ich bin kein Märtyrer, ich lasse mich auch nicht zum Märtyrer machen, ich lebe, ich freue mich des Lebens, ich schreibe. Diejenigen, die die Religion vehement verteidigen, halten sich sehr oft, ja, geradezu für Götter, für die einzigen Erben der Religion, für die Besitzer der Religion. Das kann natürlich nicht angehen. Literatur per se wendet sich gegen jede Ordnung, sie ist gegen die Diktatur, sie tritt gegen Konservative an und gegen jede Form von Radikalisierung.
"Ja, ich glaube zutiefst an die Literatur"
Scholl: Ismaël, Zabor, hat eine besondere Gabe, er kann mit seinem Lesen, seinem Schreiben, seinem Erzählen den Tod aufhalten. Was ist das für ein Motiv, Kamel Daoud? Ist das eine Hommage an die Kraft der Literatur, die also jeden Widerstand, sogar den Tod, besiegen kann?
Daoud: Absolut. Ich glaube an die Kraft der Sprache und der Literatur. Literatur ist auch so etwas wie die einzige Ewigkeit, die uns gegeben ist. Der Rest hängt vom Glauben ab. Es gab Bücher, die sind vor 1000 Jahren geschrieben, die lese ich, es gibt Bücher, die sind 200 Jahre alt, ich kann sie verstehen. Literatur hilft den Menschen, ja, auf Reisen zu gehen, andere Kulturen zu entdecken, Humor zu entdecken, Menschen zu treffen.
Gerade wenn man in einem Land wie Algerien doch eingeschlossen lebt und einen sehr eingegrenzten Bewegungsraum hat, dann kann man sich über die Literatur in die Welt hineinbewegen. Warum greifen denn Diktatoren Schriftsteller immer als erste an? Ja, weil die Literatur Gewicht hat. Warum wiegt das, was vor mehreren tausend Jahren geschrieben wurde, schwer? Weil es wichtig war. Wenn man jemanden liebt, dann schreibt man seinen Namen auf, man ritzt ihn vielleicht in einen Baum ein, er bleibt dort, er bleibt ein Zeichen. Ja, ich glaube zutiefst an die Literatur.
Scholl: Ebenfalls im Roman wird das Thema Sexualität angesprochen. Sie haben sich ja schon häufig, Kamel Daoud, über das ja doch verklemmte Verhältnis der arabischen Kultur, Ihrer Meinung nach, zum Körper, zur Männlichkeit, zur Weiblichkeit geäußert. Darin liegt für Sie auch, ja, die tiefere Ursache vieler Probleme. Jetzt in dem Roman kommt das sehr explizit zur Sprache. Wie stark ist denn dieses Tabu in der algerischen Gesellschaft?
Daoud: Ja, es gibt eine Obsession der Islamisten, was den Körper angeht, den Körper als solchen, aber besonders natürlich den weiblichen Körper, der mit allen möglichen schlimmen Worten überzogen wird. Es gibt eine Obsession, eine Besessenheit, was das Tragen von Bikinis angeht, überhaupt von Kleidung, Nacktheit ist ein absolutes Tabu. Die Konservativen und auch das Regime, also die Regierung, sind ebenfalls besessen von dieser Frage, sie versuchen, den Körper, ja, quasi unsichtbar zu machen, weil der Körper für das Begehren steht.
Sie sind allesamt Puritaner. Der Körper selbst, was ist der? Einsam, Objekt von Begierde – selber Begierde empfinden, das ist etwas sehr Individuelles, jedes Mal, wenn man über Körper spricht. Der Körper wird, ja, zugerichtet, überzogen von Phantasmen. Ihn zu besitzen ist eine Obsession, und der weibliche Körper, den zu besitzen ist die größte Obsession. Es bleibt eine offene Frage und ein Problem in Algerien, aber es gibt sehr viele Gruppen, die für mehr Rechte und mehr Sichtbarkeit kämpfen. Nehmen Sie Ägypten zum Beispiel, dort riskiert eine Schauspielerin, weil sie einen etwas zu kurzen Rock getragen hat, tatsächlich Gefängnisstrafe. Es ist absolut surreal und tragisch.
Die Islamisten sind weniger organisiert als noch vor Jahren
Scholl: Wenn Sie eine Prognose wagen würden, Kamel Daoud, wird Algerien einen schönen Arabischen Frühling haben?
Daoud: Die Situation in Algerien, die wir erleben, ist absolut einzigartig. Es sind Tausende, Tausende, Tausende, die auf die Straße gehen und ohne Gewalt demonstrieren, sie sind absolut friedlich, und nach den Demonstrationen werden sogar die Straßen gesäubert und aufgeräumt. Sie gehen hinaus mit Freude. Es gibt also Gründe zu hoffen. Und vor allen Dingen haben die Algerier gesehen, was in Libyen passiert ist, in Syrien, im Jemen und in Ägypten, und sie wollen nicht dieselben Fehler begehen. Daher rührt ihr Pazifismus. Die Islamisten sind weniger organisiert als noch vor Jahren und sie sind in den Augen der Gesellschaft diskreditiert, man misstraut ihnen mittlerweile und man weiß, würde man sie wählen, man würde das Land glatt vor die Mauer fahren.
Aber natürlich haben die Fundamentalisten, die Islamisten, noch immer sehr viel Geld, sie haben Einfluss. Und diejenigen, die zurzeit demonstrieren, haben keine Führungspersönlichkeiten, das ist ein gewisses Problem, auch, dass der Konservatismus der algerischen Gesellschaft so tief verankert ist. Man könnte etwas Hoffnung verlieren, aber ich denke trotzdem, dass sich alles richten wird. Und dass Präsident Bouteflika dann doch darauf verzichten würde, sich noch einmal zur Wahl zu stellen, daran hätte man ja auch nicht gedacht. Es gibt also Gründe zu hoffen. Ich würde aber sagen, man sollte nicht die Zukunft lesen, sondern sie einfach selber herstellen und etwas für die Zukunft tun.
Scholl: Kamel Daoud, vielen Dank für dieses Gespräch, merci beaucoup pour la conversation!
Daoud: Merci à vous et pour vos questions.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.