Kamila Shamsie: Die Straße der Geschichtenerzähler
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Berlin Verlag, Berlin 2015
383 Seiten, 15,99 Euro
Geschichtsstunde über koloniale Unterdrückung
In "Die Straße der Geschichtenerzähler" wirft Kamila Shamsie zwei Perspektiven auf das Leben um 1914 im britisch verwalteten Peschawar. Sie schildert die völlig unterschiedlichen Welten einer emanzipierten englischen Archäologin und eines kriegsversehrten Pathanen.
Eine Liebesgeschichte, die nie sein darf, was sie sein möchte. Ein historischer Roman, der Klassen- und Rassendünkel anprangert und ein Stück unbewältigter britischer Kolonialgeschichte zeigt.
Die in Pakistan geborene, in London lebende Schriftstellerin Kamila Shamsie hat sich in ihrem fünften Roman der Geschichte und Geschichtsschreibung angenommen.
Es beginnt im 5. Jahrhundert vor Christus. Skylax, ein Sohn Kariens, eines kleinasiatischen Volksstammes, erkundet im Auftrag des persischen Königs den Indus, den mächtigsten Fluss des heutigen Pakistans. Auf seinem Haupt ein kostbarer Silberreif. Der wird im Roman noch eine dramatische Rolle spielen.
Die Überreste jenes alten Reiches der Perser zu suchen, hat sich die junge englische Archäologin Vivian Rose Spencer einer Gruppe von Archäologen angeschlossen. Sie graben 1914 an der türkischen Küste einen Tempelkomplex aus. Für eine junge Frau aus englischem Adel eine ungewöhnliche Aufgabe. Noch besitzen die Frauen in England kein Wahlrecht und gelten als unmündig. Dass sie sich in den türkischen Ausgräber Tahsin Bey verliebt, ist gesellschaftlich kaum akzeptabel.
Dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Vivian Rose kehrt nach England zurück, pflegt Verwundete, eine Aufgabe, die sie extrem mitnimmt. Von ihrem Geliebten fehlt jegliche Spur. Als sich ihr die Chance bietet, an einer Ausgrabung in Peschawar teilzunehmen, damals englisches Kolonialgebiet, zögert sie keine Sekunde. Hier, so behaupten alte Schriften, ist der legendäre Silberreif Skylax‘s vergraben.
Verstöße gegen das Rollenverständnis
In Peschawar kreuzt Vivian Roses Weg den der zweiten Hauptfigur, des Pathanen Qayyum Gul, der als Soldat eines indischen Bataillons an der Westfront mitgekämpft und dabei ein Auge verloren hat. Er kehrt desillusioniert in seine Heimat zurück, nachdem er miterlebt hat, dass indische Soldaten wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. Er schließt sich der gewaltlosen Widerstandsbewegung an.
Bleibt noch ein dritter Protagonist zu erwähnen: Najeeb, ein junger Pathane aus Peschawar, den Vivian Rose unter ihre Fittiche nimmt und dem sie Geschichtsunterricht gibt.
Kamila Shamsie zeigt eine emanzipierte Frau, die das Rollenverständnis ihrer Zeit nicht akzeptiert. Sie ist unverheiratet, läuft in einer Stadt, in der die einheimischen Frauen alle Burka tragen, unverschleiert herum, redet mit Männern. Sie begreift gar nicht, dass sie damit gegen die gesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens verstößt.
Kamila Shamie wechselt in ihrem konventionell erzählten Roman immer wieder die Perspektive: mal sehen wir die Ereignisse aus dem Blickwinkel der Engländerin, mal aus dem des kriegsversehrten Pathanen – zwei völlig verschiedene Welten. Vivian Rose nimmt die Demütigungen der Bevölkerung durch die Briten gar nicht wahr, begreift die Unterdrückung erst, als es zum gewaltlosen Protest kommt, der brutal und skrupellos von der britischen Armee zusammengeschossen wird. Ein historisches Massaker, bis heute offiziell von den Briten bagatellisiert. Eine unaufdringliche Geschichtsstunde über koloniale Unterdrückung, Emanzipation und Klassendenken, Widerstand und Freiheitssuche.