Kampf der Erinnerungskulturen

Der Kolonialverbrechen zu gedenken, heißt nicht, die Shoah zu vergessen

04:15 Minuten
In der Nähe des Bremer Hauptbahnhofs und der Bremer Bürgerweide steht ein zehn Meter hoher Backstein-Elefant, der 1932 als Reichskolonialehrenmal (oder auch: Deutsches Kolonial-Ehrenmal) enthüllt worden war und 1990 vom Bremer Senat zum ersten deutschen Anti-Kolonial-Denk-Mal umgewidmet wurde. Seit 2014 heißt die Grünfläche rund um den Kolonial-Elefanten Nelson-Mandela-Park, benannt nach dem südafrikanischen Freiheitskämpfer und späteren Staatspräsidenten Mandela. Das Monument wurde auf Betreiben der Deutschen Kolonialgesellschaft, Abteilung Bremen, aufgestellt und trug anfangs die Aufschrift: Unseren Kolonien. Der Entwurf stammt vom Bildhauer Fritz Behn, den Bau leitete der Architekt Otto Blendermann. Das SPD-geführte Bremen erklärte sich 1989 zur Stadt gegen Apartheid.
Der zehn Meter hohe Elefant in Bremen, früher "Reichskolonialehrenmal", wurde 1990 zum ersten deutschen Anti-Kolonialdenkmal umgewidmet. © imago / Eckhard Stengel
Ein Standpunkt von Andrea Geier |
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Führt die Beschäftigung mit den deutschen Kolonialverbrechen zu einer Relativierung des Holocaust, wie manche befürchten? Die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier hält dagegen: Die Erinnerung an eine Sache müsse nicht zu Lasten der anderen gehen.
Deutschland hat sich zu lange zu wenig mit seiner kolonialen Vergangenheit beschäftigt, und diese erinnerungskulturelle Lücke wird zunehmend anerkannt. Umstritten ist aber, welche Folgen sich daraus ergeben sollten, zum Beispiel für Institutionen wie Museen oder für die Gestaltung des öffentlichen Raumes durch Straßennamen und Denkmäler. In jüngster Zeit spitzt sich der Streit noch zu: Es wird gewarnt, dass mehr kolonialgeschichtliche Erinnerung ein Problem für die Erinnerung an die Shoah darstellen könnte.
Geht es um die Kolonialgeschichte, werden Forderungen nach einer Veränderung der Erinnerungskultur oft mit dem Argument zurückgewiesen, dass es sich um transnationale, irgendwie von außen an Deutschland herangetragene Ansprüche handele. Daraus spricht entweder eine bloße Abwehrhaltung, die deutsche Kolonialgeschichte im Vergleich mit der anderer europäischer Länder immer noch als weniger wichtig bewertet, oder ein falsches Verständnis globalen Erinnerns.
Transnationales Erinnern zielt nicht auf Vereinheitlichung nationaler Erinnerungsdiskurse, sondern auf eine Vernetzung, und das betrifft die Kolonialgeschichte und die NS-Geschichte. Gewaltgeschichten können miteinander verbunden sein. Es kann Vergleichsaspekte geben und ganz klare Unterschiede. Vor allem aber geht es darum, für das Erinnern in der Gegenwart voneinander zu lernen.
Denn jede Gesellschaft hat drei zentrale Aufgaben: Sie muss Formen entwickeln, an unterschiedliche historische Ereignisse der eigenen Geschichte zugleich zu erinnern. Sie muss heterogene Deutungen dieser Geschichten bearbeiten, also erinnerungspolitischen Konsens herstellen. Und in diesem Rahmen muss zugleich eine Weiterentwicklung stattfinden können.

Eine sichtbare Erweiterung der Erinnerung

In Berlin kann man vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas zum Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas gehen. Es ist eine sichtbare Erweiterung der Erinnerung. Besucht man anschließend das neu eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung und Versöhnung, kann man über den erinnerungspolitischen Appellcharakter der ausgestellten globalen Vertreibungs- und Fluchtgeschichten nachdenken und über ein umkämpftes nationales Gedächtnis. In der Bundesrepublik war die Erinnerung an die Vertreibung Deutscher nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch lange durch Aufrechnung von Opfern und fehlende historische Einordnung geprägt. Es ist ein Beispiel dafür, wie politische Instrumentalisierung von Erfahrung einen erinnerungspolitischen Konsens erschwerte und gefährdete.
Die herausfordernde Aufgabe besteht also darin, sowohl Angriffe auf die Erinnerungskultur abzuwehren, die die Shoah marginalisieren und historisches Wissen ignorieren, als auch Kritik zu prüfen und Forderungen nach Veränderung nicht pauschal zu diskreditieren. Man könnte es auf die Formel bringen: Heterogenität des Erinnerns bekämpfen und Pluralisierung der Erinnerungskultur ermöglichen.

Sowohl Antisemitismus als auch Rassismus bekämpfen

Die Erinnerung an die Shoah hat zu Recht eine besondere Bedeutung für unser nationales Selbstverständnis. Dass wir uns als eine postnationalsozialistische Gesellschaft wahrnehmen, stellt Ansprüche an uns. In diesem Sinne sollten wir auch ein postkoloniales Selbstverständnis entwickeln. Dass eine plurale Erinnerungskultur eng verknüpft ist mit der Frage nach Zugehörigkeit in einer diversen Gesellschaft, zeigt sich gerade an ihren gegenwartsbezogenen Aufgaben: Wir müssen nicht entweder Antisemitismus oder Rassismus bekämpfen, sondern selbstverständlich beides.
Denkmäler sind ein kleiner, aber nicht unbedeutender Teil dieser Erinnerungskultur. Könnte man in Berlin auch ein Mahnmal für die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft besuchen, nähme das der Erinnerung an die NS-Geschichte nichts weg. Es wäre aber ein Zeichen, dass sich das Deutschland der Gegenwart auch zu seiner kolonialgeschichtlichen Vergangenheit bekennt.

Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Genderforschung an der Universität Trier. Seit 2010 ist sie im Vorstand des Centrums für Postcolonial und Gender Studies und seit 2020 im Vorstand der Fachgesellschaft Geschlechterstudien.

Andrea Geier posiert für ein Foto.
© privat / Andrea Geier
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