"Wir müssen den Sunniten eine Alternative bieten"
Der sogenannte "Islamische Staat" sei jahrelang sträflich unterschätzt worden, sagt der Journalist Christoph Reuter. Eine nur militärische Strategie könne wenig bewirken: Man müsse den Sunniten in Syrien wie im Irak vielmehr eine identitätsstiftende Alternative bieten.
Liane von Billerbeck: Die Terrororganisation Islamischer Staat und die Bedrohung, die von ihr ausgeht, das war eines der Themen, das uns dieses Jahr ganz besonders beschäftigt hat: Die Bedrohung durch den IS für Syrien, den Nordirak und die ganze Region, aber auch – und zwar nicht erst seit den Anschlägen von Paris – für Europa.
Dieser Tage nun sollen irakische Regierungstruppen Teile der Stadt Ramadi eingenommen haben. Obwohl, man kann auch das nicht genau sagen, denn die Berichte sind noch nicht ganz klar. Immerhin kommen in so einem Moment immer wieder Hoffnungen auf, dass der sogenannte IS vielleicht doch noch besiegt werden könnte. Die Frage lautet schlicht: Wie? Militärisch oder braucht es da andere Strategien?
Darüber habe ich vor der Sendung mit Christoph Reuter gesprochen, einem der wohl besten Kenner des IS. Der preisgekrönte Journalist arbeitet als Reporter beim "Spiegel", bereist immer wieder den Nahen Osten und hat dieses Jahr ein kenntnisreiches Buch über den IS geschrieben. Herr Reuter, ich grüße Sie!
Eine "hochintelligente Organisation"
Christoph Reuter: Grüße Sie, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Wir sprechen – und ich habe das ja eben auch wieder getan – immer vom sogenannten Islamischen Staat, um uns von dessen begrifflicher Selbstermächtigung abzugrenzen. Wie sehen Sie denn das, wer oder was ist der IS?
Reuter: Es ist eine hoch intelligente Organisation, die sich in ganz, ganz vielen Dingen komplett von dem unterscheidet, was wir kannten bislang. Wir kannten Al Kaida, wir kannten dschihadistische Grüppchen, die geführt werden, wurden von Männern ausschließlich, die über die Jahre sozusagen beim Gang durch die Institutionen an die Macht gekommen sind. Also Gläubige, Leute, die in radikalen Bewegungen groß geworden waren.
Der IS ist 2010 in seiner innersten Spitze übernommen worden von ehemaligen Offizieren von Saddams Geheimdiensten, seinen Special Forces, von Parteifunktionären, die 2003 komplett von der Macht verbannt worden waren nach dem Einmarsch der Amerikaner und einen langen Weg zurückgelegt haben, bis sie an der Spitze der wirkmächtigsten Organisation gekommen sind, die sie finden konnten.
Nämlich: Man benutzt den Islam, kombiniert das aber mit dem, was all die anderen Dschihadisten nicht haben, nämlich jahrzehntelange Erfahrung im Machtaufbau, Infiltration, Unterwanderung, Herrschaft. All das, was der IS eben tut, immer unter dem Deckmäntelchen: Wir sind ja nur gläubige Menschen. Aber was im Innersten passiert, das ist kühle Rationalität und Planung. Und das war der Kern, der seinen Aufstieg ermöglicht hat. Und was auch dazu beigetragen hat, das wir ihn jahrelang so sträflich unterschätzt haben.
Rückeroberung reicht nicht aus
von Billerbeck: Deshalb kann man sich auch gar keine Hoffnungen machen, wenn jetzt eine Stadt wie Ramadi tatsächlich eingenommen sein sollte und der IS sie verloren hat? Das heißt, das ist eine Strategie, die da benötigt ist, die kann nicht so ganz platt – einfach nur militärisch Luftschläge und dann klappt das irgendwann – funktionieren?
Reuter: Nein, weil die Rückeroberung, selbst wenn es jetzt funktioniert hat – und das wäre dann sehr viel schneller gegangen als bei Tikrit oder bei Baidschi, anderen irakischen Städten, wo es Monate gedauert hat –, wenn die Rückeroberung geklappt hat, ist die große Kernfrage, die sich anschließt: Was wird denn dann aus dieser Stadt?
Wir waren im Sommer unterwegs in Tikrit, in Baidschi, als dort noch gekämpft wurde. Und der gesamte Norden, ungefähr zwei Stunden Autofahrt nördlich von Bagdad bis nach Baidschi rauf, ist menschenleeres Gebiet! Die Sunniten, die dort gelebt haben, durften nicht zurückkehren. Denen wurde gesagt, nein, nein, wer da unter dem IS gelebt hat, das sind alles Terroristen, denen trauen wir nicht. Das waren menschenleere Städte, menschenleere Dörfer. Wenn Ramadi ein ähnliches Schicksal erleidet und die ehemaligen Bewohner jetzt wie die von Baidschi, Tikrit, Falludscha und so weiter in irgendwelchen Behelfscamps zwischen den Provinzgrenzen leben müssen - dann wird man sicher davon ausgehen können, dass in absehbarer Zeit der IS zurückkommen wird und diese Städte wieder erobern wird.
Sunniten fühlen sich als Bürger zweiter Klasse
von Billerbeck: Wenn aber die militärische Option keine ist, wie Sie es ja gerade auch erklärt haben, weil es eben so eine sehr flexible Organisation ist, der IS, mit dem man es hier zu tun hat, welche Option sehen Sie denn?
Reuter: Das Kernwort hieße: Alternative. Für die Sunniten! Sowohl in Syrien wie im Irak muss es eine respektvolle Alternative geben zum IS. Wenn die Sunniten im Irak das Gefühl haben, wir werden von diesem Staat, von diesem konfessionellen Staat, wo die anderen die Macht haben, behandelt als Bürger zweiter Klasse oder gleich als potenzielle Terroristen, dann landen sie irgendwann beim IS.
Wenn in Syrien die Richtung dahingeht, dass der Westen sich, um gegen den IS zu kämpfen, nun doch mit Assad verbündet und, ob er will oder nicht, damit 80.000 bis 100.000 sunnitische Rebellen zu Feinden des Westens macht, dann haben die Sunniten auch dort keine Alternative mehr. Das bräuchten wir aber.
Es muss für die Leute, die dort leben, wo der IS herrscht oder herrschen will, eine Alternative geben, wo sie nicht in ihrer Identität bedroht sind, wo sie nicht sich nur noch einem Diktator oder einer schiitischen Apartheidsregierung unterwerfen können. Sondern wo sie als gleichberechtigte Menschen ungefähr so leben können, wie sie leben wollen.
Das Problem ist, speziell was Syrien angeht: Wir haben diesen Krieg einfach drei, vier Jahre lang weitgehend ignoriert und stehen jetzt vor den Folgen, dass wir zwei Kriege haben, aber partout nur einen führen wollen, nämlich gegen den IS, den wir aber nicht erfolgreich führen können, wenn wir den anderen nicht zu einer nachhaltigen Lösung bringen.
Luftangriffe bedrohen Führungsspektrum des IS
von Billerbeck: Eine Frage zum Schluss, denn irgendwie am Jahresende möchte man immer so was wie das Prinzip Hoffnung haben: Eine Diktatur – und wir haben das bei vielen Diktaturen erlebt –, der droht meistens am Ende Gefahr von innen. Ist das beim IS auch so? Woher droht dem IS die möglicherweise größte Gefahr?
Reuter: Kurioserweise schon durch die Luftangriffe. Und zwar dergestalt, dass bei diesen Luftangriffen der Amerikaner immer wieder einzelne Personen aus dem nicht religiösen Führungsspektrum ums Leben gekommen sind. Der IS hat zwei Führungen: Der hat die Religiösen, so einen Mittelbau, und an der Topspitze sitzen eben alte Offiziere. Die kann man aber nicht ersetzen. Wenn von denen einer tot ist, man kann nicht sich einen Mann mit 30 Jahren Geheimdiensterfahrung schnitzen, der wächst auch nicht so schnell nach durch die Ränge dschihadistischer Zirkel.
Das heißt, wenn von denen zu viele tot sind, dann wird das Gleichgewicht, das man heute hat – einerseits sich glaubensfanatisch zu geben, aber im Innersten sehr, sehr genau planen, wann greifen wir an, wann ziehen wir uns zurück –, diese Planung wird man dann nicht mehr führen können. Und dann werden sie Fehler machen. Und dann ist in der Tat das hoffnungsvolle Risiko da, dass sie einfach innerlich implodieren, weil die Leute, die von ihnen beherrscht werden, in der großen Masse nicht glücklich sind darüber, um es milde zu formulieren.
von Billerbeck: Christoph Reuter, der "Spiegel"-Reporter und Buchautor mit seinen Einschätzungen über den sogenannten Islamischen Staat. Ich danke Ihnen und alles Gute für Sie!
Reuter: Gerne, danke!
von Billerbeck: Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet. Und wenn Sie das Buch von Christoph Reuter lesen wollen, das heißt "Die schwarze Macht. Der "Islamische Staat" und die Strategen des Terrors" und ist bei dva erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.