Jeremy Scahill: Schmutzige Kriege
Amerikas geheime Kommandoaktionen
Verlag Antje Kunstmann München
720 Seiten, € 29,95 (als Ebook € 22,99)
Die Welt als Kriegsschauplatz
Nie waren Spionagedienste in den USA mächtiger als heute. Investigative amerikanische Journalisten haben in den vergangenen Jahren viel Material gesammelt, mit dem sie beweisen wollen, dass die USA heimliche Kriege führen - und dass NATO-Partnerländer für diese Kämpfe instrumentalisiert werden. Jeremy Scahill ist einer von ihnen.
Nachdem der US-Präsident George W. Bush unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 den globalen Krieg gegen den Terror ausgerufen hatte, wagte die damalige Nummer drei der CIA, Buzzy Krongard, eine Prophezeiung. Er sagte, dieser Krieg werde…
"…weitgehend von Einsatzkräften gewonnen werden, die Sie nicht kennen, durch Aktionen, von denen Sie nichts sehen werden, und auf eine Art und Weise, von der sie wahrscheinlich gar nichts wissen wollen."
Dieser Mann strotzte vor Optimismus. Von einem Sieg kann noch immer keine Rede sein. Und dank der Arbeit von Reportern wie Jeremy Scahill wächst nicht nur das Wissen über Amerikas geheime Kommandoaktionen, sondern auch die Empörung über die Art und Weise, in der sie durchgeführt wurden. Und in der sie unter Führung des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama noch forciert werden.
Angriff der Neokonservativen
Was Scahill als erfolgreichen Angriff der Neokonservativen gegen das "200 Jahre alte demokratische System der Gewaltenteilung" versteht, sei unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 beschleunigt worden.
"Die Präsidentschaft stellten sie sich als eine Diktatur der nationalen Sicherheit vor, rechenschaftspflichtig ausschließlich der eigenen Auffassung davon, was für das Land das Beste sei."
Treibende Kräfte seien Außenminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney gewesen, die parallel zur CIA den Aufbau einer militärischen Eliteeinheit betrieben. Ihr Einsatzprinzip wurde mit einem dreifachen "F" umrissen:
"Find, Fix, Finish – (Finden, Festnageln und Fertigmachen)."
Binnen kurzer Zeit wurde diese Operation…
"…zur effektivsten Tötungs- und Gefangennahmemaschinerie, die die Welt je gesehen hatte – eine die ihrer Anlage nach niemandem außer dem Präsidenten und seinem inneren Zirkel rechenschaftspflichtig war."
Seitdem der Demokrat Obama den Republikaner Bush abgelöst hat, ist diese Maschine dank verbesserter elektronischer Abhör- und Kampfmittel noch effektiver geworden. Doch selbst der Triumph, den die Tötung Osama bin Ladens dem Präsidenten beschert hat, kann deren Schattenseiten nicht überstrahlen. In Scahills material- und perspektivreicher Darstellung des Pro und Contra der geheimen Kommandoaktionen Amerikas findet sich als roter Faden eine muslimische Hiobsgeschichte. Denn wenn die Männer der Eliteeinheiten oder deren Drohnen einmal auf dem Weg sind, spiele die Unschuldsvermutung keine Rolle mehr:
"Wenn sie hinter einer Person her sind und es befinden sich weitere 34 in dem Gebäude, dann werden 35 Personen sterben."
Scahill schildert die Geschichte eines jemenitischen Professors für Agrarwissenschaft Nasser al-Awlaki. Dem war klar, dass sich sein Sohn Anwar in Lebensgefahr befand. Als Anfang 2010 öffentlich bekannt wurde, dass dessen Tötung bevorstand, schrieb der Vater einen Brief an Barack Obama und charakterisierte seinen 1971 in den USA geborenen Sohn als einen tief religiösen Prediger, der niemals Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen sei:
"Deshalb hoffe ich, dass Sie ihren Befehl überdenken, meinen Sohn in der irrigen Annahme gefangen zu nehmen oder zu töten, er sei ein Mitglied von al-Qaida."
Auch den Enkel verloren
Eine Antwort habe der besorgte Vater nie erhalten, schreibt Scahill. Zumindest keine schriftliche. Am 30. September 2011 um 9.55 Uhr Ortszeit feuerten im Jemen zwei Drohnen ihre Hellfire-Raketen ab, die Anwar al-Awlaki und dessen Begleiter zerrissen. Und wie ein zynisches Postskriptum mutet es an, dass Nasser al-Awlaki, der vor Jahrzehnten als Student in die USA gekommen war, zwei Wochen nach dem Tod seines Sohns auch seinen Enkel durch einen amerikanischen Drohnenangriff verlieren sollte – einen 16-jährigen Teenager, der wie sein Vater in den USA geboren worden war.
Anwar al-Awlaki war zweifellos ein Hassprediger, aber sein minderjähriger Sohn fiel dem zum Opfer, was man als "Signature Strikes" bezeichnet – als Tötung von Personen, die in ein sehr weit gefasstes Feindbild passen:
"Die CIA meinte, "Männer im Militärdienstalter", die in einer bestimmten Region großen Versammlungen beiwohnten oder Kontakte mit anderen mutmaßlichen Militanten hätten, könne man mit Fug und Recht als Ziele für Drohnenangriffe betrachten."
Die Welt ist zum Schauplatz des Krieges geworden
Was die neonkonservativen Zauberlehrlinge gesät haben, ist unter Obama erst richtig aufgegangen. Scahill zitiert dazu den Menschenrechtsanwalt Scott Horton:
"Plötzlich ist der gesamte Globus zum Kriegsschauplatz geworden. Und man erwägt die Möglichkeit, Leute in Hamburg, Deutschland, in Norwegen oder Italien ebenso zu ermorden wie in Marokko, Jordanien, dem Jemen und Staaten am Horn von Afrika."
Wer Scahills Buch gelesen hat, kann sich nur wundern, zu welcher Gelassenheit manche deutsche Politiker und Medien angesichts der NSA-Affäre mahnen. Wo Bürger- und Menschenrechte, wo die Unschuldsvermutung nichts gilt, ist es mehr als naiv, darauf zu vertrauen, dass man ja nicht Böses im Sinn und nicht zu verbergen habe. Am Beispiel der Awlakis zeigt Scahill, wie sich rund um die Ziele dieses schmutzigen Krieges ein rechtliches Vakuum auftut, in dem auch Unschuldige ohne Möglichkeit zur Verteidigung untergehen. Die Verfassung der USA, die Menschenrechte, das internationale Recht würden so immer weiter zersetzt. Doch wer sich darüber empört, der muss damit rechnen, ebenso erfasst zu werden wie die Angehörigen menschlicher Kollateralschäden, denen man zweifellos feindliche Gefühle gegenüber den USA unterstellen darf.
Jeremy Scahill zeigt auf erschreckend genaue und differenzierte Weise, wie die USA im Krieg gegen den Terror mit jedem vermeintlichen Erfolg neue Feinde und neue Ziele hinzugewinnen. Ein wirklicher Sieg ist deshalb nicht in Aussicht, und der Autor schließt mit einem Appell an seine Landsleute:
"Es bleibt die quälende Frage, die sich alle Amerikaner stellen müssen. Wie soll ein solcher Krieg jemals enden?"