Kampf um Akzeptanz
Zygmunt Bauman zählt zu den Altmeistern der soziologischen Zeitdiagnose. Mit breiten Strichen skizziert seine kleine Schrift "Gemeinschaften" das Schicksal der Gemeinschaft in der spätmodernen Welt.
Sie versprechen Wärme, Verständnis und Geborgenheit und fordern dafür Treue, Einigkeit und Konformität. Gemeinschaften sind überaus janusköpfige Sozialgebilde. Was sie an Verlässlichkeit geben, rauben sie an Unabhängigkeit. Was sie an Brüderlichkeit schenken, erzwingen sie durch Abgrenzung und Ausschluss.
"Ein Mehr an Sicherheit verlangt stets Opfer auf dem Gebiet der Freiheit, und ein Zugewinn an Freiheit lässt sich nur auf Kosten der Sicherheit erreichen. Doch Sicherheit ohne Freiheit ist praktisch Sklaverei; und Freiheit ohne Sicherheit ist eine Art Selbstaufgabe."
Zygmunt Bauman zählt zu den Altmeistern der soziologischen Zeitdiagnose. Mit breiten Strichen skizziert seine kleine Schrift, die im englischen Original bereits 2001 erschienen ist, das Schicksal der Gemeinschaft in der spätmodernen Welt. Schon der Aufstieg des Kapitalismus hatte die Handwerker aus den alten Netzwerken herausgerissen und ihre Arbeit der tradierten Bedeutung beraubt.
Seitdem muss sich jedes Betriebsmanagement um die Arbeitsmoral sorgen und immer wieder Gemeinschaften erfinden oder zumindest eine Fiktion davon. Mittlerweile jedoch greift soziale Herrschaft weniger auf Zwang und Disziplin zurück als auf Angst und Vereinzelung.
"Sie hat eine neue, weniger beschwerliche und weniger aufwendige Grundlage: die Ungewissheit der Beherrschten, die Unsicherheit der sozialen Stellung, die Ungewissheit des zukünftigen Auskommens sowie das überwältigende Gefühl, keinen Einfluss auf die Dinge zu haben."
Prekäre Verhältnisse nennt man diese soziale Lage neuerdings. Da im Labyrinth der flexiblen Gesellschaft ein sozialer Gegner kaum mehr auszumachen ist, sind auch die Chancen zur kollektiven Gegenwehr geschwunden. Die Begüterten haben sich aus der Gesellschaft zurückgezogen und führen hinter bewachten Mauern ein Leben ohne Gemeinschaft, ohne lokale Ortsbindung und - zumindest bis zur jüngsten Wirtschaftskrise - ohne Bedarf nach staatlicher Intervention.
In der Gesellschaft der Individuen bevorzugt man lockere Bindungen, die niemanden einschränken, aber auch keinen unterstützen. Man verfolgt eine Lebenspolitik, die immerzu nach Identität und Abwechslung sucht. Statt moralischer Pflichten bevorzugt man flüchtige Geselligkeiten und eine Art ästhetischer Gemeinschaft, deren Leitbilder Prominente und deren Anlässe nur flüchtige Episoden sind: ein Popfestival, ein Fußballendspiel, ein neues Diätprogramm oder das Gerücht, in den Regalen der Supermärkte lagerten verseuchte Lebensmittel.
"Geschichten über unglückliche Kindheiten und gescheiterte Ehen schenken jedem, der ihnen lauscht, eine Gewissheit: Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, weil jedes ihrer Mitglieder ganz auf sich gestellt gegen das Alleinsein kämpft."
Zu einer ethischen Gemeinschaft gegenseitiger Verantwortung und langfristiger Verpflichtung ist die spätmoderne Gesellschaft laut Bauman außerstande. Dafür tobt ein Kampf um Akzeptanz, um Vergnügen und Lebensglück. Die Menschen rebellieren nicht, wenn sich ihre Lage plötzlich verschlechtert, sondern wenn sie im sozialen Vergleich schlechter abschneiden.
Nicht materielle Gerechtigkeit, sondern die Anerkennung kultureller Unterschiede ist das Hauptthema gegenwärtiger Diskurse und Konflikte. Nicht nur der Staat hat sich aus der Gesellschaft zurückgezogen, auch die Wissenselite hat sich aus den Niederungen des Verteilungskampfes verabschiedet. Ihre angestammte Aufgabe bleibt sie schuldig: die Aufklärung des Volkes. Sie ergeht sich nur mehr in der Proklamation persönlicher Rechte und kultureller Differenzen.
Die einzige Gemeinschaft, die den Namen verdient, ist die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen, der Zuwanderer und ethnischen Minderheiten. Der Wechselwirkung von Ausschluss und Selbsteinschluss, von unberechenbarer Mehrheitsgesellschaft und rigider Minderheitsgemeinschaft widmet Bauman eindrückliche Passagen. Der Teufelskreis gegenseitiger Ausschließung führt zum Festungsdenken auf beiden Seiten und endet früher oder später im sozialen Gefängnis des Ghettos. In der geschlossen ausgeschlossenen Gemeinschaft hat das Individuum keine Wahl.
"Von allen Insassen wird bedingungslose Loyalität verlangt. Schon die unvollständige Hingabe an die gemeinsame Sache wird als Verrat gebrandmarkt. Halbherzige, Laue und Indifferente werden zu den Hauptfeinden der Gemeinschaft; die großen Schlachten finden nicht auf den Festungswällen, sondern an der Heimatfront statt. Die proklamierte Bruderschaft neigt zum Brudermord."
Baumans Generaldiagnose stimmt wenig hoffnungsfroh. Der Zerfall des Sozialen scheint kaum aufzuhalten. Alle scheinen wir in einer Epoche der Bindungslosigkeit zu leben, der Verlockung und Verführung, der gegenseitigen Isolierung und Abschottung. Niemand scheint mehr einem anderen zu etwas verpflichtet zu sein. Gegen das spätmoderne Loblied der kulturellen Unterschiede beharrt Bauman auf der alten sozialen Frage der Gerechtigkeit und Ungleichheit.
Vor der Zerstörung des Sozialen ist der Einzelne ebenso zu bewahren wie vor den Zwängen der Gemeinschaft. Dies aber fordert eine entschiedene Rückbesinnung auf die materielle Grundlage jedes gelungenen Gemeinwesens, die faire Verteilung der Ressourcen, die Absicherung gegen Schicksalschläge und individuelle Defizite.
Dem Staat möchte Bauman zwar mehr zutrauen als dieser noch zu leisten vermag. Aber zu Recht erinnert seine lesenswerte Schrift an das Grundgesetz der Solidarität, an das Gebot des Teilens und Helfens.
"Wenn es in einer Welt der Individuen eine Gemeinschaft geben soll, kann es nur eine Gemeinschaft sein, die auf gegenseitiger Fürsorge beruht, eine Gemeinschaft, die Verantwortung übernimmt und sich aktiv darum kümmert, dass alle nicht nur die gleichen Rechte haben, sondern auch in gleichem Maße in der Lage sind, diese Rechte in Taten umzusetzen."
Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009
"Ein Mehr an Sicherheit verlangt stets Opfer auf dem Gebiet der Freiheit, und ein Zugewinn an Freiheit lässt sich nur auf Kosten der Sicherheit erreichen. Doch Sicherheit ohne Freiheit ist praktisch Sklaverei; und Freiheit ohne Sicherheit ist eine Art Selbstaufgabe."
Zygmunt Bauman zählt zu den Altmeistern der soziologischen Zeitdiagnose. Mit breiten Strichen skizziert seine kleine Schrift, die im englischen Original bereits 2001 erschienen ist, das Schicksal der Gemeinschaft in der spätmodernen Welt. Schon der Aufstieg des Kapitalismus hatte die Handwerker aus den alten Netzwerken herausgerissen und ihre Arbeit der tradierten Bedeutung beraubt.
Seitdem muss sich jedes Betriebsmanagement um die Arbeitsmoral sorgen und immer wieder Gemeinschaften erfinden oder zumindest eine Fiktion davon. Mittlerweile jedoch greift soziale Herrschaft weniger auf Zwang und Disziplin zurück als auf Angst und Vereinzelung.
"Sie hat eine neue, weniger beschwerliche und weniger aufwendige Grundlage: die Ungewissheit der Beherrschten, die Unsicherheit der sozialen Stellung, die Ungewissheit des zukünftigen Auskommens sowie das überwältigende Gefühl, keinen Einfluss auf die Dinge zu haben."
Prekäre Verhältnisse nennt man diese soziale Lage neuerdings. Da im Labyrinth der flexiblen Gesellschaft ein sozialer Gegner kaum mehr auszumachen ist, sind auch die Chancen zur kollektiven Gegenwehr geschwunden. Die Begüterten haben sich aus der Gesellschaft zurückgezogen und führen hinter bewachten Mauern ein Leben ohne Gemeinschaft, ohne lokale Ortsbindung und - zumindest bis zur jüngsten Wirtschaftskrise - ohne Bedarf nach staatlicher Intervention.
In der Gesellschaft der Individuen bevorzugt man lockere Bindungen, die niemanden einschränken, aber auch keinen unterstützen. Man verfolgt eine Lebenspolitik, die immerzu nach Identität und Abwechslung sucht. Statt moralischer Pflichten bevorzugt man flüchtige Geselligkeiten und eine Art ästhetischer Gemeinschaft, deren Leitbilder Prominente und deren Anlässe nur flüchtige Episoden sind: ein Popfestival, ein Fußballendspiel, ein neues Diätprogramm oder das Gerücht, in den Regalen der Supermärkte lagerten verseuchte Lebensmittel.
"Geschichten über unglückliche Kindheiten und gescheiterte Ehen schenken jedem, der ihnen lauscht, eine Gewissheit: Allein sein bedeutet, Mitglied einer großen Gemeinschaft zu sein, die gerade deshalb eine ist, weil jedes ihrer Mitglieder ganz auf sich gestellt gegen das Alleinsein kämpft."
Zu einer ethischen Gemeinschaft gegenseitiger Verantwortung und langfristiger Verpflichtung ist die spätmoderne Gesellschaft laut Bauman außerstande. Dafür tobt ein Kampf um Akzeptanz, um Vergnügen und Lebensglück. Die Menschen rebellieren nicht, wenn sich ihre Lage plötzlich verschlechtert, sondern wenn sie im sozialen Vergleich schlechter abschneiden.
Nicht materielle Gerechtigkeit, sondern die Anerkennung kultureller Unterschiede ist das Hauptthema gegenwärtiger Diskurse und Konflikte. Nicht nur der Staat hat sich aus der Gesellschaft zurückgezogen, auch die Wissenselite hat sich aus den Niederungen des Verteilungskampfes verabschiedet. Ihre angestammte Aufgabe bleibt sie schuldig: die Aufklärung des Volkes. Sie ergeht sich nur mehr in der Proklamation persönlicher Rechte und kultureller Differenzen.
Die einzige Gemeinschaft, die den Namen verdient, ist die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen, der Zuwanderer und ethnischen Minderheiten. Der Wechselwirkung von Ausschluss und Selbsteinschluss, von unberechenbarer Mehrheitsgesellschaft und rigider Minderheitsgemeinschaft widmet Bauman eindrückliche Passagen. Der Teufelskreis gegenseitiger Ausschließung führt zum Festungsdenken auf beiden Seiten und endet früher oder später im sozialen Gefängnis des Ghettos. In der geschlossen ausgeschlossenen Gemeinschaft hat das Individuum keine Wahl.
"Von allen Insassen wird bedingungslose Loyalität verlangt. Schon die unvollständige Hingabe an die gemeinsame Sache wird als Verrat gebrandmarkt. Halbherzige, Laue und Indifferente werden zu den Hauptfeinden der Gemeinschaft; die großen Schlachten finden nicht auf den Festungswällen, sondern an der Heimatfront statt. Die proklamierte Bruderschaft neigt zum Brudermord."
Baumans Generaldiagnose stimmt wenig hoffnungsfroh. Der Zerfall des Sozialen scheint kaum aufzuhalten. Alle scheinen wir in einer Epoche der Bindungslosigkeit zu leben, der Verlockung und Verführung, der gegenseitigen Isolierung und Abschottung. Niemand scheint mehr einem anderen zu etwas verpflichtet zu sein. Gegen das spätmoderne Loblied der kulturellen Unterschiede beharrt Bauman auf der alten sozialen Frage der Gerechtigkeit und Ungleichheit.
Vor der Zerstörung des Sozialen ist der Einzelne ebenso zu bewahren wie vor den Zwängen der Gemeinschaft. Dies aber fordert eine entschiedene Rückbesinnung auf die materielle Grundlage jedes gelungenen Gemeinwesens, die faire Verteilung der Ressourcen, die Absicherung gegen Schicksalschläge und individuelle Defizite.
Dem Staat möchte Bauman zwar mehr zutrauen als dieser noch zu leisten vermag. Aber zu Recht erinnert seine lesenswerte Schrift an das Grundgesetz der Solidarität, an das Gebot des Teilens und Helfens.
"Wenn es in einer Welt der Individuen eine Gemeinschaft geben soll, kann es nur eine Gemeinschaft sein, die auf gegenseitiger Fürsorge beruht, eine Gemeinschaft, die Verantwortung übernimmt und sich aktiv darum kümmert, dass alle nicht nur die gleichen Rechte haben, sondern auch in gleichem Maße in der Lage sind, diese Rechte in Taten umzusetzen."
Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009