Berlin nutzt immer öfter das Vorkaufsrecht
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Um Mieter vor Verdrängung zu schützen, kauft Berlin immer mehr Wohnhäuser vom freien Markt zurück. Zu überteuerten Preisen und mit dem Geld der Steuerzahler, sagen die Kritiker. Eine Lösung könnte sein, das Vorkaufsrecht zu verschärfen.
"Es geht ja um unser Zuhause", sagt Armin Beber. "Wohne jetzt seit acht Jahren hier, meine Kinder sind acht und zehn Jahre alt, sind hier also aufgewachsen, gehen hier in die Grundschule im Kiez, die sind hier im Verein, die haben ihre Freunde und Freundinnen hier, auch wenn wir in der Stadt wohnen und nicht unser kleines Eigenheim haben, dann ist diese Wohnung trotzdem unser Zuhause."
Armin Beber, Mitte 40, wohnt mit Familie im sanierten Altbau im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Vier Zimmer, 100 Quadratmeter, die Nettokaltmiete beträgt knapp über 700 Euro. Bezahlbar. Noch. Denn vor kurzem erhielt er einen Brief. Das Haus werde an einen privaten Investor verkauft, hieß es darin. Zukunft ungewiss, wusste Armin Beber. Doch einfach nur abwarten wollte er nicht.
"Worum wir gerade kämpfen, ist, dass wir uns dieses Zuhause erhalten, dass wir mit den Kindern hier weiter wohnen können, und wenn uns das gelingt, mit unserem Einkommen, dass wir eben eine bezahlbare Mietwohnung hier im Kiez halten können, dann bedeutet es für mich einfach nur, glücklich zu sein, dass das funktioniert."
Notwendiges und hilfreiches Instrument
Der Kampf scheint erfolgreich auszugehen. Gemeinsam mit den 35 anderen Mietparteien hat er erreicht, dass der Bezirk Tempelhof-Schöneberg von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch macht. Das kann er immer dann, wenn die Immobilie in einem sogenannten Milieuschutzgebiet liegt, in dem die Wohnbevölkerung davor beschützt werden soll, wegen steigender Mieten verdrängt zu werden. 58 dieser Milieuschutzgebiete gibt es zurzeit in Berlin, Tendenz steigend.
Der Bezirk kann das Vorkaufsrecht allerdings erst ausüben, wenn der potenzielle Käufer nicht bereit ist, eine Abwendungsvereinbarung zu unterzeichnen. Das heißt: Der Käufer muss mindestens 20 Jahre darauf verzichten, Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Und er darf keine kostspieligen Modernisierungen vornehmen, die er auf die Miete aufschlagen könnte.
Um bezahlbaren Wohnraum zu erhalten, ist das Vorkaufsrecht ein notwendiges und hilfreiches Instrument, findet Jörn Oltmann, der zuständige Baustadtrat:
"Die Bezirke üben das Vorkaufsrecht immer zugunsten von Dritten aus, eine städtische Wohnungsbaugesellschaft hat uns in diesem Fall abgesagt, es wurde keine Abwendungserklärung und -vereinbarung abgeschlossen, und ich war sehr froh, dass uns dann die Genossenschaft, die DIESE e.G., zur Verfügung stand als begünstigte Dritte. Ich habe mir selber das Finanzierungsmodell angesehen, denn nach Baugesetzbuch muss ich ja gucken, ob derjenige, zu dessen Gunsten wir dieses Vorkaufsrecht ausüben, ob der auch in der Lage ist, mit diesem Objekt umzugehen, und ich habe mir das Finanzierungsmodell angesehen und bin dann zum Schluss gekommen, dass wir das Vorkaufsrecht ausüben können. Dies ist auch inzwischen wirksam geworden."
Überfordert der finanzielle Kraftakt die Genossenschaften?
Nun also ist die DIESE e.G. Eigentümerin des Gebäudes – eine Genossenschaft, die erst vor wenigen Monaten gegründet wurde. Einzig und allein zu dem Zweck, als eine Art Feuerwehr zu fungieren: Sie tritt immer dann in den Vorkauf von Immobilien ein, wenn die landeseigenen Unternehmen dazu nicht in der Lage sind und eine Abwendungsvereinbarung mit dem ursprünglichen Kaufinteressenten nicht zustande kommt. Gleich sieben Objekte erwarb die DIESE e.G. in den ersten Monaten ihres Bestehens. Ein finanzieller Kraftakt, der die Genossenschaft überfordert, sagen die Kritiker. Eine finanzielle Herausforderung, die mit entsprechender politischer Unterstützung gemeistert werden kann, sagt Werner Landwehr, der Vorstandschef der Genossenschaft:
"Jeder weiß, dass das eine herausfordernde Situation ist, in diese Dritterwerbe einzutreten, dafür spricht ja auch der Umstand, dass eben häufig die Kommunalen nicht erwerben und auch keine andere Genossenschaft gefunden wird, die sich dieser Aufgabe annimmt, also von daher: Dass das irgendwie der kaufmännische Clou ist, da als Dritterwerber aufzutauchen, das versucht doch auch niemand zu behaupten. Wenn man sagen würde: ‚Ist das ein cooles Geschäft’?, würde man sagen: ‚Nee, lohnt sich nicht, sollte man lassen’. Wenn man aber sagt: ‚Kann man in irgendeiner Weise den Leuten in den Häusern …’, darum geht es ja in der Hauptsache, ‚kann man denen irgendwie helfen’? Dann kommt eben dieses: ‚Ja, unter bestimmten Voraussetzungen geht das’.
Zu den Voraussetzungen gehören: Zuschüsse aus dem Landeshaushalt, günstige Förderdarlehen, langfristige Laufzeiten der Kreditverträge und, sozusagen als Grundlage für das Modell: Wenigstens 70 Prozent der Bewohner eines Hauses sollten bereit sein, Genossenschaftsanteile zu zeichnen. Armin Beber ist bereit:
"Um das Haus kaufen zu können, braucht die DIESE Eigenkapital, und dieses Eigenkapital müssen die Mieterinnen und Mieter aufbringen."
Genossen werden unkündbar
Auch fast alle anderen Mietparteien ziehen mit. 500 Euro pro Quadratmeter zahlt, wer Genosse werden und aus seinem Mietvertrag einen Nutzungsvertrag machen will. Für die Bewohner, von denen viele einen Wohnberechtigungsschein haben, eine enorme Belastung. Auch für Armin Beber.
"50.000 Euro, die wir aufbringen müssen. Das ist unser Anteil an der Genossenschaft. Die allermeisten werden Kredite aufnehmen müssen und haben dann natürlich über die Tilgung dieser Kredite 'ne zusätzliche monatliche Belastung, wo man erstmal gucken muss, wie man die stemmt. Ich muss auch einen Kredit aufnehmen."
"Ja, das ist richtig, wobei die Finanzierung über 20 Jahre bedeutet in etwa eine Belastung von 2 Euro 20, 25 pro Quadratmeter, um dieses Genossenschaftskapital anzusparen. Wohl gemerkt: So wie auch derjenige, der wenig Geld hat, das eine oder andere Mal zur Seite legt für schlechte Zeiten, so ist das auch da: Das ist eben wie ein Spargroschen. Und nicht verloren. Das ist immer wieder wichtig zu betonen."
Der Lohn, so Werner Landwehr von der DIESE e.G.: Genossen genießen ein Dauerwohnrecht, sind also unkündbar. Sollten sie ausziehen, bekommen sie ihre Anteile wieder ausbezahlt. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass Genossenschaften sichere und günstige Wohnungen bieten wollen und keine Rendite erwirtschaften müssen, sagt Armin Beber, aber ein Rest Unsicherheit bleibe dennoch:
"Hier leben so viele unterschiedliche Menschen, Genossenschaft bedeutet: Alle ziehen gemeinsam an einem Strang. Das ist also keine Selbstverständlichkeit, innerhalb kürzester Zeit eine Hausgemeinschaft nicht nur auf nachbarschaftlicher Ebene, ‚kannst du mir mal ein Ei leihen’ oder ‚kann ich von dir Butter haben’, sondern gemeinsam über den Kauf eines Hauses zu reden, ist 'ne große Herausforderung. Und ich weiß, dass viele Menschen sich hier große Sorgen machen, dass sie irgendwie aus der Wohnung raus müssen, sie das nicht halten können, die sich auch Sorgen machen, dass man nicht genau weiß, wie es weiter geht, das ist sehr schwer, sich da nicht aus der Ruhe bringen zu lassen."
Die Zahl der Vorkäufe wird steigen
Im Koalitionsvertrag des rot-rot-grünen Senats heißt es ausdrücklich, Berlin werde seine Vorkaufsrechte verstärkt nutzen. Das tut es mittlerweile auch. Im ersten Halbjahr 2019 haben die Berliner Bezirke mehr Wohnungen erworben als im gesamten Jahr 2018. Ihre Gesamtzahl ist dennoch überschaubar. 1.671 Wohnungen gelangten seit 2015 im Zuge des Vorkaufsrechts in den Besitz einer der sechs landeseigenen Wohnungsgesellschaften oder der über 80 Wohnungsbaugenossenschaften. Mehr als eine halbe Million Wohnungen macht aber deren Bestand insgesamt aus. Jörn Oltmann, Baustadtrat von Tempelhof-Schöneberg, ist dennoch überzeugt: Die Zahl der Vorkäufe wird weiter steigen.
"Es muss einfach Schluss sein mit diesen Geschäftsmodellen, die darauf hinauslaufen, Umwandlungen voranzutreiben und dann teure Vermietungen zu initiieren oder Häuser zu sanieren, Wohnungen zu sanieren, um sie dann teuer wieder an den Markt zu bringen."
Sein Amts- und Parteikollege im Nachbarbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Florian Schmidt, strebt eine Quote von 50 Prozent gemeinwohlorientiertem Wohnraum an. Er will gar eine Agentur schaffen, die sich gezielt um den Ankauf von Immobilien kümmert. Berlinweit liegt Friedrichshain-Kreuzberg schon jetzt klar vorn, wenn es darum geht, das Vorkaufsrecht auszuüben. Jörn Oltmann ist skeptisch:
"Das ist natürlich mit enormen finanziellen Aufwendungen verbunden, wir gehen da unterschiedliche Wege, ich finde gut, was Florian Schmidt an der Stelle insgesamt erreicht hat, aber machen wir uns nichts vor: An einer gemeinwohlorientierten Bundesgesetzgebung kommen wir an der Stelle insgesamt nicht vorbei. Die würde uns sehr viel mehr helfen."
Was noch fehlt: ein Vorkaufsrecht mit Preislimit
Auch Berlins Finanzsenator Matthias Kollatz, SPD, hält das Vorkaufsrecht für ein geeignetes Instrument der Politik, Spekulation zu unterbinden. Damit würden zwar keine neuen Wohnungen gebaut, gibt er den zahlreichen Kritikern Recht, dafür werde aber preiswerter Wohnraum erhalten:
"Was uns noch fehlt im Instrumentenkasten, ist ein sogenanntes preislimitiertes Vorkaufsrecht. Das heißt also, wir bräuchten eigentlich für die kommunalen Zwecke die Möglichkeit, dass wir sagen, wir zahlen einen gutachterlich bestimmten Verkehrswert, aber nicht irgendwie eine, sich vielleicht auch durch spekulative Betrachtungen ergebende, extrem hohe Summe. Das ist tatsächlich der Teil, der noch fehlt. Und wenn das dazu käme, dann wäre es eben so, jetzt mal für Berlin betrachtet, dass immer dann, wenn ein Vorkaufsrecht ausgeübt werden muss, im Wesentlichen es die Wohnungsbaugesellschaften aus dem, was die Mieten erbringen oder erbringen können, wenn man die Dinge anständig nutzt, auch erwirtschaften können, dann würde es den Haushalt gar nicht mehr belasten."
Doch auch für die Einführung eines preislimitierten Vorkaufsrechts ist der Bund zuständig. Weil sich dort aber nichts bewegt, unterstützt der Senat jetzt auch die Genossenschaften bei der Ausübung von Vorkaufsrechten mit öffentlichen Geldern. Gewollter Nebeneffekt: Je mehr gemeinwohlorientierte Unternehmen bereitstehen, eine Immobilie zu erwerben, desto höher der Druck auf den privaten Kaufinteressenten, eine Abwendungsvereinbarung zu unterschreiben. Meint Berlins Finanzsenator:
"Das Hauptziel ist eigentlich, nicht so schrecklich viele Wohnungen zu kaufen, sondern das Hauptziel ist eher, mehr Abwendungsvereinbarungen zu erreichen, damit wird die Wirksamkeit des Milieuschutzes ganz gut erreicht."
Luxusmodernisierungen ausschließen
Immerhin konnten die Bezirke seit 2015 für insgesamt 3.056 Wohnungen Abwendungsvereinbarungen mit den Käufern schließen. Damit, so Baustadtrat Oltmann, konnten fast doppelt so viele preiswerte Wohnungen erhalten werden wie mit Hilfe des Vorkaufsrechts.
"Das öffentliche Interesse ist in der Regel dann gegeben, wenn wir Luxusmodernisierung für 'ne große Zeit ausschließen können und wenn wir Umwandlung von Wohnraum für mindestens 20 Jahre ausschließen können."
Eine Abwendungsvereinbarung geht vielen jedoch nicht weit genug. Zum Beispiel dieser Mieterin, die unter dem Namen Else Schachtelschmitz in den sozialen Netzwerken über die Situation in ihrem Wohnblock mit insgesamt neun Häusern berichtet, ebenfalls im Bezirk Tempelhof-Schöneberg gelegen:
"Dadurch, dass die Häuser hier schon modernisiert waren, konnte man nicht mehr vereinbaren, dass Modernisierung ausgeschlossen ist, was natürlich 'ne Möglichkeit gewesen wäre, Mieten in gewisser Weise zu deckeln, deswegen konnte eigentlich nur noch vereinbart werden, dass nicht in Eigentum umgewandelt werden darf, was ein relativ schwacher Schutz ist. Es gibt in unserer Abwendungsvereinbarung auch sehr geringe Vertragsstrafen für den Fall, dass die Regelungen der Abwendungsvereinbarung nicht eingehalten werden. Wo wir einfach das Risiko sehen, dass es möglicherweise lohnend sein könnte, gegen die Abwendungsvereinbarung zu verstoßen, weil der Profit, den man mit dem Verstoß machen kann, dann höher ist als das, was man als Vertragsstrafe zu zahlen hat."
Ihr Wohnblock stand Ende 2018 zum Verkauf. Sie hätte es besser gefunden, der Bezirk hätte vom Vorkaufsrecht Gebrauch gemacht. Hat er aber nicht. Prompt kam es, wie es kommen musste: Als der Berliner Senat im Juni für 2020 die Einführung eines Mietendeckels ankündigte, bekam ein Großteil der Bewohner schnell noch eine deftige Mieterhöhung zugeschickt: bis zu zwei Euro pro Quadratmeter mehr.
Was bringt der Mietendeckel?
"Ich gehe nicht davon aus, dass der Mietendeckel dafür die Ursache ist, möglicherweise ist der Mietendeckel ein beschleunigender Faktor, dadurch dass extrem viele Hauseigentümer kurz vor dem Beschließen des Mietendeckels noch möglichst viel Profit machen wollten. Aber ich würde sagen: Ursache des Problems, Ursache des Übels ist, dass Abwendungsvereinbarungen es ermöglichen, dass Wohnraum von profitorientierten Unternehmen gekauft wird."
Noch ist unklar, wann der Berliner Senat seinen Gesetzentwurf für den Mietendeckel vorlegen wird. Eigentlich ist er für die kommende Woche geplant. Aber innerhalb der rot-rot-grünen Koalition gibt es so viel Krach, dass das kaum möglich scheint. Einig sind sich die Regierungspartner, die Mieten für fünf Jahre einzufrieren. Streit gibt es allerdings, ob Mietobergrenzen festgelegt und die Mieten abgesenkt werden können, wie es die zuständige Bausenatorin Lompscher von der Linken fordert. Im Kern geht es um die Frage, ob der Mietendeckel verfassungskonform ist. Auch innerhalb der landeseigenen Wohnungsgesellschaften und der Wohnungsbaugenossenschaften wird heftig über den Mietendeckel debattiert. Hauptargument der Gegner: Moderate Mieterhöhungen müssen weiterhin möglich sein, um wichtige Investitionen tätigen zu können. Hauptargument der Befürworter: Nur so ist eine Atempause vom Mietenwahnsinn möglich. Stellvertretend für viele Werner Landwehr, Vorstandschef der neu gegründeten Genossenschaft DIESE e.G.:
"Wir und eine ganze Reihe der Genossenschaften begrüßen, dass der Staat da sagt: ‚Pass mal auf, da mache ich jetzt mal einen richtigen Paukenschlag.’ Wir haben bei unseren Berechnungen prinzipiell die nächsten fünf Jahre mit einer gleichbleibenden Miete gerechnet und den Anstieg danach erst in den nächsten 25 Jahren, also haben uns darauf eingestellt, auf der anderen Seite ist das natürlich eine Schwierigkeit und eine Herausforderung, wenn ich Kalkulationen und Finanzierungen über 30 Jahre mache: Wie kriege ich das hin? Deswegen ist das die Ehre der Pioniere, das tun zu dürfen, aber es ist auch eine Herausforderung."