Kampf um Gerechtigkeit
Als 1894 der jüdische Artillerieoffizier Alfred Dreyfus zu Unrecht wegen Landesverrats zu lebenslanger Haft verklagt wird, ruft dies eine Bewegung linker Intellektueller hervor, die schließlich zur Freilassung und Rehabilitierung des Offiziers führt. Einer der Kämpfer für ein gerechtes Urteil war der spätere französische Ministerpräsident Léon Blum. Sein 1935 erschienener Bericht ist auch eine Schilderung bürgerlichen Engagements gegen autokratische Intrigen.
Nur einmal in der an Krisen und Konflikten reichen Geschichte der französischen Republik(en) hat ein politischer Skandal die innere Gewalt gehabt, die Nation, das Vaterland (la patrie), den Staat und die Bürgergesellschaft (les citoyens) so tief miteinander zu verfeinden und zu spalten, dass Frankreich nur haarscharf an einem Bürgerkrieg vorbei geschrammt ist. Das war die so genannte Affäre Dreyfus - ein Kriegsgerichtsprozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit, der den Artillerieoffizier Alfred Dreyfus 1894 zum unehrenhaften Ausstoß aus der Armee sowie lebenslanger Deportation in die Strafkolonie Französisch Guayana verurteilte.
Gegenstand des Prozesses war - nur wenige Jahre nach der schmachvollen französischen Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 - der Verrat militärischer Geheimnisse an das Deutsche Reich. Ein Verbrechen, mit dem Dreyfus nichts, aber auch gar nicht zu tun gehabt hatte. Der Verräter war vielmehr ein anderer Stabsoffizier, ein Verschwender, Spieler und Frauenheld, der sich bester Freunde in höchsten militärischen Rängen Frankreichs - darunter auch des Chefs des militärischen Geheimdienstes - rühmen durfte.
Unter letztlich bis heute nicht völlig geklärten Umständen bildeten der Generalstab, antidemokratische beziehungsweise antirepublikanische Politiker sowie radikal- nationalistische und antisemitische Rechtsintellektuelle gegen den Offizier jüdisch-elsässischer Herkunft ein Komplott, das nur einen Zweck hatte: Nie die Wahrheit ans Licht kommen zu lassen, dass der Täter jemand ganz Anderer, nämlich ein durchaus bestimmten Stellen bekannter Militär gewesen war, den es zumindest nach Ansicht des Kriegsministers und anderer ranghöchster "patriotischer" Offiziere zu schützen galt.
Zu den überwiegend linksintellektuellen "Dreyfusards", einer politischen Gruppierung, die einer politischen Partei ähnelte, welche zwölf Jahre lang und letztlich mit Erfolg um die Rehabilitierung des Hauptmannes gekämpft hatte, gehörte auch der junge Sozialisten-Führer Léon Blum (*1872), ein Ästhet und Linksintellektueller aus dem wohlsituierten, liberalen jüdisch-bürgerlichen Milieu von Paris.
Der schrieb 1935 - also 30 Jahre nach dem Ende der Dreyfus-Affäre und aus Anlass des Todes von Hauptmann Alfred Dreyfus - eine leidenschaftliche und pamphletistische Würdigung dieser auch für Frankreich einmaligen innenpolitischen Auseinandersetzung. Da waren weder der deutsch-französische Krieg von 1870/71 noch der Erste Weltkrieg von 1914/18 vergessen; da erstarkten allenthalben in Europa - und auch in der Dritten Republik - die faschistischen Bewegungen; und da sahen Blum und manche seiner politischen Genossen und Freunde die Schatten politischer Unmoral, die der Zweite Weltkrieg bereits voraus warf.
Jetzt ist unter dem Titel "Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus" der Text im Berliner Berenberg Verlag erneut erschienen, neu übersetzt und mit historischen und politischen Anmerkungen versehen von Joachim Kalka.
Ursprünglich handelte es sich bei diesem Text um sieben Artikel für die Wochenzeitung "Marianne", der offensichtlich als ein Baustein für eine (nie erschienene) Autobiographie gedacht war. Sehr persönlich, sehr subjektiv, sehr leidenschaftlich erzählt Léon Blum von den Absichten und Zielen der Partei der Dreyfusards; von seiner eigenen Beteiligung am Entstehen und Erstarken dieser Bewegung von Linksintellektuellen und von weiteren Konsequenzen aus deren Arbeit - über den endlichen Freispruch, die formale Rehabilitierung des Hauptmanns und die kompensatorische Verleihung des Kreuzes der Ehrenlegion an ihn hinaus.
"Von dem Unrecht, das ein Individuum erlitten hatte, wollten wir weitergehen zum sozialen Unrecht." (Léon Blum).
Zwar schildert, erläutert und kommentiert er auch die Affäre selbst - von der falschen Anschuldigung des Landes- und Hochverrates über die beiden Kriegsgerichts-Prozesse von 1894 und 1899 bis zur endgültigen und allseitigen Rehabilitierung des Artilleriehauptmanns und Stabsoffiziers 1906 -, aber eigentlich ist die "Beschwörung der Schatten" ein politisches Lehrstück in Sachen Bürgermitwirkung und -mitbestimmung an den gesellschaftlichen Prozessen, welche die Allgemeinheit vom Staat unbesehen und ohne Möglichkeiten verpasst beziehungsweise aufgedrückt bekommt.
Nicht zufällig ist der Begriff des kritischen Linksintellektuellen im Umfeld der Affäre Dreyfus entstanden und schnell in den internationalen gesellschaftspolitischen Sprachgebrauch eingegangen.
Uns fremd geworden sind glücklicherweise Form, Inhalt und Personal der politischen Machenschaften seitens der Gegner und Feinde der Dreyfusars: Ein chauvinistisch-faschistisch durchseuchtes Heer samt dessen Verteidigern einer angeblich besonderen Ehre der Armee. Die politischen wie militärischen Befürworter eines republik- und demokratiefeindlichen autoritären Staats- und Herrschaftssystems. Ein angeblich religiös begründeter und vermittelter unaufgeklärter und lebensgefährlicher Antisemitismus - samt einem ähnlich böswilligen Antigermanismus. Und last but not least ein nationalistischer, rechtsradikaler, klerikaler Konservatismus, der direkt aus dem Erbe des Vatikanstaates übernommen worden war - und dessen Niederlage im Verfolg der Affäre Dreyfus dann dazu führte, die bis heute geltende strikte Trennung von Staat und Kirche in Frankreich einzuführen.
Es liest sich herzanrührend, wie Léon Blum das Ende der Affäre beschreibt:
"So war also unsere eigentliche Aufgabe vollbracht, und der Dreyfusard wurde wieder ein gewöhnlicher Mensch. Wir begannen wieder wie alle Welt zu leben, so, wie wir früher gelebt hatten, stets für die Sache begeistert, wohl wahr, stets voller Überzeugung, aber nicht mehr völlig versunken, verwunschen - wir fanden in uns wieder Raum für die eigenen Interessen, die Sorgen, die Gewohnheitsgefühle der Alltagsexistenz."
Léon Blum: Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus.
Aus dem Französischen und mit Anmerkungen versehen von Joachim Kalka.
Berenberg Verlag, Berlin 2005
120 Seiten, 19 Euro.
Gegenstand des Prozesses war - nur wenige Jahre nach der schmachvollen französischen Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 - der Verrat militärischer Geheimnisse an das Deutsche Reich. Ein Verbrechen, mit dem Dreyfus nichts, aber auch gar nicht zu tun gehabt hatte. Der Verräter war vielmehr ein anderer Stabsoffizier, ein Verschwender, Spieler und Frauenheld, der sich bester Freunde in höchsten militärischen Rängen Frankreichs - darunter auch des Chefs des militärischen Geheimdienstes - rühmen durfte.
Unter letztlich bis heute nicht völlig geklärten Umständen bildeten der Generalstab, antidemokratische beziehungsweise antirepublikanische Politiker sowie radikal- nationalistische und antisemitische Rechtsintellektuelle gegen den Offizier jüdisch-elsässischer Herkunft ein Komplott, das nur einen Zweck hatte: Nie die Wahrheit ans Licht kommen zu lassen, dass der Täter jemand ganz Anderer, nämlich ein durchaus bestimmten Stellen bekannter Militär gewesen war, den es zumindest nach Ansicht des Kriegsministers und anderer ranghöchster "patriotischer" Offiziere zu schützen galt.
Zu den überwiegend linksintellektuellen "Dreyfusards", einer politischen Gruppierung, die einer politischen Partei ähnelte, welche zwölf Jahre lang und letztlich mit Erfolg um die Rehabilitierung des Hauptmannes gekämpft hatte, gehörte auch der junge Sozialisten-Führer Léon Blum (*1872), ein Ästhet und Linksintellektueller aus dem wohlsituierten, liberalen jüdisch-bürgerlichen Milieu von Paris.
Der schrieb 1935 - also 30 Jahre nach dem Ende der Dreyfus-Affäre und aus Anlass des Todes von Hauptmann Alfred Dreyfus - eine leidenschaftliche und pamphletistische Würdigung dieser auch für Frankreich einmaligen innenpolitischen Auseinandersetzung. Da waren weder der deutsch-französische Krieg von 1870/71 noch der Erste Weltkrieg von 1914/18 vergessen; da erstarkten allenthalben in Europa - und auch in der Dritten Republik - die faschistischen Bewegungen; und da sahen Blum und manche seiner politischen Genossen und Freunde die Schatten politischer Unmoral, die der Zweite Weltkrieg bereits voraus warf.
Jetzt ist unter dem Titel "Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus" der Text im Berliner Berenberg Verlag erneut erschienen, neu übersetzt und mit historischen und politischen Anmerkungen versehen von Joachim Kalka.
Ursprünglich handelte es sich bei diesem Text um sieben Artikel für die Wochenzeitung "Marianne", der offensichtlich als ein Baustein für eine (nie erschienene) Autobiographie gedacht war. Sehr persönlich, sehr subjektiv, sehr leidenschaftlich erzählt Léon Blum von den Absichten und Zielen der Partei der Dreyfusards; von seiner eigenen Beteiligung am Entstehen und Erstarken dieser Bewegung von Linksintellektuellen und von weiteren Konsequenzen aus deren Arbeit - über den endlichen Freispruch, die formale Rehabilitierung des Hauptmanns und die kompensatorische Verleihung des Kreuzes der Ehrenlegion an ihn hinaus.
"Von dem Unrecht, das ein Individuum erlitten hatte, wollten wir weitergehen zum sozialen Unrecht." (Léon Blum).
Zwar schildert, erläutert und kommentiert er auch die Affäre selbst - von der falschen Anschuldigung des Landes- und Hochverrates über die beiden Kriegsgerichts-Prozesse von 1894 und 1899 bis zur endgültigen und allseitigen Rehabilitierung des Artilleriehauptmanns und Stabsoffiziers 1906 -, aber eigentlich ist die "Beschwörung der Schatten" ein politisches Lehrstück in Sachen Bürgermitwirkung und -mitbestimmung an den gesellschaftlichen Prozessen, welche die Allgemeinheit vom Staat unbesehen und ohne Möglichkeiten verpasst beziehungsweise aufgedrückt bekommt.
Nicht zufällig ist der Begriff des kritischen Linksintellektuellen im Umfeld der Affäre Dreyfus entstanden und schnell in den internationalen gesellschaftspolitischen Sprachgebrauch eingegangen.
Uns fremd geworden sind glücklicherweise Form, Inhalt und Personal der politischen Machenschaften seitens der Gegner und Feinde der Dreyfusars: Ein chauvinistisch-faschistisch durchseuchtes Heer samt dessen Verteidigern einer angeblich besonderen Ehre der Armee. Die politischen wie militärischen Befürworter eines republik- und demokratiefeindlichen autoritären Staats- und Herrschaftssystems. Ein angeblich religiös begründeter und vermittelter unaufgeklärter und lebensgefährlicher Antisemitismus - samt einem ähnlich böswilligen Antigermanismus. Und last but not least ein nationalistischer, rechtsradikaler, klerikaler Konservatismus, der direkt aus dem Erbe des Vatikanstaates übernommen worden war - und dessen Niederlage im Verfolg der Affäre Dreyfus dann dazu führte, die bis heute geltende strikte Trennung von Staat und Kirche in Frankreich einzuführen.
Es liest sich herzanrührend, wie Léon Blum das Ende der Affäre beschreibt:
"So war also unsere eigentliche Aufgabe vollbracht, und der Dreyfusard wurde wieder ein gewöhnlicher Mensch. Wir begannen wieder wie alle Welt zu leben, so, wie wir früher gelebt hatten, stets für die Sache begeistert, wohl wahr, stets voller Überzeugung, aber nicht mehr völlig versunken, verwunschen - wir fanden in uns wieder Raum für die eigenen Interessen, die Sorgen, die Gewohnheitsgefühle der Alltagsexistenz."
Léon Blum: Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus.
Aus dem Französischen und mit Anmerkungen versehen von Joachim Kalka.
Berenberg Verlag, Berlin 2005
120 Seiten, 19 Euro.