Kampf um Klos und Abiprüfungen

Schulreformen dank Corona

04:12 Minuten
Schülerinnen und Schüler, einer davon mit einer Schutzmaske, bearbeiten Informatikaufgaben.
Wie wichtig sind Abiturprüfungen wirklich? - In Nordrhein-Westfalen haben die Schulen für Abiturientinnen und Abiturienten wieder geöffnet, trotz Coronavirus'. © dpa / Jonas Güttler
Von Christian Füller |
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Corona hat in der Bildungspolitik auch positive Seiten, meint Journalist Christian Füller: Die Digitalisierung schreitet voran, das föderale Prinzip und die Bedeutung von Prüfungen werden hinterfragt. Sogar die Schulklos könnten bald funktionieren.
Stell dir vor, du bist in einer Schule und die Toiletten funktionieren! Jeder weiß, dass es das an deutschen Schulen so gut wie nicht gibt. Die sanitäre Lage ist, um es vorsichtig zu sagen, prekär. Diesen Zustand hat sich nun die Bundeskanzlerin im Ringen um die Wiedereröffnung der Schulen zunutze gemacht. Obwohl sie für Bildung kein bisschen zuständig ist, hat Angela Merkel damit die Länder zum Nachsitzen gezwungen.

Die Kulturhoheit der Länder ist außer Kraft gesetzt

Bis Mitte der Woche soll die Kultusministerkonferenz ein Konzept zur Öffnung der Schulen vorlegen – und darin soll es nicht nur ums Lernen und um Abschlüsse gehen. "Jede Schule braucht einen Hygieneplan", schrieb die Kanzlerin den Kultusministern hinter die Ohren. Über den Zeitpunkt der Aufnahme des Unterrichts, so lautet die Vereinbarung, "berät die Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder".
Das ist die erste, geradezu sensationelle Nachricht aus den Coronaferien: Das Virus setzt die Kulturhoheit der Länder – jedenfalls zeitweise - außer Kraft.

Der alte Streit über unterschiedliche Schulkulturen

Die zweite Botschaft ist komplizierter. Hier geht es um einen uralten Streit zweier deutscher Schulkulturen. Auf der einen Seite stehen die Fans der gegliederten Schule als Sortiermaschine für die Gesellschaft. Sie waren es, die die Schulen sofort wieder eröffnen wollten, um Prüfungen und Abschlüsse zu garantieren. Diese Abschlüsse sind zweifellos wichtig. Aber sollten sie wirklich über dem Risiko massenhafter Ansteckung stehen?
Tatsächlich haben einige Bundesländer die Klassenzimmer bereits vergangene Woche geöffnet, andere folgen in diesen Tagen. Ganz offensichtlich will man die Abiturprüfungen 2020 noch schaffen. Das ist das Ziel, dem alles andere untergeordnet wird. Unter verschärften Abstandsregeln schreiben Abiturienten in Turnhallen ihre letzten großen Klausuren, teilweise am ersten Tag ihrer Rückkehr aus mehrwöchiger Coronaquarantäne. Sind das eigentlich noch faire Prüfungen? Oder hätte man das Abitur 2020 nicht lieber aufgrund der Noten von zwei Jahren Kollegstufe vergeben – ohne finale Prüfung?
Für diese Form – man nennt es das Durchschnittsabitur – sind auf der anderen Seite die Anhänger des eigenverantwortlichen Lernens. Sie können darauf verweisen, dass während der digital gestützten "Schule zu Hause" eine Vielzahl exzellenter Projekte entstanden sind. Bei ihnen ging es nicht mehr darum, nach Lehrplänen zu pauken, sondern um intelligente Aufgaben und forschendes Lernen.

Corona sei Dank, sind wir jetzt alle digital

Auch diese reformpädagogische Fraktion plädiert dafür, die Schulen so schnell wie möglich wieder zu öffnen. Allein schon, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen den Weg in die Schule zu eröffnen. Was sie aber unterscheidet ist, dass sie die Prüfungen nicht so wichtig nehmen. Denn die sind für sie grundsätzlich kein Lernanreiz. Und sie führen ins Chaos. Ein Chaos, dass sich gerade gut beobachten lässt: unübersichtliche, oft nur teilweise Schulöffnungen, die mit unerfüllbaren Abstands- und Hygieneregeln durchgesetzt werden.
Der Fokus der Reformer ist ein ganz anderer: "Corona sei Dank, sind wir jetzt alle digital", sagt etwa eine Schulleiterin aus Brandenburg. Sie hat extra eine Lehrer-AG eingesetzt, die herausgearbeitet hat, was nach Corona pädagogisch bleibt. Ergebnis: "Schüleraktivität noch höher ansiedeln, vom Frontalunterricht im weitesten Sinne Abstand nehmen."

Corona als Treiber des sozialen Fortschritts

So geht es in vielen Schulen, wo im Homeschooling Nathan der Weise im Chat behandelt wird oder Gymnasiasten einen Roman als Computerspiel spielen und neu zu Ende schreiben sollen. Insgesamt sprechen sich zwei Drittel der Lehrer in einer aktuellen repräsentativen Umfrage für Lernmodelle dieser Art aus. Sie wollen, dass Schüler künftig mehr Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen. Das ist neu – und eine kleine Sensation.
Corona ist, so lernen wir, erstens, eine grausame Pandemie – und, zweitens, ein Treiber sozialen Fortschritts, der an der Grundfeste der alten Schule nagt: den Prüfungen.

Christian Füller, 55, ist Buchautor und Journalist. Er hat unter anderem veröffentlicht: "Muss mein Kind aufs Gymnasium?", Duden 2018, und "Die Revolution missbraucht ihre Kinder", Hanser 2015. Er schreibt für "Spiegel Online", "FAZ", "Welt am Sonntag" und bloggt als Pisaversteher. Für unsere Sendereihe "Politisches Feuilleton" kommentiert er regelmäßig bildungspolitische Themen.

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