Kanadische Ureinwohner besinnen sich auf ihre Wurzeln
In Kanada wollte man die Ureinwohner assimilieren und europäisieren. Kanadas Indianer haben so ihre kulturellen Wurzeln verloren – die junge Generation gräbt diese wieder aus.
Die Männer tragen prächtigen Haarschmuck, die Frauen geflochtene Zöpfe. Wie entrückt wiegen sie ihre Körper zu den Trommeln. Sie tanzen im Kreis, in ihrer Mitte sitzen Musiker und Sänger. Die Tänzer stehen im Wettkampf – wer tanzt am ausdrucksvollsten? So ist es auf einem PowWow.
Cliff Standingready: "Ein Pow Wow ist eine soziale Zusammenkunft, wir kommen wirklich zusammen. Alle sind da: Wir haben hier Lakota-Indianer, Micmacs, Moaks, Jubweys – alle sind gekommen".
Sagt Cliff Standingready. Er ist Juror und bewertet die Performance auf dem PowWow. Doch trotz der traditionellen Tänze und Kostüme erinnert hier vieles an einen Jahrmarkt – was vor allem an dem Moderator liegt.
Der nächste Wettbewerb: ein Kartoffeltanz. Das Siegerpärchen bekommt 100 Dollar. Die Paare pressen tanzend eine Kartoffel zwischen ihre Köpfe.
Cliff Standingready: "Wir bewerten einen Kartoffeltanz, es ist eine Ehre - wir wurden gerade gefragt..."
Das Festgelände befindet sich in der Nähe von Toronto. Buden mit Handwerkskunst und Imbisswagen stehen hier. Angeboten werden Pfeil und Bogen, Indianerschmuck und Bison-Burgern – nur kein Alkohol. Alkohol ist auf dem gesamten Festgelände verboten.
Auf PowWows besinnen sich die Ureinwohner ihrer Traditionen, ihrer spirituellen Zeremonien. Für Cliff Standingready ist ein PowWow nichts Selbstverständliches.
Cliff Standingready: "Es gab eine Zeit, da war es uns verboten – die Regierung sagte: Es wird nicht getanzt!"
Erst 1966 war es den indigenen Völkern Kanadas wieder erlaubt, ihre traditionellen Feiern abzuhalten.
"Töte den Indianer im Kind"
Anders als in den USA gab sollte die indigene Bevölkerung nicht ausgerottet werden. Ihre Kultur sollte ausgelöscht werden. Die Regierung wies die Kinder der Ureinwohner in Zwangsinternate ein – in sogenannte Residential Schools. Sie wurden geprügelt, misshandelt, gedemütigt. Nach dem Motto: Willst du ihre Kultur vernichten, dann "töte den Indianer im Kind".
Cliff Standingready: "Ich bin ein Überlebender der Residential School. Ich spreche kaum meine Muttersprache, das Internat hat sie mir genommen. Ich habe noch immer eine Narbe auf der Hand, die ich durch Prügel bekommen habe als ich zehn Jahre alt war. Ich rannte weg und dann... ja ... "
Um sich selbst zu therapieren, hat Cliff ein Buch geschrieben "Kinder des Schöpfers", seine persönliche Geschichte über die Zeit in der Residential School. First Nations – so nennen sich die Ureinwohner Kanadas - tauschen auf PowWows darum gerne ihr verloren geglaubtes Wissen aus.
Raven : "Wir wissen wenig über unsere Kultur. Viele meiner Familienmitglieder kommen, um zu lernen".
Sagt die 23-jährige Raven. Die blonde Frau ist sportlich gekleidet, sie ist in Begleitung eines jungen schwarzen Mannes. Sie sieht nicht aus wie eine Indigene. Indigen sei auch nur einer ihrer Großväter, trotzdem wolle sie hier auf dem PowWow mehr über ihre indianischen Wurzeln erfahren.
Raven: "Es geht nur darum, Respekt zu zeigen gegenüber der Kultur meiner Familie und darum, sie zu erlernen".
Rod Nadiquak schämte sich seiner Identität
Anders als ihre Namensvetterin ist die 21-jährige Raven Naganash, mit ihrer indianischen Kultur aufgewachsen. Sie trägt ein weißes Wildlederkleid mit Fransen und Borten aus bunten Perlen, dazu Mokassins.
Raven Naganash: "Ich tanze seit ich drei Jahre alt bin oder seit ich laufen kann, seitdem bin ich traditionell aufgewachsen. Ich war auf PowWows und Tanzwettbewerben, solange ich denken kann. Es bedeutet mir viel, meine Kultur mit meiner Familie auszuleben".
Rod Nadiquak war erst im Alter von 30 auf einem PowWow. Der heute 50-Jährige trägt pompösen Kopfschmuck, sein Hemd und seine Hose sind aus Wildleder, mit feinen Stickereien.
Rod Nadiquak: "Ich bin als städtischer Indianer in Toronto aufgewachsen. Ich wusste nicht viel über meine Kultur. Eigentlich schämte ich mich dafür, wer ich bin, weil ich keine eigene Identität hatte. Also habe mich bemüht, mehr über meine Kultur zu lernen, um es meinen Kindern beizubringen. Damit sie sich ihre Identität nicht woanders suchen müssen, damit sie sich nicht schämen."
Seine Söhne sollen stolz auf ihre indigene Herkunft sein – egal, ob sie mit Vorurteilen oder Rassismus konfrontiert werden.
Rod Nadiquak: "Die Leute denken, dass wir immer noch in Tipis leben, dass wir ungebildet sind, Alkoholiker, Spieler..."
Selbstmordwelle junger Indianer erschüttert das Land
Das Leben in den Reservaten ist oft geprägt von Isolation, Armut und Arbeitslosigkeit. Ob es die Vorurteile sind oder die desolaten Zustände dort: Immer mehr junge Indianer sehen keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Die Selbstmordrate unter indigenen Kindern und Jugendlichen ist wesentlich höher als der Durchschnitt.
International Schlagzeilen machte im vergangenen Jahr eine Selbstmordwelle in einem Reservat im Nordosten von Ontario. Innerhalb von sechs Monaten versuchten über 100 Menschen, sich das Leben zu nehmen. Die Mehrheit von ihnen war zwischen zehn und 14 Jahre alt. Der "Chief" der 2.000-Seelen-Gemeinde rief damals den Notstand aus.
Jim Ottawa: "Ich finde es schwierig, junge Leute zu sehen, die nicht an unseren Weg glauben, an unsere Traditionen. Für mich und meinen Geist war das sehr hilfreich. Es hat mir geholfen, ruhig zu bleiben und nichts Schlimmes zu machen. Wenn ich junge Menschen sehe, die darauf nicht hören wollen, habe ich Mitleid mit ihnen. Ich sehe sie in den Dörfern verrückt werden oder auch sterben."
Sagt Jim Ottawa. Der 23-Jährige lebt in Quebec City und hat als Teenager auch Selbstmordgedanken gehabt. Dann nahm ihn ein Cousin mit zu einer Gesangsgruppe, Black Bear.
Jim begann bei Black Bear im Chor zu singen. Inzwischen tourt er mit der Gruppe durch ganz Nordamerika – mit "A tribe called Red". So heißt die DJ-Gruppe, die auch auf Elektro-Festivals auftritt.
Jim Ottawa: "Ich habe Musik schon immer geliebt, auch Mainstream-Musik, wie Pink Floyd, Metallica, das ist auch meine Art von Musik. Ich höre nicht nur Black Bear oder PowWow-Musik. Ich höre alles."
Sein Vater, Pascal Ottawa, war zunächst nicht begeistert, dass Jim sich für eine Karriere als Musiker entschied. Jim aber ist erfolgreich mit "Black Bear" und inzwischen ist Pascal Ottawa stolz auf seinen Sohn.
Und Jim ist auch wieder stolz auf seinen Vater. Denn Pascal Ottawa hat sich aus seiner Alkoholsucht befreit. In der Öffentlichkeit möchte er aber weder über seine Alkoholsucht noch über seine Kindheit in einem katholischen Zwangsinternat sprechen. Darum erzählt sein Sohn.
Jim Ottawa: "Er war auf der Residential School, drei Jahre war er dort. Es hat nicht nur ihn berührt, sondern die ganze Familie. Wir hatten manchmal Probleme mit unserem Vater, es war schwierig. Eine schwierige Kindheit, würde ich sagen."
Gemeinsam mit Freunden hat Jim Ottawa das Camp Matakan gegründet, sein Vater Pascal arbeitet hier. Das Camp befindet sich auf einer Insel im Kemptsee im nördlichen Quebec. Touristen können hier drei Tage so leben wie der Stamm der Atikamekw einst gelebt hat: In Tipis und von der Jagd und Fischerei. Abends, am Lagerfeuer singt Vater Pascal dann melancholische Lieder.
Es geht auf Mitternacht zu, da fängt einer der Älteren an, die Entstehungsgeschichte der Welt aus Sicht der Atikamekw zu erzählen, darüber, wie der Große Geist die Elemente erschuf. Er spricht auf Cree, einer Sprache, die von 135 indianischen Stämmen in Kanada gesprochen wird.
Jahrelanger Kampf gegen die Energiekonzerne
Pakesso Mukesh übersetzt. Der 40-jährige ist Musiker, Radiomoderator, er war politisch aktiv und arbeitet als Übersetzer des Cree.
Pakasso Mukash ist von einem Stamm der Cree und Abenaki am Hudson Bay und in Montreal aufgewachsen. Seine Jugend war geprägt vom Kampf gegen die Energiekonzerne, die auf dem Land der Cree in der Provinz Quebec ein riesiges Kraftwerk bauen wollten. Später hat er als Journalist gearbeitet.
Am Lagerfeuer fängt Vater Pascal Ottawa wieder an zu singen.
Pakesso Mukash: "Der Grund, warum ich viel in den Medien gemacht habe und immer noch mache, liegt in dem Versuch, unsere Leute so eloquent wie möglich zu vertreten, die Geschichten unseres Volkes so beredt wie möglich zu erzählen. Hollywood kann es nicht machen. Sie haben es nie versucht, es ist ihnen egal."
Pakesso Mukash will mit den Vorurteilen gegenüber der indigenen Bevölkerung aufräumen und fängt bei sich selbst an.
Pakesso Mukash: "Wenn Leute mir einen Drink anbieten und ich zu ihnen sage: ‚Nein, nein, ich trinke nicht’. Fragen sie jedesmal ‚seit wann bist du trocken?’. So als sei First Nation gleichbedeutend mit Alkoholiker. Aber das ist nicht der Fall... Ich bin jetzt 40 und ich habe nie Alkohol getrunken. Es ist nichts, was ich jemals wollte. Ich habe gesehen, was es mit meinen Freunden, meiner Familie und meinen Leute gemacht hat. Ich will kein Teil einer Statistik sein."
Pakesso Mukash hat seinen politischen Aktivismus, seine Fehde gegen die Öl- und Energiekonzerne aufgegeben. Er ist aber noch im Sinne der Vergangenheitsbewältigung unterwegs.
Pakesso Mukash: "Die Leute wissen nichts über die Residential Schools. Ich wurde gebeten, in einigen öffentlichen Schulen, Grundschulen und High Schools in Quebec und Ontario darüber zu sprechen. Und ich sitze mit diesen Kindern und versuche ihnen zu erklären, warum Indigene mit Alkohol und Drogen zu kämpfen haben, warum sie um ihre Identität kämpfen müssen – wegen der Residential Schools. Ich sagte zu diesen Kindern: ‚Ich kann euch nicht sagen, was Kinder in eurem Alter durchgemacht haben, ich würde Schwierigkeiten bekommen, wenn ich davon sprechen würde'. Aber viele wurden mißhandelt und vergewaltigt, einige von ihnen wurden getötet und in unmarkierten Gräbern beerdigt."
Im Yukon sind die Indianer in der Mehrheit
Der Yukon liegt an der westlichen Küste von Kanada, 6.000 Kilometer von Quebec entfernt an der Grenze zu Alaska. Im Yukon sind die Ureinwohner in der Mehrheit, seit 1978 verwalten sie ihre Provinz selbst. Seither wird an den Schulen auch die Sprache der Hwenchin gelehrt. Das ist der Volksstamm, der seit Jahrhunderten diese Region bevölkert.
Dawson City - der wohl bekannteste Ort des Yukons. Durch den Klondike-Goldrausch im 19. Jahrhundert ist die kleine Stadt weltberühmt geworden. Der Schriftsteller Jack London verarbeitete seine Erlebnisse hier u.a. in seinem Roman "Lockruf des Goldes". Dawson liegt am Klondike Fluss. Auf einem Hügel, nahe am Wasser steht ein Museum. Hier arbeitet Allison Anderson.
Die junge Frau ist traditionell aufgewachsen. Sie ging schon mit 3, 4 Jahren mit ihren Eltern auf die Jagd.
Allison Anderson: "Ich wurde zu einer Frau, nachdem ich mein erstes Rentier getötet habe. Als wir es nach Hause brachten, habe ich alles alleine gereinigt und verpackt. Meine Mutter und mein Vater gaben ein Potlatsch für mich. Ich war ein etwas schockiert als ich herausfand, dass ich mein ganzes Fleisch verschenken musste. Aber dann sagte meine Mutter, dass das der traditionelle Weg sei. Als sie sagte es gab keine Fragen mehr. Ich dachte so ,ok'."
Allison ist bei Dawson City aufgewachsen. Im Museum der Trondek Hwechin zeigt sie alte Werkzeuge, Kleidung und Kanus, die ihre Vorfahren damals genutzt haben.
In der Goldgräber-Region ist manch ein Europäer steinreich geworden. Für die Ureinwohner, die traditionell naturnah leben, hatte er dagegen traumatische Folgen.
Allison Anderson: "All die Mineralien, die sie ausgraben, sollten im Boden bleiben. Die Ältesten erzählen, dass es das Gold war, das das Wasser sauber gehalten hat. Wenn meine Vorfahren Gold fanden, warfen sie es wieder ins Wasser. ... Deswegen ist unser Wasser so schmutzig. Man kann es nicht trinken. Alle unsere Tiere bekommen Krankheiten."
Der Klimawandel macht ihr Angst
Allison hofft trotzdem, dass sie auch künftig so leben kann wie ihre Vorfahren. Angst macht ihr nur der Klimawandel.
Allison Anderson: "Im Moment können wir nicht fischen, weil es zu wenig Lachse gibt. Ich träume davon, in der Lage zu sein, irgendwann mit meinen Kindern zu fischen. Ich hoffe, dass ich das tun kann."
Die 21-Jährige lebt die Traditionen ihrer Vorfahren und sie unterrichtet sie auch. In der Grundschule von Dawson City singt sie mit den Kindern alte indianische Lieder. Sich das Leben nehmen – auf diesen Gedanken würde Allison Anderson nie kommen. Sie ist glücklich. Sie trägt wie jede andere junge Kanadierin modische Kleidung, surft im Internet und schaut Netflix-Serien. Doch ab und zu schlüpft sie in ihre traditionellen Gewänder und geht auf die Jagd. Sie hat Glück, dass die Kultur ihrer Vorfahren im Yukon so gut erhalten ist. Sie musste nicht mühsam nach ihren Wurzeln graben, wie so viele anderen jungen Ureinwohner Kanadas.