Literaturliste:
Marguerite Andersen: "Ich, eine schlechte Mutter"
Aus dem Französischen (Quebec) von Patricia Klobusiczky
Secession Verlag, Berlin/Zürich 2020, 191 Seiten, 22 Euro
Marie-Claire Blais: "Drei Nächte, drei Tage"
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 391 Seiten, 24 Euro
Karoline Georges: "Totalbeton"
Aus dem Französischen (Quebec) von Frank Heibert
Secession Verlag, Berlin/Zürich 2020, 140 Seiten, 22 Euro
Dany Laferrière: "Ich bin ein japanischer Schriftsteller"
Aus dem Französischen von Beate Thill
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2020, 200 Seiten, 22 Euro
Jacques Poulin: "Volkswagen Blues"
Aus dem Französischen von Jan Schönherr
Hanser, München 2020, 256 Seiten, 23 Euro
Louis-Karl Picard-Sioui: "Stories aus Kitchike - Der große Absturz"
Aus dem Französischen (Quebec) von Sonja Finck und Frank Heibert
Secession Verlag, Berlin/Zürich 2020, 184 Seiten, 20 Euro
Jocelyne Saucier: "Was dir bleibt"
Aus dem Französischen (Quebec) von Sonja Finck und Frank Weigand
Insel Verlag, Berlin 2020, 253 Seiten, 22 Euro
Mehr als Margaret Atwood
11:31 Minuten
Frankokanadische Autoren werden in Deutschland bisher kaum wahrgenommen. Als Gastland der Frankfurter Buchmesse präsentiert Kanada auch seine aktuelle französischsprachige Literatur. Sie bietet einige Entdeckungen: finster, hippiemäßig und hochkomisch.
Kanada hätte der Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse sein sollen. Wegen der Coronapandemie findet diese nun größtenteils virtuell statt und Kanada hat sich entschlossen, seine Literatur über mehrere Monate hinweg in punktuellen Veranstaltungen, vor allem aber in Onlinepräsentationen dem deutschen Publikum zu präsentieren.
Bei Literatur aus Kanada denkt man hierzulande häufig nur an zwei große Namen: Margaret Atwood und Alice Munro, wobei Munro* die erste und bislang einzige Literaturnobelpreisträgerin aus diesem Land ist. Beide schreiben auf Englisch. Der englischsprachige Buchmarkt Kanadas ist doppelt so groß wie der französischsprachige. Die französischsprachigen Autoren sind international weniger prominent. In Deutschland ist vor allem Dany Laferrière bekannt, der auf Französisch schreibt, aber aus Haiti stammt.
Drei bekannte Namen aus Quebec
Zu den bekanntesten frankokanadischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zählen Marie-Claire Blais, Jacques Poulin und Jocelyne Saucier. Sauciers jüngster Roman heißt "Was dir bleibt". Das Buch spielt vor einer sehr kanadischen Kulisse: Eine Frau, Gladys, verschwindet ohne Ankündigung. Sie steigt in einen Zug und fährt durch Quebec und Ontario. Ihre Spur verliert sich in den Weiten des Landes. Freunde versuchen, ihre Route nachzuverfolgen und ihre Motive zu ergründen. Eine sehr persönliche, verschlungene Spurensuche, die am Ende bis nach Paris führt.
Marie-Claire Blais schreibt schon sehr erfolgreich seitdem sie 20 ist. Der Roman "Drei Nächte, drei Tage" ist bereits 1995 auf Französisch erschienen. Auf 300 Seiten folgen die Worte fast ohne Absätze aufeinander. Auch Satzzeichen gibt es kaum. Unterschiedliche soziale Schichten treffen auf einer Insel in der Karibik oder im Golf von Mexiko zusammen. Beides sind bevorzugte Urlaubsregionen vieler Kanadier.
Reiche Touristen, arme Einheimische, Sinnsucher und verzweifelte Einsame. Das Buch ist eine atemlose Sozial- und Psychostudie, in der Erotik, Gewalt, Rassismus thematisiert werden. Lauter Fragen, über die heute weltweit intensiv diskutiert wird. Ein nicht ganz einfach zu durchdringender, aber sehr eindringlicher, finsterer Roman.
Mit dem VW-Bus nach San Francisco
Jacques Poulins "Volkswagen Blues" ist eine "Road Novel". Mit dem VW-Bus geht es quer durch den nordamerikanischen Kontinent. Ein mittelalter Mann, Schriftsteller und Bulli-Liebhaber, gabelt auf der Landstraße eine junge Frau auf. Sie entpuppt sich als fanatische Leserin, die ohne Bibliothek nicht existieren kann. Die beiden fahren vom Nordosten bis an die Westküste, über Chicago bis nach San Francisco. Der Schriftsteller sucht seinen verschollenen Bruder. Dieses herrliche Buch ist eine Feier der Weite und des Reisens, ein heiteres, leicht hippiemäßiges Werk, das in lässiger Sprache erzählt und sehr fesselnd ist. Eines der anregendsten Bücher aus Kanada, die jetzt erschienen sind.
Marguerite Andersens "Ich, eine schlechte Mutter" ist der autobiografische Roman einer Literaturprofessorin. Sie erzählt von ihrer Flucht aus Nazideutschland als junges Mädchen und ihrer Eheschließung mit einem Franzosen. Dieser arbeitet im damals noch französischen Protektorat Tunesien. Als er ihre Freiheit immer mehr einschränkt und die Kinder schlägt, entweicht die Protagonistin nach Quebec. Kanada wird der Fluchtpunkt vor der europäischen Enge der Nachkriegszeit. Das Buch ist auch eine sehr berührende Selbstanklage, denn die Mutter kann sich nicht verzeihen, dass sie ihre Kinder beim gewalttätigen Vater zurückgelassen hat. Ein Text voller existenzieller Wucht.
Skizzen aus dem Alltag der Native Americans
Der Schriftsteller, Performer und bildende Künstler Louis-Karl Picard-Sioui wurde 1976 geboren. Er gehört dem Stamm der Huronen an und stammt aus Wendake, einem für Angehörige der kanadischen Ureinwohner reservierten Gebiet. Die fiktiven, aber autobiografisch grundierten "Stories aus Kitchike" zeigen einen frischen, frechen Blick auf die multikulturelle kanadische Gesellschaft, in der das Verhältnis zwischen europäischen Einwanderern und der indigenen Bevölkerung von Ungerechtigkeiten und Klischees geprägt ist.
Picard-Siouis Text ist keine direkte Anklage gegen den Kolonialismus, sondern er formuliert ironische, teilweise hochkomische Skizzen aus dem Alltag der Native Americans. Der Autor spielt mit den Stereotypen. Soziale Benachteiligung, Alkoholismus, Ausgrenzung etc. werden zwar deutlich, aber der Gestus ist eher augenzwinkernd und selbstbewusst.
Besonders zu erwähnen ist das kluge Nachwort des Übersetzerteams Sonja Finck und Frank Heibert, in dem sie heute mitunter als heikel betrachtete Bezeichnungen wie "Indianer", "Ureinwohner", "Autochthone" oder Mitglieder der "Premières Nations" diskutieren. Dies sind Benennungen, über die sich manche Figuren im Roman selbst wiederum amüsieren. Nicht zuletzt wegen dieser räsonierenden Sprachkritik vor dem Hintergrund politisch korrekter linguistischer Herausforderungen ist dieser Roman eine absolute Empfehlung.
Finsteres Zukunftsszenario
"Totalbeton" von Karoline Georges ist eine finstere Dystopie. In einem Gebäude mit Tausenden Etagen ist die Überwachung total. Bewohner werden wie Müllsäcke entsorgt. Väterliche Gewalt und staatliche Kontrolle ersticken alle Regungen. Als hätte die 1970 in Montreal geborene Autorin die Coronakrise vorausgeahnt, ist das Leben von ständiger Desinfektion geprägt, von einem Drang zur Reinigung und dem Abschleifen jeglicher Individualität. Eine dunkle, hoffnungslose Zukunftsvision im Stil eines George Orwell – und eine sehr universelle Erfahrung, die das Leben auf unserem Planeten prägt.
*An dieser Stelle haben wir die Verwechslung eines Namens korrigiert.