Kann denn Liebe Sünde sein?
Heutzutage gelten in Teilen der christlichen Kirche erotische Liebe und die Freude daran als Geschenk des Schöpfers, der sich hinzugeben erst die bedingungslose Liebe zwischen Gott und Mensch möglich mache. Vor allem die Kirchenbasis und die sozialen Einrichtungen der Kirchen vertreten heute ein neuzeitliches Verständnis von Sexualität.
"Maria und Josef stehen in Bethlehem vor einer Herberge und bitten um Quartier. Der Wirt: "Wir haben kein Zimmer mehr frei." Darauf Josef: "Ja, seht Ihr denn nicht, dass mein Weib schwanger ist?" Der Wirt: "Dafür kann ich doch nichts." Und Josef: "Ich vielleicht?"
Finden gläubige Christen das komisch? Kann die Kirche über sich lachen, noch dazu im Zusammenhang mit Sex? Ja und nein: "Die Christen" und "die Kirche" sind heterogen zusammengesetzte Gemeinschaften, in denen – Gott sei dank – die verschiedensten Gemüter ihren Platz finden. Der evangelische Theologe Professor Harald Schröter-Wittke von der Uni Paderborn kann über solche Witze lachen – gerade weil er den Glauben ebenso ernst nimmt wie Liebe und Sex.
"Das, was wir reden, wenn wir über Liebe reden, ist nicht Pille-Palle, sondern etwas, das `ne unglaubliche Macht und Gewalt und `nen Lebenstrieb hat; das ist das, warum wir überhaupt auf der Welt sind …"
Schröter-Wittke redet auch zum Thema Kirche und Sex kein Pille-Palle, sondern Tacheles, beispielsweise zur Frage: "Kann denn Liebe Sünde sein?"
Erstmal müsse man die Begriffe klären, sagt der Theologe. Erstens: "Sünde". Sie sei der "Grund-Riss" des Menschen.
"Das bedeutet, dass wir als Menschen nicht mit uns eins sind, sondern dass wir als zerrissene und vielleicht auch als verlorene Hälften durch die Welt laufen. Und "Grundriss" ist ja so ein Wort der Architektur – so ein Plan eines Hauses, und es ist auch der Grundriss eines Menschen, glaub ich, dass er sozusagen diesen Riss in seinem Leben zu gestalten hat. Dass er an diesem Riss nicht vorbeikommt.
Es gibt in der Religion so zwei Mythen, die das `n bisschen erklären: Der eine Mythos besagt "Zwei Seelen ach in meiner Brust" – Goethe, Prometheus-Mythos, also da ist was Göttliches und was Menschliches oder was Göttliches und was Diabolisches in mir drin. Und die andere Lesart ist: Da gibt´s einen Apfel, davon darf ich nicht essen, ich tu´s aber trotzdem. Das ist die biblische Lesart. Das heißt, ich bin mit meiner Welt entfremdet. Gelen hat gesagt: Der Mensch ist ein Mängelwesen. Also der Eskimo muss den Eisbären erlegen, damit er ein Fell hat und in der Kälte existieren kann. Und das bedeutet, dass man in diesem Kreislauf drin ist, dass man in diese Welt eingreifen muss, dass man sie gestalten muss. Das bedeutet – für mich jedenfalls – dass man nicht um Schuld drumrumkommt."
"Schuld" – ein Begriff, der in engem Zusammenhang mit dem der "Sünde" steht. Schröter-Wittke aber sieht "Schuld" nicht aus der Perspektive der Moral.
"Sondern sozusagen: Ich muss etwas tun, was ich gar nicht tun will; ich bin genötigt, den Eisbären zu töten, damit ich überleben kann. Und die Eskimos oder die Inuit machen dann eben bestimmte Riten, um den Eisbären und sich mit der Welt wieder zu versöhnen. Und das ist `ne tiefe Einsicht, weil es zeigt, dass wir nicht schuldlos existieren können."
Begriffsklärung Nummer 2: "Liebe". Schröter-Wittke verweist auf Luther, der die Liebe der Menschen von der Liebe Gottes unterscheidet, und sagt, dass die Liebe Gottes den Grund-Riss des Menschen heile, während die Liebe der Menschen diesen Grund-Riss gestalte. Dabei bestehe immerhin die Möglichkeit, dass die Liebe zwischen Menschen eine Ahnung von der Heilung dieses Grund-Risses vermitteln könne.
"Luther war es wichtig, dass die Liebe Gottes davon unterschieden ist, weil die die Grundlage unseres Leben ist. Und der große Unterschied bei Luther besteht darin, dass unsere menschliche Liebe auf Attraktivität, auf Gegenseitigkeit, auf Anziehungskraft beruht. Da zieht sich was an, da stößt sich was ab, da gibt´s ein Hin und Her, gibt´s ein Geben und Nehmen, ein Do ut des. Bei Gott ist das anders. Da gibt´s diese berühmte 18. These in den Heidelberger Thesen: Gott schafft sich das, was er liebt. Das ist wie die Creatio ex nihilo, also die Schöpfung aus dem Nichts. Das erwarten wir sehr oft von der menschlichen Liebe, das können wir darüber aber nicht kriegen. Das gibt´s wahrscheinlich erst im Himmel – was immer das ist, weiß ich auch nicht, aber da gibt’s das wahrscheinlich"
Göttliche und menschliche Liebe unterscheiden sich also. Und trotzdem – letztlich sind beide Eins.
"Wenn man jetzt in mystische Traditionen reingeht, dann kann man so lange über diesen Unterschied reden, dass es ihn am Ende gar nicht mehr gibt. Also das ist sozusagen der Clou davon. Deswegen ist mir wichtig, dass das `ne Unterscheidung ist, aber keine Trennung. Berühmtestes Beispiel aus unserer christlichen Tradition: 1. Korinther 13, das Hohe Lied der Liebe – "…die Liebe ist aber die größte unter ihnen" …"
"Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht auf,
sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles,
sie hofft alles, sie duldet alles.
Die Liebe hört niemals auf,
wo doch das prophetische Reden aufhören wird
und das Zungenreden aufhören wird
und die Erkenntnis aufhören wird."
"Natürlich ist da bei Paulus die Liebe Gottes gemeint, aber natürlich nehmen die Leute das als Taufvers – und genau dass man das eben nicht unterscheiden kann, dass das Eine mit dem Anderen was zu tun hat, das ist das Spannende. Darauf basiert die gesamte Popkultur – also dass man das nicht genau weiß, ob das göttliche oder menschliche Liebe ist, und dass man das in Einem ersehnt. Und es ist an dieser Sehnsucht auch gar nichts falsch, aber: Ich krieg´ sie nicht erfüllt."
"Denn unser Wissen ist Stückwerk,
und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.
Wenn aber kommen wird das Vollkommene,
so wird das Stückwerk aufhören."
Die Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Liebe beziehungsweise ihre Untrennbarkeit scheint in der Glaubensgeschichte mehrfach auf. Augustin unterschied die irdische Selbstliebe und die wahre Liebe zu Gott; bereits dreihundert Jahre zuvor, im 13. Jahrhundert, beschrieb der bis heute verehrte islamische Mystiker Mevlana die Liebe zwischen Mensch und Gott als Voraussetzung für die des Menschen zu seinesgleichen – und für die Auflösung der irdischen in der göttlichen Liebe. Augustinus hat die Haltung der Kirchen zum Thema körperliche Liebe maßgeblich geprägt durch seine Prädestinationslehre und das Credo der Erbsünde, die mit dem von der Schlange verführten Weib in die Welt gekommen sei und sich seitdem mit jedem Geschlechtsakt übertrage.
"In der Entwicklung der christlichen Sexualmoral zeigt sich in unterschiedlichen Wellen die Tatsache, dass Religiosität und Sexualität innerhalb des Menschen zwei widerstreitende Kräfte zu sein haben. Das bedeutet, dass sexuelles Verhalten und religiöser Glaube in einer ganz bestimmten Art und Weise sich gegenseitig ausschließen."
Regina Ammich-Quinn ist katholische Professorin am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Uni Tübingen.
"Es gibt, vermutlich durch die ganze Frömmigkeits- und Theologiegeschichte hindurch, zwei widerstreitende Strömungen, von denen immer mal wieder die eine oder die andere stärker ist – meistens die andere (lacht). Und die erste Strömung ist die der Ausgrenzung des Geschlechtlichen, des Erotischen in seiner Definition als Sünde, in seiner Beschreibung als schädlich für den Menschen, als schädlich für menschliche Beziehungen zu Gott.
Und daneben, darunter – häufig schwächer und häufig auf einer anderen Ebene, nämlich der emotionaler Spiritualität – gibt es eine andere Strömung, die besonders deutlich ausgeprägt ist in der Mystik. Und das ist die Strömung, in der Eros und Agape …"
… Eros ist die menschliche, selbstzentrierte Liebe, Agape die göttliche, selbstlose Liebe …
"… tatsächlich zusammenfließen in einer einzigen Haltung der unaussprechlichen Liebe zu Gott."
"Ja, Herr, liebe mich so, dass es weh tut. Liebe mich oft, und liebe mich lange! Denn je näher deine Liebe dem Schmerz kommt, um so reiner werde ich; je häufiger du mich liebst, um so schöner werde ich; je länger du mich liebst, um so heiliger werde ich hier auf Erden.”"
Die Zisterzienserin Mechthild von Magdeburg, 13. Jahrhundert
Quelle: Uta Störmer-Caysa, Einführung in die mittelalterliche Mystik. Reclam Universal-Bibliothek 2004
""Diese Menschen, vor allem Frauen, lebten ihr Leben durchaus in Keuschheit und in Askese, und gleichzeitig widerspricht das nicht einer ganz überwältigenden sprachlichen Erotik, die aber nicht nur sprachliche Erotik ist, sondern ein insgesamt unglaublich starkes sinnliches Empfinden, das sich auf Gott richtet."
Also quasi Sex mit Gott? – Die Theologin zögert nur kurz.
"Ja - weil wir auch seid Freud wissen, dass Sexualität nicht irgendein vereinzelter Geschlechtsakt ist, sondern die Tatsache, dass wir als Menschen sexuell geprägt sind. Also Sexualität ist nicht was, das man hat oder nicht hat, sondern Sexualität ist, was man lebt und was das eigene Leben gestaltet. In diesem Sinn: Ja! Sex mit Gott."
Wie steht die Kirche heute, wie stehen die Gläubigen unserer Tage zum Thema? Keuschheit ist zwar 40 Jahre nach der sexuellen Revolution der 68er, der Übersättigung und Orientierungslosigkeit folgten, besonders für religiöse Jugend-Bewegungen in den USA wieder ein Wert: Kein Sex vor der Ehe, so lautet neuerlich das Credo, das nicht wenige Anhänger hat. Aber nimmt man die Dauerpräsenz des Themas in sämtlichen Medien – Print, Fernsehen, Internet, Werbung – als Indikator für das Interesse der Gesellschaft am Thema, dann ist die Sexualität und der Umgang damit eines der wichtigsten oder doch interessantesten Themen im Mikro- und Makrokosmos des Menschen zumindest der westlichen Welt – offenbar auch für gläubige Christen:
"Mit Rosenblättern, indischen Düften und einem Salbungsritual ist am Samstag der erste `erotische Gottesdienst´ auf einem Kirchentag gefeiert worden. Lust und Liebe seien ein Geschenk Gottes, sagte Pfarrer Armin Beuscher in der überfüllten Kartäuserkirche in der Kölner Altstadt-Süd. Etwa 400 Besucher waren zum Gottesdienst gekommen, mehr als 500 mussten draußen warten."
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.06.07
…meldete am 9. Juni 2007, zur Zeit des Kirchentags in Köln, der Evangelische Pressedienst.
Ein Gottesdienst, der sich "erotisch" nennt, ein Pfarrer, der Lust und Liebe als Geschenk Gottes bezeichnet – die Kirche scheint sich zu bewegen. Legen die Kirchenoberen die Kneifzangen, mit denen sie das Thema Sexualität jahrhundertelang anfassten, allmählich beiseite? Oder ist es vielmehr die Basis, die sich rührt? 1995 haben allein in Deutschland 1,8 Millionen Menschen – davon 1,4 Millionen römisch-katholische Christen – das sogenannte "KirchenVolksbegehren" unterschrieben.
Zwei von fünf Forderungen der Basisbewegung zur Reformierung der katholischen Kirche betreffen das Thema Sexualität. Sie lauten:
"Freie Wahl zwischen zölibatärer und nicht-zölibatärer Lebensform, das heißt: Die Bindung des Priesteramtes an die e helose Lebensform ist biblisch und dogmatisch nicht zwingend, sondern geschichtlich gewachsen und daher auch veränderbar. Das Recht der Gemeinden auf Eucharistiefeier und Leitung ist wichtiger als eine kirchenrechtliche Regelung.
Weiter die positive Bewertung der Sexualität als wichtiger Teil des von Gott geschaffenen und bejahten Menschen, das heißt:
Anerkennung der verantworteten Gewissensentscheidung in Fragen der Sexualmoral – zum Beispiel Empfängnisregelung –, keine Gleichsetzung von Empfängnisregelung und Abtreibung und mehr Menschlichkeit statt pauschaler Verurteilungen – zum Beispiel in Bezug auf voreheliche Beziehungen oder in der Frage der Homosexualität."
Quelle: www.we-are-church.org
Die Kommunikationsrevolution namens Internet forciert die Beschäftigung mit religiösen Themen im Allgemeinen, mit dem Thema Kirche und Sex im Besonderen: Die einfache und schnelle Möglichkeit, sich zu informieren, nachzufragen und zu debattieren wird intensiv genutzt – es findet ein lebendiger Austausch statt.
"Frage in einem Internetforum: Ich suche eine Textpassage aus der Bibel, in der es um einen Coitus Interruptus geht, hat jemand ne Ahnung, wo das steht?!
Antwort: 1.Mose 38:9 - Aber Er war böse vor dem HERRN, darum ließ ihn der HERR sterben. Da sprach Juda zu Onan: Geh zu deines Bruders Frau und nimm sie zur Schwagerehe, auf dass du deinem Bruder Nachkommen schaffest. Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er's auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe. Dem HERRN missfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben."
Quelle: http://www.wer-weiss-was.de/theme204/article2537712.html
Die beiden großen Kirchen nutzen ihrerseits das Internet, um das Interesse an der Religion zu bedienen und zu fördern. Auf den Seiten der Evangelischen Landeskirche in Baden zum Beispiel finden sich unter der Überschrift "Sex in der Bibel" eine Aufzählung der Themen, die im Heiligen Buch tatsächlich zu finden sind – übertragen in den heutigen Sprachduktus.
"Nächtliche Besuche bei der Freundin, Eifersuchtsdramen zwischen Frauen um den gemeinsamen Geliebten, ein Liebeslager, wenn auch nicht im Kornfeld, so auf der Tenne, eine Frau, die ihren Schwiegervater verführt und so die Familienehre rettet, ein Mann, der aus Feigheit seine Frau prostituiert, Familiendrama nach Beischlaf, Abhängigkeitsverhältnisse und missbrauchtes Vertrauen, Inzest, Vergewaltigung und Brutalität - das ist weder ein Script für eine Daily-Soap, noch ein Katalog der Lebensberatungsstelle. Das ist Bibel live."
Quelle: www.ekiba.de (Evangelische Landeskirche in Baden)
Dieser Aufzählung, die sich wie die Plotliste einer TV-Soap liest, folgt die Quellenangabe: Alle genannten Themen finden sich im Hohelied, im Ersten Buch Mose, im Buch Ruth und im Zweiten Buch Samuel.
Diese originelle Art, auf Sex in der Bibel hinzuweisen, stammt allerdings von der Basis. Die offiziellen Verlautbarungen neueren Datums schwanken zwischen vorsichtigem Ja zu Lust bei der Liebe und unverändert ablehnender Haltung. Zwei Beispiele:
In einer Orientierungshilfe des Rats der Evangelischen Kirche Deutschland, EKD, mit der Überschrift "Biblische Aussagen zur Sexualität" von 1996 heißt es:
"Nach den Aussagen der Bibel ist der Mensch ein konstitutiv leibhaftes und in seiner Leibhaftigkeit ein konstitutiv sexuelles Wesen. Er ist von Gott erschaffen als Mann und Frau. Diese Polarität wird in den biblischen Schöpfungsberichten unmittelbar in Beziehung gesetzt zu den beiden Grundelementen der Sexualität: der Weitergabe von Leben – Genesis 1,27 – sowie der lustvollen Zuwendung und Vereinigung – Genesis 2,24 sowie die beeindruckenden Texte des Hohen Lieds. Von dieser Geschlechtergemeinschaft zwischen Mann und Frau kommt alles menschliche Leben her. Von ihr stammt jeder Mensch ab. In ihr findet menschliche Sexualität ihre Erfüllung."
Quelle: http://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_2.html
Das hört sich an, als sei die liebende Beziehung ausreichendes Symbol für eine Liebes- und Lebensgemeinschaft. Aber so formlos ist nach Ansicht der EKD das christliche Zusammenleben nun doch nicht:
"Die damit gegebene Ausrichtung an der Geschlechtergemeinschaft von Mann und Frau kann jedoch nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden mit den Leitbildern Ehe und Familie. In den biblischen Schöpfungsaussagen ist (noch) nicht ausdrücklich von diesen - geschichtlich und kulturell variablen - Formen des Zusammenlebens die Rede, sondern lediglich von der Bedeutung der Geschlechtergemeinschaft von Mann und Frau für das Menschsein. Aber die Tiefe der leibhaften Verbindung, die durch die sexuelle Gemeinschaft entsteht (…), tendiert von sich aus zu einer lebenslangen Verantwortung für das Gegenüber, das man sich so vertraut gemacht hat. Insofern kann man sagen, daß das biblische Menschenbild auf Ehe und Familie hingeordnet ist."
Quelle: http://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_2.html
Die offizielle Haltung der Katholischen Kirche zu gesellschaftlich relevanten Sexual-Themen scheint noch weniger modernisiert, wie jeder aufmerksame Zeitgenosse den Medien entnehmen kann. Die Deutsche Bischofskonferenz etwa drohte noch in 2002 denjenigen ihrer Kirchenbediensteten mit Entlassung, die eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft eingehen wollten.
Quelle: www.kna.de
Wo aber der Glaube im Alltag gelebt und in Handeln nach christlichen Maßstäben umgesetzt wird, tut sich viel. Die caritativen Organisationen der Kirchen beispielsweise beschäftigen sich mit dem Thema Sexualität im Rahmen eines umfassenden Beratungs- und Unterstützungsangebots bei Fragen, Problemen und konkreten Notlagen.
Die entsprechenden Beratungsstellen der christlichen Kirchen heißen zwar in der Regel noch immer Schwangerschafts- bzw. Schwangerschaftskonfliktberatung – sie beschränken sich aber längst nicht mehr auf dieses Thema. Es geht um Sexualität im umfassenden Sinn.
"Meine Zielgruppe ist eigentlich von der Wiege bis zur Bahre. Weil jeder kommt mit Sex zur Welt, das heißt, jeder hat ein Geschlecht, und jeder ist fast sein ganzes Leben damit beschäftigt: Wer bin ich hier, welche Rolle hab´ ich hier inne, wie stelle ich mich dar, wie komme ich mit meinen Bedürfnissen zurecht?"
Sigrid Vollstedt ist Sozialpädagogin und arbeitet bei der Diakonie Bonn in der Evangelischen Beratungsstelle für Schwangerschaft, Sexualität und Pränataldiagnostik. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört die Sexualberatung für Kinder und Jugendliche.
"Ich bin immer noch `n Teil von `nem ursprünglichen Experiment: 1990 hat die Evangelische Kirche überhaupt zum ersten Mal Menschen ganz explizit für den Bereich Sexualpädagogik eingestellt. Das hieß damals noch Schwangerschaftsprophylaxe, weil´s in vielen kirchlichen Kreisen als Sexualpädagogik nicht gut hat verkauft werden können. Diese Kreise waren aber weniger die Kirchenführung als so dieses Gefühl, es der Basis gegenüber nicht vertreten zu können. Aber 1990 waren noch andere Zeiten. Die Kirche für sich hat gesagt, es ist ein immens wichtiger Teil, jeder ist Mann oder Frau, Sexualität kann immer Probleme aufwerfen. Und dann wollen wir als Kirche auch ne Stelle schaffen, an die man sich wenden kann mit dem Gefühl: Da bin ich gut aufgehoben."
Die Diakonie-Mitarbeiterin hat in den Jahren ihrer Arbeit in der Sexualberatung beobachtet, dass sich Veränderungen im Bezug auf Sexual-Normen und -Werte mehr in der Gesellschaft vollzogen haben und weniger in der Einstellung der Kirche zum Thema.
"Die 90er Jahre, die standen unter dem Thema AIDS erstmal und immer noch unter dem Zeichen der Freizügigkeit. Mittlerweile merkt man, dass die Jugendlichen viel mehr nach Orientierung verlangen als früher. Ich erklär´ mir das immer so, dass aus den 90er Jahren die Jugendlichen damals – also die damals 12jährigen, das war so Hauptzielgruppe – noch `n Großteil an einer stabileren Werteerziehung aus den Familien mitgebracht haben, während heutzutage Jugendliche das nicht mehr haben. Oder auch diese ganze sexualisierte Gesellschaft, das ist für viele einfach `ne Überforderung. Ein Mann hat mal gesagt: Mensch, ich bin ja eigentlich im Dauerstress, überall die vielen Busen und Popos und so – das rührt mich an in meiner tiefsten archaischen Bestimmung, und mir wird das einfach zuviel! Und genau das scheint mir bei vielen Jugendlichen der Fall zu sein. Nur: Wo sind die Muster, wo ist das, woran sie sich halten können?"
Diese Orientierungsmuster zu geben sei ihre Aufgabe, sagt Sigrid Vollstedt. Inzwischen geht sie auch schon in die Grundschulen, um die Kinder auf die Pubertät vorzubereiten.
"Heutzutage wissen wir: Mädchen kommen schon mit neun Jahren teilweise in die Pubertät, und mit der Pubertät verändert sich ja nicht nur der Körper, sondern auch das Denken. Das heißt, die Kinder fangen an, diese Welt der Erotik für sich zum ersten Mal zu betreten. Und da halten wir´s für wichtig, erstmal schon in der Grundschule auf diese körperlichen Veränderungen vorzubereiten und auch zu sagen: Ihr werdet Euch verändern. Euer Verhältnis zu Euren Eltern könnte in der nächsten Zeit ein bisschen kritisch werden. Und das gehört dazu."
Eine Generation, in einer so stark sexualisierten Umfeld aufwächst, fragt anders als die Eltern- oder gar Großeltern-Generation.
"Fragen im zehnten Schuljahr sind meist sachlich: Wie groß kann ein Penis werden? Müssen alle Leute Sex machen? Muss ich Sex machen, wenn ich ein Kind haben will? Was heißt "Hurensohn"? Also ganz sachlich-naive Fragen, die so einer Entdeckerfreude gleichen, mit der die jetzt durch die Welt gehen. Wenn die zwölf Jahre alt sind, also im sechsten Jahrgang, da kommen dann schon andere Fragen: Was ist Analverkehr? Ist Vögeln schön? Tut es weh beim ersten Mal? Muss ich Sexspiele machen? Ist Homosexualität gut?"
Diese oft schon geschlechtsreifen jungen Menschen tragen ein buntes Chaos an Eindrücken und Bildern mit sich herum, in dem sie sich ohne Unterstützung nicht zurechtfinden. Sigrid Vollstedt hilft beim Einordnen:
"Da gibt´s ne sachliche Einordnung – das heißt, ab wann darf man zum ersten Mal Geschlechtsverkehr machen? Es gibt `ne emotionale Einordnung, die dann heißt: Darf ich das eklig finden? Oder: Wie wird man reif, wie stell´ ich das fest? Und es gibt auch Fragen, die so sachlich daherkommen, aber auch wieder einer Einordnung bedürfen. Also zum Beispiel: Wie macht man Abtreibung? Da kommt schon die Frage nach Leben und Tod, die steckt so mit dahinter, nach Ethik, Moral, nach gesellschaftlicher Verantwortung … Die ist da drin verpackt."
Und das Ziel der Beratung auch: Sigrid Vollstedt will Verantwortungsbewusstsein vermitteln.
"Ich muss es schaffen, so was wie Verantwortlichkeit in den Kindern oder Jugendlichen hervorwachsen zu lassen. Und Verantwortlichkeit ist ja ein sehr unerotischer Begriff erstmal. Also wenn ich denke, hach, ich küsse mich da grade ganz heiß mit meiner Geliebten, und plötzlich kommt die Verantwortlichkeit in Form von Kondomen da vorbeigeflogen – das ist irgendwie schon `n bisschen komisch. Wenn ich aber Verantwortung auflöse in "Sich gegenseitig achten", "gegenseitig Wertschätzung voreinander haben", auch da aufeinander achten, wo vielleicht der Andere sich nicht selber so ausdrücken kann – also so´n Vorschuss an Fürsorglichkeit geben, auf die eigene Gesundheit achten und natürlich auch auf die des Anderen – dann habe ich so `ne Ebene, wo sich diese Verantwortung nach Liebe hin auflöst. Und wenn man diese Verantwortung beachtet, dann wird man auch dieses grenzübergreifende von Liebe mit in die Beziehung einfließen lassen – können."
Und hier, beim Stichwort Verantwortung, trifft sich die Praxis der kirchlichen Sexualberatung mit der modernen Theologie eines Harald Schröter-Wittke: Seine Antwort auf die selbstgestellte Frage, ob Liebe, ob Sex Sünde sein könne, lautet klar: Ja. Allerdings definiert er Sünde, wie wir gehört haben, nicht moralisch – auch nicht im Zusammenhang mit Sex. Körperliche Liebe darf Spaß machen, und jeder soll dabei nach seiner Façon selig werden.
"Voraussetzung – das gilt aber auch für die normale Missionarsstellung – ist, dass beide damit… also dass das in Partnerschaft geschieht, wo´s Absprachen gibt, wo´s Regeln gibt, wo man sozusagen innerhalb bestimmter Grenzen … Und es gibt immer auch in diesen Grenzen den Bereich der Verletzung, der ist bei Liebe immer da. Aber das hat mit der Form der Sexualität nichts zu tun, sondern mit der Beziehung, in der man das gestaltet."
Es geht beim Sex nicht um Moral, sondern um Verantwortung, sowohl für die christliche Sozialpädagogin Vollhardt als auch für den Theologen Schröter-Wittke. Und sprechen darf und soll man über Alles – ohne Tabu.
Zu den Tabus, die in ganz allmählicher Auflösung begriffen sind, gehört auch das vom Sex im Alter. Sexualität in längeren Beziehungen, in jahrzehntelangen Ehen – mittlerweile ein Thema auch für die kirchliche Sexualberatung.
"Wobei ja "Alter" so´n dehnbarer Begriff ist – also dass die Menschen heute mit 60 anders drauf sind also vor 30, 40 Jahren. Von daher wäre auch zu erwarten, dass die Einstellung zur Sexualität eine etwas andere ist. Das ist zum Teil auch so, aber es ist auch unverändert ein ziemliches Tabuthema …"
Die Sozialpädagogin Christiane Detering arbeitet beim Evangelischen Johanneswerk Bielefeld, einer Einrichtung der Diakonie, in der Beratung für Schwangere, Sexualität, Paare und Familien. Von Zeit zu Zeit bietet sie auch Workshops an zum Thema "Sex in älteren Beziehungen".
"Wenn Sie einzelne Paare fragen, dann findet sich, dass die eher wenig Probleme haben, das Thema Sexualität für sich noch zu nehmen als etwas, was sie leben möchten, was sie haben möchten, was nicht weggegangen ist, nur weil sie jetzt in den Ruhestand gegangen sind oder bei Frauen ja noch früher: Nur weil die Wechseljahre jetzt gekommen sind, heißt das ja nicht, sich von diesem Thema zu verabschieden. Aber das schwirrt immer noch so als Vorurteil herum."
Fakt ist: Wer als junger Mensch Spaß am Sex hatte, will ihn auch mit 70 oder darüber noch haben.
"Also 70plus hatte ich noch nicht. 50plus sehr wohl – und eigentlich unterscheidet sich das nicht von dem, was Menschen mit 30plus bewegt. Es knistert nicht mehr so wie Anfang, der Eine will was Anderes als der Andere, und das kriegt man nicht in Übereinstimmung, und/oder man fühlt sich irgendwie bedrängt oder zu sehr gefordert. Manchmal auch so´n Anliegen: Jetzt bin ich 50 Jahre alt und hatte noch nie einen Orgasmus, und jetzt will ich aber doch endlich mal wissen, wie das geht."
Die Kirche und der Sex – das war nie eine Liebesbeziehung, sondern immer ein schwieriges Verhältnis. Aber es scheint sich zu bessern. Auch, weil die Basis – also der eigentliche Körper der Kirche – selbstbewusst ihre eigenen Vorstellungen davon hat, wie sie das Christsein leben will. Die römisch-kirchliche Sexualmoral, meint die Theologin Regine Ammicht-Quinn, habe zumindest in der mitteleuropäischen Gesellschaft längst nicht mehr den Einfluss auf das Leben der Katholiken wie ehedem.
"Dazu gibt es Untersuchungen, die also diesen mangelnden Einfluss auch bei Menschen, die sich sehr zugehörig und sehr gläubig fühlen, bestätigen."
Und die Praktikerin Christiane Detering, die im täglichen Kontakt zur Basis erlebt, wie die Christen mit dem Thema Sexualität umgehen, blickt auf selbstbewusste Art optimistisch in die Zukunft der Beziehungskiste "Kirche und Sex".
"Es hat ja `ne lange Tradition, dass es ein gespanntes Verhältnis gewesen ist, das baut sich natürlich so schnell nicht ab, ganz klar. Aber ich finde, da sind wir auch als Mitarbeitende der Kirche auf `nem guten Weg."
"Ein braver Mann stirbt und kommt in den Himmel. Alles ist furchtbar fromm und langweilig. Während er so vor sich hin gähnt, guckt er nach unten – geradewegs in die Hölle hinein. Und siehe da, dort geht es viel lustiger zu, alle sind fröhlich und feiern eine große Orgie mit allem Drum und Dran. Da wacht unser braver Mann aber auf! Er rennt zu Petrus und sagt: "Ich will auch runter in die Hölle!" Darauf Petrus: "Meinetwegen! Ist Deine Entscheidung, geh nur!" Also wechselt der Mann vom Himmel in die Hölle und wird dort gleich vom Teufel gepackt, in einen Kochtopf geworfen und erst mal kräftig untergetaucht. Als er wieder auftaucht, fragt er den Teufel: "Ich habe doch vorhin vom Himmel aus ganz was Anderes gesehen! Wo ist denn das Festmahl und der Sex?" Darauf der Teufel: "Ach das! Das ist nur unsere PR-Abteilung!"
Finden gläubige Christen das komisch? Kann die Kirche über sich lachen, noch dazu im Zusammenhang mit Sex? Ja und nein: "Die Christen" und "die Kirche" sind heterogen zusammengesetzte Gemeinschaften, in denen – Gott sei dank – die verschiedensten Gemüter ihren Platz finden. Der evangelische Theologe Professor Harald Schröter-Wittke von der Uni Paderborn kann über solche Witze lachen – gerade weil er den Glauben ebenso ernst nimmt wie Liebe und Sex.
"Das, was wir reden, wenn wir über Liebe reden, ist nicht Pille-Palle, sondern etwas, das `ne unglaubliche Macht und Gewalt und `nen Lebenstrieb hat; das ist das, warum wir überhaupt auf der Welt sind …"
Schröter-Wittke redet auch zum Thema Kirche und Sex kein Pille-Palle, sondern Tacheles, beispielsweise zur Frage: "Kann denn Liebe Sünde sein?"
Erstmal müsse man die Begriffe klären, sagt der Theologe. Erstens: "Sünde". Sie sei der "Grund-Riss" des Menschen.
"Das bedeutet, dass wir als Menschen nicht mit uns eins sind, sondern dass wir als zerrissene und vielleicht auch als verlorene Hälften durch die Welt laufen. Und "Grundriss" ist ja so ein Wort der Architektur – so ein Plan eines Hauses, und es ist auch der Grundriss eines Menschen, glaub ich, dass er sozusagen diesen Riss in seinem Leben zu gestalten hat. Dass er an diesem Riss nicht vorbeikommt.
Es gibt in der Religion so zwei Mythen, die das `n bisschen erklären: Der eine Mythos besagt "Zwei Seelen ach in meiner Brust" – Goethe, Prometheus-Mythos, also da ist was Göttliches und was Menschliches oder was Göttliches und was Diabolisches in mir drin. Und die andere Lesart ist: Da gibt´s einen Apfel, davon darf ich nicht essen, ich tu´s aber trotzdem. Das ist die biblische Lesart. Das heißt, ich bin mit meiner Welt entfremdet. Gelen hat gesagt: Der Mensch ist ein Mängelwesen. Also der Eskimo muss den Eisbären erlegen, damit er ein Fell hat und in der Kälte existieren kann. Und das bedeutet, dass man in diesem Kreislauf drin ist, dass man in diese Welt eingreifen muss, dass man sie gestalten muss. Das bedeutet – für mich jedenfalls – dass man nicht um Schuld drumrumkommt."
"Schuld" – ein Begriff, der in engem Zusammenhang mit dem der "Sünde" steht. Schröter-Wittke aber sieht "Schuld" nicht aus der Perspektive der Moral.
"Sondern sozusagen: Ich muss etwas tun, was ich gar nicht tun will; ich bin genötigt, den Eisbären zu töten, damit ich überleben kann. Und die Eskimos oder die Inuit machen dann eben bestimmte Riten, um den Eisbären und sich mit der Welt wieder zu versöhnen. Und das ist `ne tiefe Einsicht, weil es zeigt, dass wir nicht schuldlos existieren können."
Begriffsklärung Nummer 2: "Liebe". Schröter-Wittke verweist auf Luther, der die Liebe der Menschen von der Liebe Gottes unterscheidet, und sagt, dass die Liebe Gottes den Grund-Riss des Menschen heile, während die Liebe der Menschen diesen Grund-Riss gestalte. Dabei bestehe immerhin die Möglichkeit, dass die Liebe zwischen Menschen eine Ahnung von der Heilung dieses Grund-Risses vermitteln könne.
"Luther war es wichtig, dass die Liebe Gottes davon unterschieden ist, weil die die Grundlage unseres Leben ist. Und der große Unterschied bei Luther besteht darin, dass unsere menschliche Liebe auf Attraktivität, auf Gegenseitigkeit, auf Anziehungskraft beruht. Da zieht sich was an, da stößt sich was ab, da gibt´s ein Hin und Her, gibt´s ein Geben und Nehmen, ein Do ut des. Bei Gott ist das anders. Da gibt´s diese berühmte 18. These in den Heidelberger Thesen: Gott schafft sich das, was er liebt. Das ist wie die Creatio ex nihilo, also die Schöpfung aus dem Nichts. Das erwarten wir sehr oft von der menschlichen Liebe, das können wir darüber aber nicht kriegen. Das gibt´s wahrscheinlich erst im Himmel – was immer das ist, weiß ich auch nicht, aber da gibt’s das wahrscheinlich"
Göttliche und menschliche Liebe unterscheiden sich also. Und trotzdem – letztlich sind beide Eins.
"Wenn man jetzt in mystische Traditionen reingeht, dann kann man so lange über diesen Unterschied reden, dass es ihn am Ende gar nicht mehr gibt. Also das ist sozusagen der Clou davon. Deswegen ist mir wichtig, dass das `ne Unterscheidung ist, aber keine Trennung. Berühmtestes Beispiel aus unserer christlichen Tradition: 1. Korinther 13, das Hohe Lied der Liebe – "…die Liebe ist aber die größte unter ihnen" …"
"Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht auf,
sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles,
sie hofft alles, sie duldet alles.
Die Liebe hört niemals auf,
wo doch das prophetische Reden aufhören wird
und das Zungenreden aufhören wird
und die Erkenntnis aufhören wird."
"Natürlich ist da bei Paulus die Liebe Gottes gemeint, aber natürlich nehmen die Leute das als Taufvers – und genau dass man das eben nicht unterscheiden kann, dass das Eine mit dem Anderen was zu tun hat, das ist das Spannende. Darauf basiert die gesamte Popkultur – also dass man das nicht genau weiß, ob das göttliche oder menschliche Liebe ist, und dass man das in Einem ersehnt. Und es ist an dieser Sehnsucht auch gar nichts falsch, aber: Ich krieg´ sie nicht erfüllt."
"Denn unser Wissen ist Stückwerk,
und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.
Wenn aber kommen wird das Vollkommene,
so wird das Stückwerk aufhören."
Die Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Liebe beziehungsweise ihre Untrennbarkeit scheint in der Glaubensgeschichte mehrfach auf. Augustin unterschied die irdische Selbstliebe und die wahre Liebe zu Gott; bereits dreihundert Jahre zuvor, im 13. Jahrhundert, beschrieb der bis heute verehrte islamische Mystiker Mevlana die Liebe zwischen Mensch und Gott als Voraussetzung für die des Menschen zu seinesgleichen – und für die Auflösung der irdischen in der göttlichen Liebe. Augustinus hat die Haltung der Kirchen zum Thema körperliche Liebe maßgeblich geprägt durch seine Prädestinationslehre und das Credo der Erbsünde, die mit dem von der Schlange verführten Weib in die Welt gekommen sei und sich seitdem mit jedem Geschlechtsakt übertrage.
"In der Entwicklung der christlichen Sexualmoral zeigt sich in unterschiedlichen Wellen die Tatsache, dass Religiosität und Sexualität innerhalb des Menschen zwei widerstreitende Kräfte zu sein haben. Das bedeutet, dass sexuelles Verhalten und religiöser Glaube in einer ganz bestimmten Art und Weise sich gegenseitig ausschließen."
Regina Ammich-Quinn ist katholische Professorin am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Uni Tübingen.
"Es gibt, vermutlich durch die ganze Frömmigkeits- und Theologiegeschichte hindurch, zwei widerstreitende Strömungen, von denen immer mal wieder die eine oder die andere stärker ist – meistens die andere (lacht). Und die erste Strömung ist die der Ausgrenzung des Geschlechtlichen, des Erotischen in seiner Definition als Sünde, in seiner Beschreibung als schädlich für den Menschen, als schädlich für menschliche Beziehungen zu Gott.
Und daneben, darunter – häufig schwächer und häufig auf einer anderen Ebene, nämlich der emotionaler Spiritualität – gibt es eine andere Strömung, die besonders deutlich ausgeprägt ist in der Mystik. Und das ist die Strömung, in der Eros und Agape …"
… Eros ist die menschliche, selbstzentrierte Liebe, Agape die göttliche, selbstlose Liebe …
"… tatsächlich zusammenfließen in einer einzigen Haltung der unaussprechlichen Liebe zu Gott."
"Ja, Herr, liebe mich so, dass es weh tut. Liebe mich oft, und liebe mich lange! Denn je näher deine Liebe dem Schmerz kommt, um so reiner werde ich; je häufiger du mich liebst, um so schöner werde ich; je länger du mich liebst, um so heiliger werde ich hier auf Erden.”"
Die Zisterzienserin Mechthild von Magdeburg, 13. Jahrhundert
Quelle: Uta Störmer-Caysa, Einführung in die mittelalterliche Mystik. Reclam Universal-Bibliothek 2004
""Diese Menschen, vor allem Frauen, lebten ihr Leben durchaus in Keuschheit und in Askese, und gleichzeitig widerspricht das nicht einer ganz überwältigenden sprachlichen Erotik, die aber nicht nur sprachliche Erotik ist, sondern ein insgesamt unglaublich starkes sinnliches Empfinden, das sich auf Gott richtet."
Also quasi Sex mit Gott? – Die Theologin zögert nur kurz.
"Ja - weil wir auch seid Freud wissen, dass Sexualität nicht irgendein vereinzelter Geschlechtsakt ist, sondern die Tatsache, dass wir als Menschen sexuell geprägt sind. Also Sexualität ist nicht was, das man hat oder nicht hat, sondern Sexualität ist, was man lebt und was das eigene Leben gestaltet. In diesem Sinn: Ja! Sex mit Gott."
Wie steht die Kirche heute, wie stehen die Gläubigen unserer Tage zum Thema? Keuschheit ist zwar 40 Jahre nach der sexuellen Revolution der 68er, der Übersättigung und Orientierungslosigkeit folgten, besonders für religiöse Jugend-Bewegungen in den USA wieder ein Wert: Kein Sex vor der Ehe, so lautet neuerlich das Credo, das nicht wenige Anhänger hat. Aber nimmt man die Dauerpräsenz des Themas in sämtlichen Medien – Print, Fernsehen, Internet, Werbung – als Indikator für das Interesse der Gesellschaft am Thema, dann ist die Sexualität und der Umgang damit eines der wichtigsten oder doch interessantesten Themen im Mikro- und Makrokosmos des Menschen zumindest der westlichen Welt – offenbar auch für gläubige Christen:
"Mit Rosenblättern, indischen Düften und einem Salbungsritual ist am Samstag der erste `erotische Gottesdienst´ auf einem Kirchentag gefeiert worden. Lust und Liebe seien ein Geschenk Gottes, sagte Pfarrer Armin Beuscher in der überfüllten Kartäuserkirche in der Kölner Altstadt-Süd. Etwa 400 Besucher waren zum Gottesdienst gekommen, mehr als 500 mussten draußen warten."
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.06.07
…meldete am 9. Juni 2007, zur Zeit des Kirchentags in Köln, der Evangelische Pressedienst.
Ein Gottesdienst, der sich "erotisch" nennt, ein Pfarrer, der Lust und Liebe als Geschenk Gottes bezeichnet – die Kirche scheint sich zu bewegen. Legen die Kirchenoberen die Kneifzangen, mit denen sie das Thema Sexualität jahrhundertelang anfassten, allmählich beiseite? Oder ist es vielmehr die Basis, die sich rührt? 1995 haben allein in Deutschland 1,8 Millionen Menschen – davon 1,4 Millionen römisch-katholische Christen – das sogenannte "KirchenVolksbegehren" unterschrieben.
Zwei von fünf Forderungen der Basisbewegung zur Reformierung der katholischen Kirche betreffen das Thema Sexualität. Sie lauten:
"Freie Wahl zwischen zölibatärer und nicht-zölibatärer Lebensform, das heißt: Die Bindung des Priesteramtes an die e helose Lebensform ist biblisch und dogmatisch nicht zwingend, sondern geschichtlich gewachsen und daher auch veränderbar. Das Recht der Gemeinden auf Eucharistiefeier und Leitung ist wichtiger als eine kirchenrechtliche Regelung.
Weiter die positive Bewertung der Sexualität als wichtiger Teil des von Gott geschaffenen und bejahten Menschen, das heißt:
Anerkennung der verantworteten Gewissensentscheidung in Fragen der Sexualmoral – zum Beispiel Empfängnisregelung –, keine Gleichsetzung von Empfängnisregelung und Abtreibung und mehr Menschlichkeit statt pauschaler Verurteilungen – zum Beispiel in Bezug auf voreheliche Beziehungen oder in der Frage der Homosexualität."
Quelle: www.we-are-church.org
Die Kommunikationsrevolution namens Internet forciert die Beschäftigung mit religiösen Themen im Allgemeinen, mit dem Thema Kirche und Sex im Besonderen: Die einfache und schnelle Möglichkeit, sich zu informieren, nachzufragen und zu debattieren wird intensiv genutzt – es findet ein lebendiger Austausch statt.
"Frage in einem Internetforum: Ich suche eine Textpassage aus der Bibel, in der es um einen Coitus Interruptus geht, hat jemand ne Ahnung, wo das steht?!
Antwort: 1.Mose 38:9 - Aber Er war böse vor dem HERRN, darum ließ ihn der HERR sterben. Da sprach Juda zu Onan: Geh zu deines Bruders Frau und nimm sie zur Schwagerehe, auf dass du deinem Bruder Nachkommen schaffest. Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er's auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe. Dem HERRN missfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben."
Quelle: http://www.wer-weiss-was.de/theme204/article2537712.html
Die beiden großen Kirchen nutzen ihrerseits das Internet, um das Interesse an der Religion zu bedienen und zu fördern. Auf den Seiten der Evangelischen Landeskirche in Baden zum Beispiel finden sich unter der Überschrift "Sex in der Bibel" eine Aufzählung der Themen, die im Heiligen Buch tatsächlich zu finden sind – übertragen in den heutigen Sprachduktus.
"Nächtliche Besuche bei der Freundin, Eifersuchtsdramen zwischen Frauen um den gemeinsamen Geliebten, ein Liebeslager, wenn auch nicht im Kornfeld, so auf der Tenne, eine Frau, die ihren Schwiegervater verführt und so die Familienehre rettet, ein Mann, der aus Feigheit seine Frau prostituiert, Familiendrama nach Beischlaf, Abhängigkeitsverhältnisse und missbrauchtes Vertrauen, Inzest, Vergewaltigung und Brutalität - das ist weder ein Script für eine Daily-Soap, noch ein Katalog der Lebensberatungsstelle. Das ist Bibel live."
Quelle: www.ekiba.de (Evangelische Landeskirche in Baden)
Dieser Aufzählung, die sich wie die Plotliste einer TV-Soap liest, folgt die Quellenangabe: Alle genannten Themen finden sich im Hohelied, im Ersten Buch Mose, im Buch Ruth und im Zweiten Buch Samuel.
Diese originelle Art, auf Sex in der Bibel hinzuweisen, stammt allerdings von der Basis. Die offiziellen Verlautbarungen neueren Datums schwanken zwischen vorsichtigem Ja zu Lust bei der Liebe und unverändert ablehnender Haltung. Zwei Beispiele:
In einer Orientierungshilfe des Rats der Evangelischen Kirche Deutschland, EKD, mit der Überschrift "Biblische Aussagen zur Sexualität" von 1996 heißt es:
"Nach den Aussagen der Bibel ist der Mensch ein konstitutiv leibhaftes und in seiner Leibhaftigkeit ein konstitutiv sexuelles Wesen. Er ist von Gott erschaffen als Mann und Frau. Diese Polarität wird in den biblischen Schöpfungsberichten unmittelbar in Beziehung gesetzt zu den beiden Grundelementen der Sexualität: der Weitergabe von Leben – Genesis 1,27 – sowie der lustvollen Zuwendung und Vereinigung – Genesis 2,24 sowie die beeindruckenden Texte des Hohen Lieds. Von dieser Geschlechtergemeinschaft zwischen Mann und Frau kommt alles menschliche Leben her. Von ihr stammt jeder Mensch ab. In ihr findet menschliche Sexualität ihre Erfüllung."
Quelle: http://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_2.html
Das hört sich an, als sei die liebende Beziehung ausreichendes Symbol für eine Liebes- und Lebensgemeinschaft. Aber so formlos ist nach Ansicht der EKD das christliche Zusammenleben nun doch nicht:
"Die damit gegebene Ausrichtung an der Geschlechtergemeinschaft von Mann und Frau kann jedoch nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden mit den Leitbildern Ehe und Familie. In den biblischen Schöpfungsaussagen ist (noch) nicht ausdrücklich von diesen - geschichtlich und kulturell variablen - Formen des Zusammenlebens die Rede, sondern lediglich von der Bedeutung der Geschlechtergemeinschaft von Mann und Frau für das Menschsein. Aber die Tiefe der leibhaften Verbindung, die durch die sexuelle Gemeinschaft entsteht (…), tendiert von sich aus zu einer lebenslangen Verantwortung für das Gegenüber, das man sich so vertraut gemacht hat. Insofern kann man sagen, daß das biblische Menschenbild auf Ehe und Familie hingeordnet ist."
Quelle: http://www.ekd.de/familie/spannungen_1996_2.html
Die offizielle Haltung der Katholischen Kirche zu gesellschaftlich relevanten Sexual-Themen scheint noch weniger modernisiert, wie jeder aufmerksame Zeitgenosse den Medien entnehmen kann. Die Deutsche Bischofskonferenz etwa drohte noch in 2002 denjenigen ihrer Kirchenbediensteten mit Entlassung, die eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft eingehen wollten.
Quelle: www.kna.de
Wo aber der Glaube im Alltag gelebt und in Handeln nach christlichen Maßstäben umgesetzt wird, tut sich viel. Die caritativen Organisationen der Kirchen beispielsweise beschäftigen sich mit dem Thema Sexualität im Rahmen eines umfassenden Beratungs- und Unterstützungsangebots bei Fragen, Problemen und konkreten Notlagen.
Die entsprechenden Beratungsstellen der christlichen Kirchen heißen zwar in der Regel noch immer Schwangerschafts- bzw. Schwangerschaftskonfliktberatung – sie beschränken sich aber längst nicht mehr auf dieses Thema. Es geht um Sexualität im umfassenden Sinn.
"Meine Zielgruppe ist eigentlich von der Wiege bis zur Bahre. Weil jeder kommt mit Sex zur Welt, das heißt, jeder hat ein Geschlecht, und jeder ist fast sein ganzes Leben damit beschäftigt: Wer bin ich hier, welche Rolle hab´ ich hier inne, wie stelle ich mich dar, wie komme ich mit meinen Bedürfnissen zurecht?"
Sigrid Vollstedt ist Sozialpädagogin und arbeitet bei der Diakonie Bonn in der Evangelischen Beratungsstelle für Schwangerschaft, Sexualität und Pränataldiagnostik. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört die Sexualberatung für Kinder und Jugendliche.
"Ich bin immer noch `n Teil von `nem ursprünglichen Experiment: 1990 hat die Evangelische Kirche überhaupt zum ersten Mal Menschen ganz explizit für den Bereich Sexualpädagogik eingestellt. Das hieß damals noch Schwangerschaftsprophylaxe, weil´s in vielen kirchlichen Kreisen als Sexualpädagogik nicht gut hat verkauft werden können. Diese Kreise waren aber weniger die Kirchenführung als so dieses Gefühl, es der Basis gegenüber nicht vertreten zu können. Aber 1990 waren noch andere Zeiten. Die Kirche für sich hat gesagt, es ist ein immens wichtiger Teil, jeder ist Mann oder Frau, Sexualität kann immer Probleme aufwerfen. Und dann wollen wir als Kirche auch ne Stelle schaffen, an die man sich wenden kann mit dem Gefühl: Da bin ich gut aufgehoben."
Die Diakonie-Mitarbeiterin hat in den Jahren ihrer Arbeit in der Sexualberatung beobachtet, dass sich Veränderungen im Bezug auf Sexual-Normen und -Werte mehr in der Gesellschaft vollzogen haben und weniger in der Einstellung der Kirche zum Thema.
"Die 90er Jahre, die standen unter dem Thema AIDS erstmal und immer noch unter dem Zeichen der Freizügigkeit. Mittlerweile merkt man, dass die Jugendlichen viel mehr nach Orientierung verlangen als früher. Ich erklär´ mir das immer so, dass aus den 90er Jahren die Jugendlichen damals – also die damals 12jährigen, das war so Hauptzielgruppe – noch `n Großteil an einer stabileren Werteerziehung aus den Familien mitgebracht haben, während heutzutage Jugendliche das nicht mehr haben. Oder auch diese ganze sexualisierte Gesellschaft, das ist für viele einfach `ne Überforderung. Ein Mann hat mal gesagt: Mensch, ich bin ja eigentlich im Dauerstress, überall die vielen Busen und Popos und so – das rührt mich an in meiner tiefsten archaischen Bestimmung, und mir wird das einfach zuviel! Und genau das scheint mir bei vielen Jugendlichen der Fall zu sein. Nur: Wo sind die Muster, wo ist das, woran sie sich halten können?"
Diese Orientierungsmuster zu geben sei ihre Aufgabe, sagt Sigrid Vollstedt. Inzwischen geht sie auch schon in die Grundschulen, um die Kinder auf die Pubertät vorzubereiten.
"Heutzutage wissen wir: Mädchen kommen schon mit neun Jahren teilweise in die Pubertät, und mit der Pubertät verändert sich ja nicht nur der Körper, sondern auch das Denken. Das heißt, die Kinder fangen an, diese Welt der Erotik für sich zum ersten Mal zu betreten. Und da halten wir´s für wichtig, erstmal schon in der Grundschule auf diese körperlichen Veränderungen vorzubereiten und auch zu sagen: Ihr werdet Euch verändern. Euer Verhältnis zu Euren Eltern könnte in der nächsten Zeit ein bisschen kritisch werden. Und das gehört dazu."
Eine Generation, in einer so stark sexualisierten Umfeld aufwächst, fragt anders als die Eltern- oder gar Großeltern-Generation.
"Fragen im zehnten Schuljahr sind meist sachlich: Wie groß kann ein Penis werden? Müssen alle Leute Sex machen? Muss ich Sex machen, wenn ich ein Kind haben will? Was heißt "Hurensohn"? Also ganz sachlich-naive Fragen, die so einer Entdeckerfreude gleichen, mit der die jetzt durch die Welt gehen. Wenn die zwölf Jahre alt sind, also im sechsten Jahrgang, da kommen dann schon andere Fragen: Was ist Analverkehr? Ist Vögeln schön? Tut es weh beim ersten Mal? Muss ich Sexspiele machen? Ist Homosexualität gut?"
Diese oft schon geschlechtsreifen jungen Menschen tragen ein buntes Chaos an Eindrücken und Bildern mit sich herum, in dem sie sich ohne Unterstützung nicht zurechtfinden. Sigrid Vollstedt hilft beim Einordnen:
"Da gibt´s ne sachliche Einordnung – das heißt, ab wann darf man zum ersten Mal Geschlechtsverkehr machen? Es gibt `ne emotionale Einordnung, die dann heißt: Darf ich das eklig finden? Oder: Wie wird man reif, wie stell´ ich das fest? Und es gibt auch Fragen, die so sachlich daherkommen, aber auch wieder einer Einordnung bedürfen. Also zum Beispiel: Wie macht man Abtreibung? Da kommt schon die Frage nach Leben und Tod, die steckt so mit dahinter, nach Ethik, Moral, nach gesellschaftlicher Verantwortung … Die ist da drin verpackt."
Und das Ziel der Beratung auch: Sigrid Vollstedt will Verantwortungsbewusstsein vermitteln.
"Ich muss es schaffen, so was wie Verantwortlichkeit in den Kindern oder Jugendlichen hervorwachsen zu lassen. Und Verantwortlichkeit ist ja ein sehr unerotischer Begriff erstmal. Also wenn ich denke, hach, ich küsse mich da grade ganz heiß mit meiner Geliebten, und plötzlich kommt die Verantwortlichkeit in Form von Kondomen da vorbeigeflogen – das ist irgendwie schon `n bisschen komisch. Wenn ich aber Verantwortung auflöse in "Sich gegenseitig achten", "gegenseitig Wertschätzung voreinander haben", auch da aufeinander achten, wo vielleicht der Andere sich nicht selber so ausdrücken kann – also so´n Vorschuss an Fürsorglichkeit geben, auf die eigene Gesundheit achten und natürlich auch auf die des Anderen – dann habe ich so `ne Ebene, wo sich diese Verantwortung nach Liebe hin auflöst. Und wenn man diese Verantwortung beachtet, dann wird man auch dieses grenzübergreifende von Liebe mit in die Beziehung einfließen lassen – können."
Und hier, beim Stichwort Verantwortung, trifft sich die Praxis der kirchlichen Sexualberatung mit der modernen Theologie eines Harald Schröter-Wittke: Seine Antwort auf die selbstgestellte Frage, ob Liebe, ob Sex Sünde sein könne, lautet klar: Ja. Allerdings definiert er Sünde, wie wir gehört haben, nicht moralisch – auch nicht im Zusammenhang mit Sex. Körperliche Liebe darf Spaß machen, und jeder soll dabei nach seiner Façon selig werden.
"Voraussetzung – das gilt aber auch für die normale Missionarsstellung – ist, dass beide damit… also dass das in Partnerschaft geschieht, wo´s Absprachen gibt, wo´s Regeln gibt, wo man sozusagen innerhalb bestimmter Grenzen … Und es gibt immer auch in diesen Grenzen den Bereich der Verletzung, der ist bei Liebe immer da. Aber das hat mit der Form der Sexualität nichts zu tun, sondern mit der Beziehung, in der man das gestaltet."
Es geht beim Sex nicht um Moral, sondern um Verantwortung, sowohl für die christliche Sozialpädagogin Vollhardt als auch für den Theologen Schröter-Wittke. Und sprechen darf und soll man über Alles – ohne Tabu.
Zu den Tabus, die in ganz allmählicher Auflösung begriffen sind, gehört auch das vom Sex im Alter. Sexualität in längeren Beziehungen, in jahrzehntelangen Ehen – mittlerweile ein Thema auch für die kirchliche Sexualberatung.
"Wobei ja "Alter" so´n dehnbarer Begriff ist – also dass die Menschen heute mit 60 anders drauf sind also vor 30, 40 Jahren. Von daher wäre auch zu erwarten, dass die Einstellung zur Sexualität eine etwas andere ist. Das ist zum Teil auch so, aber es ist auch unverändert ein ziemliches Tabuthema …"
Die Sozialpädagogin Christiane Detering arbeitet beim Evangelischen Johanneswerk Bielefeld, einer Einrichtung der Diakonie, in der Beratung für Schwangere, Sexualität, Paare und Familien. Von Zeit zu Zeit bietet sie auch Workshops an zum Thema "Sex in älteren Beziehungen".
"Wenn Sie einzelne Paare fragen, dann findet sich, dass die eher wenig Probleme haben, das Thema Sexualität für sich noch zu nehmen als etwas, was sie leben möchten, was sie haben möchten, was nicht weggegangen ist, nur weil sie jetzt in den Ruhestand gegangen sind oder bei Frauen ja noch früher: Nur weil die Wechseljahre jetzt gekommen sind, heißt das ja nicht, sich von diesem Thema zu verabschieden. Aber das schwirrt immer noch so als Vorurteil herum."
Fakt ist: Wer als junger Mensch Spaß am Sex hatte, will ihn auch mit 70 oder darüber noch haben.
"Also 70plus hatte ich noch nicht. 50plus sehr wohl – und eigentlich unterscheidet sich das nicht von dem, was Menschen mit 30plus bewegt. Es knistert nicht mehr so wie Anfang, der Eine will was Anderes als der Andere, und das kriegt man nicht in Übereinstimmung, und/oder man fühlt sich irgendwie bedrängt oder zu sehr gefordert. Manchmal auch so´n Anliegen: Jetzt bin ich 50 Jahre alt und hatte noch nie einen Orgasmus, und jetzt will ich aber doch endlich mal wissen, wie das geht."
Die Kirche und der Sex – das war nie eine Liebesbeziehung, sondern immer ein schwieriges Verhältnis. Aber es scheint sich zu bessern. Auch, weil die Basis – also der eigentliche Körper der Kirche – selbstbewusst ihre eigenen Vorstellungen davon hat, wie sie das Christsein leben will. Die römisch-kirchliche Sexualmoral, meint die Theologin Regine Ammicht-Quinn, habe zumindest in der mitteleuropäischen Gesellschaft längst nicht mehr den Einfluss auf das Leben der Katholiken wie ehedem.
"Dazu gibt es Untersuchungen, die also diesen mangelnden Einfluss auch bei Menschen, die sich sehr zugehörig und sehr gläubig fühlen, bestätigen."
Und die Praktikerin Christiane Detering, die im täglichen Kontakt zur Basis erlebt, wie die Christen mit dem Thema Sexualität umgehen, blickt auf selbstbewusste Art optimistisch in die Zukunft der Beziehungskiste "Kirche und Sex".
"Es hat ja `ne lange Tradition, dass es ein gespanntes Verhältnis gewesen ist, das baut sich natürlich so schnell nicht ab, ganz klar. Aber ich finde, da sind wir auch als Mitarbeitende der Kirche auf `nem guten Weg."
"Ein braver Mann stirbt und kommt in den Himmel. Alles ist furchtbar fromm und langweilig. Während er so vor sich hin gähnt, guckt er nach unten – geradewegs in die Hölle hinein. Und siehe da, dort geht es viel lustiger zu, alle sind fröhlich und feiern eine große Orgie mit allem Drum und Dran. Da wacht unser braver Mann aber auf! Er rennt zu Petrus und sagt: "Ich will auch runter in die Hölle!" Darauf Petrus: "Meinetwegen! Ist Deine Entscheidung, geh nur!" Also wechselt der Mann vom Himmel in die Hölle und wird dort gleich vom Teufel gepackt, in einen Kochtopf geworfen und erst mal kräftig untergetaucht. Als er wieder auftaucht, fragt er den Teufel: "Ich habe doch vorhin vom Himmel aus ganz was Anderes gesehen! Wo ist denn das Festmahl und der Sex?" Darauf der Teufel: "Ach das! Das ist nur unsere PR-Abteilung!"