Kant für unsere Zeit
Ottfried Höffe, selbst Kantianer, versteht sein Buch als eine Art Gespräch mit Kant, das fragen soll, ob im Zeitalter der Globalisierung die moderne Philosophie noch von ihm lernen könne.
"Dreißig Jahre musst du dafür studieren!" soll einst ein Jenenser Student zu einem Kommilitonen gesagt haben. Worauf dieser den anderen zum Duell forderte. Ursache des Streites war Immanuel Kants "Kritik der reinen Vernunft", das schwierige, in hölzerner, akademischer Sprache verfasste Hauptwerk des Königsberger Philosophen von 1781.
So zumindest berichtet es der Kant-Herausgeber Wilhelm Weischedel in seinem Buch "Die philosophische Hintertreppe". Es half schon vielen Lesern, sich philosophische Werke zu erschließen.
Eine Treppe, wenngleich keine Hintertreppe, hat auch Otfried Höffe errichtet, für Studenten und interessierte Leser Kants. Ja, er schuf ein Meisterstück intellektuellen Treppenbaus: ausgeführt in einer großzügigen, dabei funktionalen Architektur, sprich: in klar strukturierten Kapiteln, die lehrreich in Kants "Transzendentalphilosophie" einführen; versehen mit bequemen Stufen, die hell erleuchtet sind, sprich: geschrieben in einer präzisen und verständlichen Sprache.
Sie betritt der Leser problemlos und erfährt, dass Kant beide Stämme menschlicher Erkenntnis – Verstand und sinnliche Erfahrung – als "Bedingungen der Möglichkeiten" begreift, um zu objektiven, also allgemeingültigen Wissen zu gelangen. Anders als ein Rationalist wie René Descartes, der allein die Vernunft für maßgeblich hielt; anders aber auch als David Hume. Für den Vertreter der empiristischen Tradition stellte sich menschliche Erkenntnis vor allem durch die Sinne her: durch Erfahrungen, Beobachtungen und Experimente. Kant vermittelt in der "Kritik der reinen Vernunft" zwischen diesen beiden aufklärerischen Strömungen.
Höffe entfaltet in seinem Buch nochmals die geläufigen Theoreme des Königsberger Philosophen: Etwa, dass Raum, Zeit und Grundbegriffe des Verstandes schon von vornherein, also a priori existierten, da der Mensch nirgendwo und niemals nichts verstehen würde; dass insofern der Erkenntnisprozess des Menschen von diesen a-priori-Begriffen bestimmt sei; er diese auf die Erfahrungen anwende und so von analytischen Urteilen zu synthetischen finde; und dass er hierdurch die Wirklichkeit nur so wahrnehme, wie sie sich ihm aufgrund seines individuellen Erkenntnisvermögens darstelle – er also nicht die Dinge an sich erfasse, sondern nur deren Erscheinung.
Aber Höffe geht weiter. Er ist selbst Kantianer und versteht sein Buch auch als Kommentar, als eine Art Gespräch mit Kant, das fragen soll, ob im Zeitalter der Globalisierung die moderne Philosophie noch von ihm lernen könne. Gründe dafür gibt es. Denn der Autor kritisiert, wie er sagt,
"die neuerdings beliebte Skepsis gegen die Möglichkeit eines kultur- und epochenunabhängigen Denkens".
Dem stelle Kant, ein Wissen entgegen, das
"für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat. Er bündelt es im Begriff des synthetischen a priori: einer nichtrelativierbaren, schlechthin kultur- und geschichtsunabhängig gültigen Erkenntnis."
Um dies zu belegen, leistet Ofried Höffe wahre philosophische Kärrnerarbeit, diskutiert Kants Interpretation des "Leib-Seele-Problems" oder analysiert dessen Begriff von Wahrheit. Und doch gelingt es ihm nicht, die Skepsis an seiner eigenen These auszuräumen.
So äußert er sich nur kurz und vage zu den selbstbewussten Einwänden der Sprachphilosophie. Das ist verwunderlich. Denn seit sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin etablierte, herrscht ihr Dogma, alle Philosophie vor ihr sei zutiefst überholt.
Aber schon der Kant-Freund Johann Georg Hamann (1730-1788) rügte in seiner "Metakritik der Kritik der reinen Vernunft", dass Kant die Sprache lediglich auf ein Mittel reduziere, das die Menschen benutzen würden, um zu kommunizieren – und nicht anerkenne, dass sich die Vernunft erst konkret in der Sprache manifestiere, erstere ihr somit nachgeordnet sei und das ganze Vermögen zu denken, eben auf Sprache beruhe.
Dieses Argument sollte beispielsweise Ludwig Wittgenstein (1889-1951) in seinen "Sprachspielen" aufgreifen. Für ihn ist alle Philosophie Sprachkritik, die zwischen sinnvollen und unsinnigen Wörtern und Sätzen zu unterscheiden sucht. Höffe weiß dem nur entgegenzusetzen, auch Kant habe darauf hingewiesen, dass manche Ausdrücke der Korrektur bedürften, es ungereimte Fragen gebe und ebensolche Antworten und dass neu geschmiedete Wörter eine Anmaßung darstellten, die nur selten gelänge.
Der Autor ist vielmehr überzeugt davon, dass wenn es in anderen Sternensystemen ebenfalls fühlende und beobachtende Vernunftswesen gebe, sie die moralischen Implikationen der "Kritik der reinen Vernunft" erkennen würden – was heißt, eine "epistemische Weltrepublik" zu gründen, in der alles Wissen im Dienste der Moral stünde und in der die Menschenrechte herrschen würden. Denn, so schreibt Otfried Höffe,
" … da Kants Prinzipien die Bedingungen der Möglichkeit jeder Sprache benennen, gehören sie zu einer im systematischen, nicht historischen Sinne ursprünglichen Sprache, zu einer Ur-Sprache. Wie die Menschenrechte die Kerngrammatik des Sozialen ausmachen, so bilden die von Kant benannten Elemente die (transzendentale) Kerngrammatik des Epistemischen."
Dieser Idee einer universalen Kerngrammatik des Epistemischen, nach der alle Menschen die Welt auf dieselbe Art wahrnehmen und verstehen würden, steht allerdings noch immer das Urteil derer entgegen, für die sich die abstrakte Vernunft erst konkret in den verschiedensten Sprachen herstellt.
Der Begriff "Recht" beispielsweise ist alles andere als universal: In den indischen Sprachen gibt es dafür nur Entsprechungen wie Yukta und Ucita, die das "Angeeignete" meinen oder Nyayta, das "gerecht" bedeutet, oder Dharma, was "Pflicht" heißt. Im Chinesischen übersetzt sich "Recht" mit den beiden Wörtern Chuan Li, was "Macht" und "Interesse" besagt und im Arabischen steht dafür das Wort Haqu. Es heißt zuerst "Wahrheit".
Somit regt Otfried Höffe zur philosophischen Debatte an. Er führt zwar verständlich in Kants "Kritik der reinen Vernunft" ein – in die "Grundlegung der modernen Philosophie", wie es der wenig originelle Untertitel des Buches besagt. Aber gleichwohl kann er den Leser nicht davon überzeugen, dass das, was wir im Westen Vernunft nennen tatsächlich universal ist und sich daraus überall dieselben moralischen Prinzipien ableiten ließen: etwa die Menschenrechte.
Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft - Die Grundlegung der modernen Philosophie
C.H. Beck Verlag, München, 2011
So zumindest berichtet es der Kant-Herausgeber Wilhelm Weischedel in seinem Buch "Die philosophische Hintertreppe". Es half schon vielen Lesern, sich philosophische Werke zu erschließen.
Eine Treppe, wenngleich keine Hintertreppe, hat auch Otfried Höffe errichtet, für Studenten und interessierte Leser Kants. Ja, er schuf ein Meisterstück intellektuellen Treppenbaus: ausgeführt in einer großzügigen, dabei funktionalen Architektur, sprich: in klar strukturierten Kapiteln, die lehrreich in Kants "Transzendentalphilosophie" einführen; versehen mit bequemen Stufen, die hell erleuchtet sind, sprich: geschrieben in einer präzisen und verständlichen Sprache.
Sie betritt der Leser problemlos und erfährt, dass Kant beide Stämme menschlicher Erkenntnis – Verstand und sinnliche Erfahrung – als "Bedingungen der Möglichkeiten" begreift, um zu objektiven, also allgemeingültigen Wissen zu gelangen. Anders als ein Rationalist wie René Descartes, der allein die Vernunft für maßgeblich hielt; anders aber auch als David Hume. Für den Vertreter der empiristischen Tradition stellte sich menschliche Erkenntnis vor allem durch die Sinne her: durch Erfahrungen, Beobachtungen und Experimente. Kant vermittelt in der "Kritik der reinen Vernunft" zwischen diesen beiden aufklärerischen Strömungen.
Höffe entfaltet in seinem Buch nochmals die geläufigen Theoreme des Königsberger Philosophen: Etwa, dass Raum, Zeit und Grundbegriffe des Verstandes schon von vornherein, also a priori existierten, da der Mensch nirgendwo und niemals nichts verstehen würde; dass insofern der Erkenntnisprozess des Menschen von diesen a-priori-Begriffen bestimmt sei; er diese auf die Erfahrungen anwende und so von analytischen Urteilen zu synthetischen finde; und dass er hierdurch die Wirklichkeit nur so wahrnehme, wie sie sich ihm aufgrund seines individuellen Erkenntnisvermögens darstelle – er also nicht die Dinge an sich erfasse, sondern nur deren Erscheinung.
Aber Höffe geht weiter. Er ist selbst Kantianer und versteht sein Buch auch als Kommentar, als eine Art Gespräch mit Kant, das fragen soll, ob im Zeitalter der Globalisierung die moderne Philosophie noch von ihm lernen könne. Gründe dafür gibt es. Denn der Autor kritisiert, wie er sagt,
"die neuerdings beliebte Skepsis gegen die Möglichkeit eines kultur- und epochenunabhängigen Denkens".
Dem stelle Kant, ein Wissen entgegen, das
"für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat. Er bündelt es im Begriff des synthetischen a priori: einer nichtrelativierbaren, schlechthin kultur- und geschichtsunabhängig gültigen Erkenntnis."
Um dies zu belegen, leistet Ofried Höffe wahre philosophische Kärrnerarbeit, diskutiert Kants Interpretation des "Leib-Seele-Problems" oder analysiert dessen Begriff von Wahrheit. Und doch gelingt es ihm nicht, die Skepsis an seiner eigenen These auszuräumen.
So äußert er sich nur kurz und vage zu den selbstbewussten Einwänden der Sprachphilosophie. Das ist verwunderlich. Denn seit sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin etablierte, herrscht ihr Dogma, alle Philosophie vor ihr sei zutiefst überholt.
Aber schon der Kant-Freund Johann Georg Hamann (1730-1788) rügte in seiner "Metakritik der Kritik der reinen Vernunft", dass Kant die Sprache lediglich auf ein Mittel reduziere, das die Menschen benutzen würden, um zu kommunizieren – und nicht anerkenne, dass sich die Vernunft erst konkret in der Sprache manifestiere, erstere ihr somit nachgeordnet sei und das ganze Vermögen zu denken, eben auf Sprache beruhe.
Dieses Argument sollte beispielsweise Ludwig Wittgenstein (1889-1951) in seinen "Sprachspielen" aufgreifen. Für ihn ist alle Philosophie Sprachkritik, die zwischen sinnvollen und unsinnigen Wörtern und Sätzen zu unterscheiden sucht. Höffe weiß dem nur entgegenzusetzen, auch Kant habe darauf hingewiesen, dass manche Ausdrücke der Korrektur bedürften, es ungereimte Fragen gebe und ebensolche Antworten und dass neu geschmiedete Wörter eine Anmaßung darstellten, die nur selten gelänge.
Der Autor ist vielmehr überzeugt davon, dass wenn es in anderen Sternensystemen ebenfalls fühlende und beobachtende Vernunftswesen gebe, sie die moralischen Implikationen der "Kritik der reinen Vernunft" erkennen würden – was heißt, eine "epistemische Weltrepublik" zu gründen, in der alles Wissen im Dienste der Moral stünde und in der die Menschenrechte herrschen würden. Denn, so schreibt Otfried Höffe,
" … da Kants Prinzipien die Bedingungen der Möglichkeit jeder Sprache benennen, gehören sie zu einer im systematischen, nicht historischen Sinne ursprünglichen Sprache, zu einer Ur-Sprache. Wie die Menschenrechte die Kerngrammatik des Sozialen ausmachen, so bilden die von Kant benannten Elemente die (transzendentale) Kerngrammatik des Epistemischen."
Dieser Idee einer universalen Kerngrammatik des Epistemischen, nach der alle Menschen die Welt auf dieselbe Art wahrnehmen und verstehen würden, steht allerdings noch immer das Urteil derer entgegen, für die sich die abstrakte Vernunft erst konkret in den verschiedensten Sprachen herstellt.
Der Begriff "Recht" beispielsweise ist alles andere als universal: In den indischen Sprachen gibt es dafür nur Entsprechungen wie Yukta und Ucita, die das "Angeeignete" meinen oder Nyayta, das "gerecht" bedeutet, oder Dharma, was "Pflicht" heißt. Im Chinesischen übersetzt sich "Recht" mit den beiden Wörtern Chuan Li, was "Macht" und "Interesse" besagt und im Arabischen steht dafür das Wort Haqu. Es heißt zuerst "Wahrheit".
Somit regt Otfried Höffe zur philosophischen Debatte an. Er führt zwar verständlich in Kants "Kritik der reinen Vernunft" ein – in die "Grundlegung der modernen Philosophie", wie es der wenig originelle Untertitel des Buches besagt. Aber gleichwohl kann er den Leser nicht davon überzeugen, dass das, was wir im Westen Vernunft nennen tatsächlich universal ist und sich daraus überall dieselben moralischen Prinzipien ableiten ließen: etwa die Menschenrechte.
Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft - Die Grundlegung der modernen Philosophie
C.H. Beck Verlag, München, 2011