Kantor ist immer auch Lehrer
Wenn die kleinen Engelsstimmchen wieder "Vom Himmel hoch" singen, und die Mütter glänzende Augen bekommen, dann ist dies die Stunde des Kantors. Denn Weihnachtszeit ist hohe Zeit der Kirchenmusik. Früher war er der Lehrer, der sonntags auch "die Orgel schlug".
Heute ist der Kantor ein studierter Musikprofi, der eigentlich alles können soll: Flötenunterricht geben, den Kinder- und Jugendchor leiten, eine Kantorei am Leben halten, Konzerte organisieren und natürlich ansprechend vermarkten. In vielen ländlichen Regionen ist der Kantor der einzige Berufsmusiker, der eben das kann - können muss.
Es ist Mittwochnachmittag. Ein kleiner leicht muffiger Gemeinderaum. Hinter dem Altarkreuz hängt ein Tuch, auf dem Jugendliche ihre Handabdrücke in Farbe hinterlassen haben und ihre Namen. Daneben: Kinderbilder. Ein Foto mit älteren Menschen in einer Kirche, der Nachdruck eines Hungertuches. Ein Dutzend Kinder sitzt in einem Stuhlkreis.
Beate Friedrich ist eine gut aussehende Frau, 40. Sportliche rote Weste, ein Tuch in den Haaren, Absatzschuhe.
"Singen wir mal!"
"Wisst ihr noch, wie es geschehen ..."
Elxleben bei Arnstadt. Es ist das erste Treffen von Kindern, die vielleicht einmal ein Kinderchor werden. Aber zuerst wird es ein Adventssingen, dann sehen sie weiter, sagt die Kantorin.
"Hört mal genau hin: Wisst ihr noch, wie ... "
Hören! Guckt mal, wo ist das Ohr?!"
Wie beginnt Musik? Vor dem Singen steht das Hören, lernen die Kinder.
Der nächste Schritt ist, die eigene Stimme zu gebrauchen. Auszuhalten, dass sie nicht perfekt ist.
"Wir können ja mal versuchen, einen Ton weiter zu geben.
Geb den Ton mal weiter an Nina."
"Dass die Kinder sofort mitsingen, wenn man ein Lied vorsingt, das sie noch nie gehört haben, hängt damit zusammen, dass sie ne CD rein geschoben kriegen und dazu singen. Und das bei aller Liebe – das geht nicht. Da kann man keine Lieder lernen. Da könnten ja alle Leute in Sinfonieorchestern spielen, nur, weil sie CDs hören. Das funktioniert eben nicht."
Beate Friedrich hat Kirchenmusik studiert. Aus Liebe zur Musik, aus Nähe zur Kirche, und aus Begeisterung für Orgeln, wie sie sagt. Außerdem habe sie sich schon immer für den Charme der Dorfkirchen begeistert. Nun bespielt sie, so gut es eine 50-Prozent-Stelle hergibt, sechs Dörfer nahe Arnstadt, südlich von Erfurt. Orgelt an manchen Sonntagen dreimal, heilig Abend bis zu sechsmal. Und sie bringt immer wieder von vorn Kindern das Singen bei.
Die Kinder sind offen, aber ungeduldig. Viele haben lange Schultage hinter sich. Es ist ein wenig mühselig. Aber ein Anfang.
Heinke: "Vorher singen wir uns alle mal ein bisschen ein, dazu stehen wir auf. Strecken uns nach oben, schön weit strecken. An der Decke hängen Bonbons, und da wollen wir ran."
Kind: "Oder Geldscheine!"
Zur gleichen Zeit in Waltershausen im Thüringer Wald. Kirchenmusikdirektor Theophil Heinke steht im Chorraum des Kirchenhauses vor einem Dutzend Kinder. Es ist noch kühl, die Heizung war auf Null gedreht.
"Jetzt schütteln wir die Backen."
Kinder: "Blblblblblbl"
"Und das kleine Äffchen dazu ‚Brbrbrbrbrbrbr’""
Dann sitzt er am Klavier. Die Kinder nehmen auf Polsterstühlen Platz und singen frei von der Leber weg.
"Mammelmimmermuh, Mammelmimmermuh,..."
Neben den großen Mädchen, die schon gerne im Jugendchor singen wollen, sitzt etwas verloren ein Erstklässler und baumelt mit den Beinen. Von dem Notenblatt hat er nicht viel. Weder kann er Noten lesen, noch den Text. Dass heute seine Freundin nicht dabei ist, könnte ihm die Sache verleiden. Es wird sich zeigen, ob er wiederkommt, sagt anschließend der Kantor. Freunde zu finden, ist für viele eine wichtige Motivation, in den Chor zu kommen.
"Das erste Lied handelt von einem Engel. Das haben wir letzte Woche schon mal gesungen. Wir versuchen mal, ob wir das noch können."
"Gott hat mir längst einen Engel gesandt…"
Theo Heinke ist ein nur auf den ersten Blick unscheinbarer Mann, 42 Jahre alt. Gerade zum Kirchenmusikdirektor geadelt. Er sitzt fast die ganze Probe am Klavier. Hat sich den Fuß verknackst, soll ihn schonen.
"Die Arbeit mit Kindern wichtig, um sie an die Musik heran zu führen. Um auch die Kinder an das Umfeld der Kirche heranzuführen, und an Themen, die religiösen Themen, heranzuführen, das sind die Schwerpunkte."
Die Mädchen, die ihren Kantor wie selbstverständlich Theo nennen, schwärmen sonst für Stars aus dem Fernsehen. Sie gucken Casting-Shows, wie "Deutschland sucht den Superstar".
"Theo ist auch ganz okay. Ich mag Rockmusik. La Fee oder Tokyo Hotel.”
"Hip Hop. RMB. Eminem."
"… Ärzte. Alles, was meine Schwester hört. Eminem, JBO."
"Mein Lieblingsstar ist Tobias Regner."
"Der von Deutschland sucht den Superstar."
Bach finden sie völlig uncool. Kirchenlieder zum Teil auch. Außer die, die sie bei Theo lernen. Kinderchor ist eine gute Sache, sagen sie.
"Lohnt sich."
"Weil das einfach entspannt. Macht Spaß, ist mir anderen zusammen. Auftritte und so."
"Weil man da auch was Kirchliches mitkriegt."
"Singen macht eben auch Spaß."
"Wisst ihr noch, wie es geschehen, immer werden wir’s erzählen..."
Zurück in Elxleben. Das erste Lied steht. Es war Arbeit.
Ein bisschen Arbeit gehört dazu, sagt Landeskirchenmusikdirektor Dietrich Ehrenwert. Er sitzt im Zentrum für Kirchenmusik der Föderation Evangelischer Kirchen Mitteldeutschlands in Erfurt und ist für die Kantoren zuständig.
"Eine frühe Prägung ist ganz wichtig, und wenn da ne Begeisterung kommt und eine Qualität dazukommt, dann denke ich schon, dass es unverzichtbar ist, dass das früh losgeht."
Die Grundlagen, die hier gelegt werden, halten ein Leben lang. Selbst wenn sie erst Jahre später reaktiviert werden, sagt Dietrich Ehrenwert.
Grundlegend ist die Erfahrung eigener Musikalität. Dann darf es sogar Bach sein.
"Hier singen ja die Kinderchorkinder immer die Choräle im Weihnachtsoratorium mit. Wenn sie größer sind auch die Chöre. Da ist es dann vor Jahren passiert, dass ein Kind zu Mutter gesagt hat: das war der schönste Tag meines Lebens."
Doch erst einmal regelmäßige Arbeit hinzubekommen, ist nicht einfach auf dem Dorf. Beate Friedrich muss Kinder aus mehreren Dörfern zusammen bekommen, damit sich ein Chor lohnt. Das ist die erste Hürde. Sie bei der Stange zu halten, die nächste. Die Kinder gehen auf unterschiedliche Schulen, die haben unterschiedliche Zeiten. Schon, ihnen allen eine Einladung zukommen zu lassen, ist organisatorischer Aufwand. Sie organisiert alles selbst. Plakate, Faltblätter, Einladungen für Konzerte, für Proben. Der Rest wird persönlich kommuniziert.
Die Kinder sind raus, zwei Mädchen bleiben da und packen die Flöten aus.
Zwei Mädchen wollen Flöte spielen. Sie lernen hier die ersten Griffe, proben den ersten Tonansatz.
"Genau hinhören, dass es schön klingt! Ein ‚A’ zusammen."
Und immer wieder das Hören. Erst hören. Dann spielen.
"Sonne, liebe Sonne..."
Mehrmals wechselt Beate Friedrich die Methode. Singen, spielen, Rhythmus klatschen, bewegen. Am Ende stapfen die beiden Mädchen mit Beate Friedrich durch den Gemeinderaum.
Ehrenwert: "Deutschland ist so ziemlich das einzige Land auf der Welt, wo es so etwas überhaupt als hauptamtlichen Beruf gibt. Wenn man nach Frankreich kommt, gibt es in den Kathedralen noch die Solar-Organisten, aber so richtig Festangestellte gibt es kaum. Natürlich dürfen wir uns da so ein bisschen im Himmel fühlen in Deutschland."
Was Dietrich Ehrenwert hier sagt, sieht in Elxleben und Waltershausen so aus: Zwei Profis unterrichten Flöte, Klavier, Orgel, Posaune, Trompete, Gitarre, und eben: das Singen. Kostenlos.
Wer zu den beiden Kantoren kommt, weiß: das ist kirchliche Arbeit. Wer mitmacht, der singt und musiziert in der der evangelischen Kirchgemeinde, in Gottesdiensten, zu Feiertagen.
Kirchenmusik ist Glaubensvermittlung.
"Sie lernen natürlich auch Texte fürs Leben, die – wenn sie früh gelernt sind – nicht wieder vergessen werden. Diese Kinderkantaten sind vielfach biblische Geschichten, gerade aus dem Alten Testament. ‚Die große Flut’ ist so eine Geschichte aus meiner Kindheit. Die ganze Noah-Geschichte ist mir dadurch ganz doll präsent. Diese Stücke daraus habe ich nie wieder vergessen."
Luther hatte einst die Kirchenmusik dem verkündeten Wort gleichgestellt. Mit ihm hat die Musik einen Schub bekommen, Chöre wurden gegründet, Orgeln gebaut. Bis heute finden sich in Lutherisch-Thüringen so viele historische Orgeln, wie sonst nicht noch einmal.
"Ich fand hier in Elxleben auch die Orgel so interessant. Das war für mich ein magischer Anziehungspunkt."
Kantorin Friedrich hat – wie die meisten ihrer Thüringer Kolleginnen und Kollegen - die Sanierung mehrerer Orgeln initiiert und begleitet. Gerade ist der Nachbarort Ellichleben dran. Die in Elxleben ist schon in einem guten Zustand.
"Das ist eine interessante historische Orgel. Die Orgel ist einfach toll. Das wusste ich, als ich mich hierher beworben habe."
"Vielleicht erstmal was schönes Leises."
Die Elxlebener Kirche ist für so ein Dorf recht groß. Ebenso die Orgel. Es ist kalt, und draußen bereits dunkel. Mit Jacke sitzt die Kantorin an den Tasten.
"Interessant für ne Dorforgel: sie hat viele Register, viele Farben im Farbkasten. 1751 ist sie geweiht worden. Noch nicht fertig restauriert, aber sehr gut zu gebrauchen."
Theophil Heinke, der Waltershäuser Kollege, ist Orgelsachverständiger. In seiner Region ist er für rund 200 Orgeln zuständig. Er berät die Gemeinden bei der Restaurierung, begutachtet Orgelbautätigkeiten, spielt selbst und unterrichtet auch, denn Nachwuchs wird gebraucht. In Zeiten schwindender Kirchenmitglieder und klammer Kassen ist klar: die Kirche braucht mehr Ehrenamtliche.
"Das sehe ich auch mit großen Schmerzen. Wir versuchen eben jetzt auch durch D-Ausbildung bisschen gegenzusteuern, um Leute dazu zu bringen, sich wirklich einer auf unterer Ebene angesiedelten Ausbildung zu stellen, und Gemeinden dazu zu bringen, sich nach Leuten umzusehen, die so etwas machen könnten. Das ist die erste Sache: jemanden überhaupt zu finden, der bereit ist. Da gibt es viele Löcher, viele Gottesdienste, die ohne Orgel sind."
Wir sind wieder im Chrorraum in Waltershausen. Nun sitzen Teenager hier, junge Mädchen, ein junger Mann. Auch sie proben fürs Weihnachtsprogramm.
Theophil Heinke sitzt wieder am Klavier, greift nur behutsam ein. Er bimst keine Töne, er reitet nicht auf Unzulänglichkeiten herum. Er singt und lässt singen.
"Das allerwichtigste ist mir, dass sie Freude bekommen am Singen. Perfektion wird auch angestrebt, Genauigkeit, aber steht im Hintergrund. Wichtig ist die Freude an Musik, am Singen."
Zu erstaunlicher Reife bringt es der Gospelchor.
Es ist Abend geworden in Elxleben. Im Gemeinderaum steht nun Harry Knauer, ein Architekt. Er hat vor wenigen Wochen angefangen, Posaune zu lernen. Ziel: Posaunenchor.
"Ich wollte erstmal probieren, ob das überhaupt was für mich ist. Ich singe im Chor in Reichheim mit und dachte: Ein Instrument wäre auch nicht schlecht."
Das einzige musikalische Angebot in der Region kommt von der Kantorin.
"Es gibt ja hier sonst nichts. Es sei denn, dass man nach Arnstadt geht, oder Erfurt. Und es soll ja auch nicht so weit weg sein."
Der Posaunenchor ist ein wenig der Ausgleich, sagt Beate Friedrich. Die Kontinuität der Älteren. Das ist wichtig bei dem Kommen und Gehen bei den Kindern und Jugendlichen.
"Deswegen habe ich bei dem Posaunenchor versucht, einen größeren Stamm an Sesshaften aufzubauen, damit wir den Wechsel der Jugendlichen besser verkraften können, dass wir nicht ständig bei Null anfangen."
Ein fester Stamm trifft sich auch anschließend im Kirchenchor. Jetzt wird es fast eng im kleinen Gemeinderaum. Die Kantorin nimmt eben noch einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne. Das Abendbrot kommt irgendwann nach zehn.
Im Kirchenchor geht es gesellig zu. Es wird gewitzelt und gelacht. Er ist Gemeinschaft. Und auf dem Lande ist er eine der wenigen kulturellen Möglichkeiten, häufig die einzige.
Zeitgleich in Waltershausen: Die Kantorei von Theophil Heinke probt das Weihnachtsoratorium.
Der Kantor sitzt am Flügel. Die überwiegend älteren Damen und Herren – wie immer sind es deutlich mehr Damen – schlagen sich tapfer durch den anspruchsvollen ‚Ehre’-Chor. Dann wird es entspannter.
Wenn eines Tages den Kirchen das Geld zu knapp wird, können sich viele Kantorinnen und Kantoren vorstellen, wieder in Schulen zu gehen, als Musiklehrer. So, wie früher. Auch Kulturmanager werden gebraucht. Darum machen sie sich keine Sorgen. Die Arbeit wird gebraucht.
Der Abend endet mit einem Segenslied, und einem Gebet des Kantors. Ungesegnet wird niemand nach Hause gehen.
Es ist Mittwochnachmittag. Ein kleiner leicht muffiger Gemeinderaum. Hinter dem Altarkreuz hängt ein Tuch, auf dem Jugendliche ihre Handabdrücke in Farbe hinterlassen haben und ihre Namen. Daneben: Kinderbilder. Ein Foto mit älteren Menschen in einer Kirche, der Nachdruck eines Hungertuches. Ein Dutzend Kinder sitzt in einem Stuhlkreis.
Beate Friedrich ist eine gut aussehende Frau, 40. Sportliche rote Weste, ein Tuch in den Haaren, Absatzschuhe.
"Singen wir mal!"
"Wisst ihr noch, wie es geschehen ..."
Elxleben bei Arnstadt. Es ist das erste Treffen von Kindern, die vielleicht einmal ein Kinderchor werden. Aber zuerst wird es ein Adventssingen, dann sehen sie weiter, sagt die Kantorin.
"Hört mal genau hin: Wisst ihr noch, wie ... "
Hören! Guckt mal, wo ist das Ohr?!"
Wie beginnt Musik? Vor dem Singen steht das Hören, lernen die Kinder.
Der nächste Schritt ist, die eigene Stimme zu gebrauchen. Auszuhalten, dass sie nicht perfekt ist.
"Wir können ja mal versuchen, einen Ton weiter zu geben.
Geb den Ton mal weiter an Nina."
"Dass die Kinder sofort mitsingen, wenn man ein Lied vorsingt, das sie noch nie gehört haben, hängt damit zusammen, dass sie ne CD rein geschoben kriegen und dazu singen. Und das bei aller Liebe – das geht nicht. Da kann man keine Lieder lernen. Da könnten ja alle Leute in Sinfonieorchestern spielen, nur, weil sie CDs hören. Das funktioniert eben nicht."
Beate Friedrich hat Kirchenmusik studiert. Aus Liebe zur Musik, aus Nähe zur Kirche, und aus Begeisterung für Orgeln, wie sie sagt. Außerdem habe sie sich schon immer für den Charme der Dorfkirchen begeistert. Nun bespielt sie, so gut es eine 50-Prozent-Stelle hergibt, sechs Dörfer nahe Arnstadt, südlich von Erfurt. Orgelt an manchen Sonntagen dreimal, heilig Abend bis zu sechsmal. Und sie bringt immer wieder von vorn Kindern das Singen bei.
Die Kinder sind offen, aber ungeduldig. Viele haben lange Schultage hinter sich. Es ist ein wenig mühselig. Aber ein Anfang.
Heinke: "Vorher singen wir uns alle mal ein bisschen ein, dazu stehen wir auf. Strecken uns nach oben, schön weit strecken. An der Decke hängen Bonbons, und da wollen wir ran."
Kind: "Oder Geldscheine!"
Zur gleichen Zeit in Waltershausen im Thüringer Wald. Kirchenmusikdirektor Theophil Heinke steht im Chorraum des Kirchenhauses vor einem Dutzend Kinder. Es ist noch kühl, die Heizung war auf Null gedreht.
"Jetzt schütteln wir die Backen."
Kinder: "Blblblblblbl"
"Und das kleine Äffchen dazu ‚Brbrbrbrbrbrbr’""
Dann sitzt er am Klavier. Die Kinder nehmen auf Polsterstühlen Platz und singen frei von der Leber weg.
"Mammelmimmermuh, Mammelmimmermuh,..."
Neben den großen Mädchen, die schon gerne im Jugendchor singen wollen, sitzt etwas verloren ein Erstklässler und baumelt mit den Beinen. Von dem Notenblatt hat er nicht viel. Weder kann er Noten lesen, noch den Text. Dass heute seine Freundin nicht dabei ist, könnte ihm die Sache verleiden. Es wird sich zeigen, ob er wiederkommt, sagt anschließend der Kantor. Freunde zu finden, ist für viele eine wichtige Motivation, in den Chor zu kommen.
"Das erste Lied handelt von einem Engel. Das haben wir letzte Woche schon mal gesungen. Wir versuchen mal, ob wir das noch können."
"Gott hat mir längst einen Engel gesandt…"
Theo Heinke ist ein nur auf den ersten Blick unscheinbarer Mann, 42 Jahre alt. Gerade zum Kirchenmusikdirektor geadelt. Er sitzt fast die ganze Probe am Klavier. Hat sich den Fuß verknackst, soll ihn schonen.
"Die Arbeit mit Kindern wichtig, um sie an die Musik heran zu führen. Um auch die Kinder an das Umfeld der Kirche heranzuführen, und an Themen, die religiösen Themen, heranzuführen, das sind die Schwerpunkte."
Die Mädchen, die ihren Kantor wie selbstverständlich Theo nennen, schwärmen sonst für Stars aus dem Fernsehen. Sie gucken Casting-Shows, wie "Deutschland sucht den Superstar".
"Theo ist auch ganz okay. Ich mag Rockmusik. La Fee oder Tokyo Hotel.”
"Hip Hop. RMB. Eminem."
"… Ärzte. Alles, was meine Schwester hört. Eminem, JBO."
"Mein Lieblingsstar ist Tobias Regner."
"Der von Deutschland sucht den Superstar."
Bach finden sie völlig uncool. Kirchenlieder zum Teil auch. Außer die, die sie bei Theo lernen. Kinderchor ist eine gute Sache, sagen sie.
"Lohnt sich."
"Weil das einfach entspannt. Macht Spaß, ist mir anderen zusammen. Auftritte und so."
"Weil man da auch was Kirchliches mitkriegt."
"Singen macht eben auch Spaß."
"Wisst ihr noch, wie es geschehen, immer werden wir’s erzählen..."
Zurück in Elxleben. Das erste Lied steht. Es war Arbeit.
Ein bisschen Arbeit gehört dazu, sagt Landeskirchenmusikdirektor Dietrich Ehrenwert. Er sitzt im Zentrum für Kirchenmusik der Föderation Evangelischer Kirchen Mitteldeutschlands in Erfurt und ist für die Kantoren zuständig.
"Eine frühe Prägung ist ganz wichtig, und wenn da ne Begeisterung kommt und eine Qualität dazukommt, dann denke ich schon, dass es unverzichtbar ist, dass das früh losgeht."
Die Grundlagen, die hier gelegt werden, halten ein Leben lang. Selbst wenn sie erst Jahre später reaktiviert werden, sagt Dietrich Ehrenwert.
Grundlegend ist die Erfahrung eigener Musikalität. Dann darf es sogar Bach sein.
"Hier singen ja die Kinderchorkinder immer die Choräle im Weihnachtsoratorium mit. Wenn sie größer sind auch die Chöre. Da ist es dann vor Jahren passiert, dass ein Kind zu Mutter gesagt hat: das war der schönste Tag meines Lebens."
Doch erst einmal regelmäßige Arbeit hinzubekommen, ist nicht einfach auf dem Dorf. Beate Friedrich muss Kinder aus mehreren Dörfern zusammen bekommen, damit sich ein Chor lohnt. Das ist die erste Hürde. Sie bei der Stange zu halten, die nächste. Die Kinder gehen auf unterschiedliche Schulen, die haben unterschiedliche Zeiten. Schon, ihnen allen eine Einladung zukommen zu lassen, ist organisatorischer Aufwand. Sie organisiert alles selbst. Plakate, Faltblätter, Einladungen für Konzerte, für Proben. Der Rest wird persönlich kommuniziert.
Die Kinder sind raus, zwei Mädchen bleiben da und packen die Flöten aus.
Zwei Mädchen wollen Flöte spielen. Sie lernen hier die ersten Griffe, proben den ersten Tonansatz.
"Genau hinhören, dass es schön klingt! Ein ‚A’ zusammen."
Und immer wieder das Hören. Erst hören. Dann spielen.
"Sonne, liebe Sonne..."
Mehrmals wechselt Beate Friedrich die Methode. Singen, spielen, Rhythmus klatschen, bewegen. Am Ende stapfen die beiden Mädchen mit Beate Friedrich durch den Gemeinderaum.
Ehrenwert: "Deutschland ist so ziemlich das einzige Land auf der Welt, wo es so etwas überhaupt als hauptamtlichen Beruf gibt. Wenn man nach Frankreich kommt, gibt es in den Kathedralen noch die Solar-Organisten, aber so richtig Festangestellte gibt es kaum. Natürlich dürfen wir uns da so ein bisschen im Himmel fühlen in Deutschland."
Was Dietrich Ehrenwert hier sagt, sieht in Elxleben und Waltershausen so aus: Zwei Profis unterrichten Flöte, Klavier, Orgel, Posaune, Trompete, Gitarre, und eben: das Singen. Kostenlos.
Wer zu den beiden Kantoren kommt, weiß: das ist kirchliche Arbeit. Wer mitmacht, der singt und musiziert in der der evangelischen Kirchgemeinde, in Gottesdiensten, zu Feiertagen.
Kirchenmusik ist Glaubensvermittlung.
"Sie lernen natürlich auch Texte fürs Leben, die – wenn sie früh gelernt sind – nicht wieder vergessen werden. Diese Kinderkantaten sind vielfach biblische Geschichten, gerade aus dem Alten Testament. ‚Die große Flut’ ist so eine Geschichte aus meiner Kindheit. Die ganze Noah-Geschichte ist mir dadurch ganz doll präsent. Diese Stücke daraus habe ich nie wieder vergessen."
Luther hatte einst die Kirchenmusik dem verkündeten Wort gleichgestellt. Mit ihm hat die Musik einen Schub bekommen, Chöre wurden gegründet, Orgeln gebaut. Bis heute finden sich in Lutherisch-Thüringen so viele historische Orgeln, wie sonst nicht noch einmal.
"Ich fand hier in Elxleben auch die Orgel so interessant. Das war für mich ein magischer Anziehungspunkt."
Kantorin Friedrich hat – wie die meisten ihrer Thüringer Kolleginnen und Kollegen - die Sanierung mehrerer Orgeln initiiert und begleitet. Gerade ist der Nachbarort Ellichleben dran. Die in Elxleben ist schon in einem guten Zustand.
"Das ist eine interessante historische Orgel. Die Orgel ist einfach toll. Das wusste ich, als ich mich hierher beworben habe."
"Vielleicht erstmal was schönes Leises."
Die Elxlebener Kirche ist für so ein Dorf recht groß. Ebenso die Orgel. Es ist kalt, und draußen bereits dunkel. Mit Jacke sitzt die Kantorin an den Tasten.
"Interessant für ne Dorforgel: sie hat viele Register, viele Farben im Farbkasten. 1751 ist sie geweiht worden. Noch nicht fertig restauriert, aber sehr gut zu gebrauchen."
Theophil Heinke, der Waltershäuser Kollege, ist Orgelsachverständiger. In seiner Region ist er für rund 200 Orgeln zuständig. Er berät die Gemeinden bei der Restaurierung, begutachtet Orgelbautätigkeiten, spielt selbst und unterrichtet auch, denn Nachwuchs wird gebraucht. In Zeiten schwindender Kirchenmitglieder und klammer Kassen ist klar: die Kirche braucht mehr Ehrenamtliche.
"Das sehe ich auch mit großen Schmerzen. Wir versuchen eben jetzt auch durch D-Ausbildung bisschen gegenzusteuern, um Leute dazu zu bringen, sich wirklich einer auf unterer Ebene angesiedelten Ausbildung zu stellen, und Gemeinden dazu zu bringen, sich nach Leuten umzusehen, die so etwas machen könnten. Das ist die erste Sache: jemanden überhaupt zu finden, der bereit ist. Da gibt es viele Löcher, viele Gottesdienste, die ohne Orgel sind."
Wir sind wieder im Chrorraum in Waltershausen. Nun sitzen Teenager hier, junge Mädchen, ein junger Mann. Auch sie proben fürs Weihnachtsprogramm.
Theophil Heinke sitzt wieder am Klavier, greift nur behutsam ein. Er bimst keine Töne, er reitet nicht auf Unzulänglichkeiten herum. Er singt und lässt singen.
"Das allerwichtigste ist mir, dass sie Freude bekommen am Singen. Perfektion wird auch angestrebt, Genauigkeit, aber steht im Hintergrund. Wichtig ist die Freude an Musik, am Singen."
Zu erstaunlicher Reife bringt es der Gospelchor.
Es ist Abend geworden in Elxleben. Im Gemeinderaum steht nun Harry Knauer, ein Architekt. Er hat vor wenigen Wochen angefangen, Posaune zu lernen. Ziel: Posaunenchor.
"Ich wollte erstmal probieren, ob das überhaupt was für mich ist. Ich singe im Chor in Reichheim mit und dachte: Ein Instrument wäre auch nicht schlecht."
Das einzige musikalische Angebot in der Region kommt von der Kantorin.
"Es gibt ja hier sonst nichts. Es sei denn, dass man nach Arnstadt geht, oder Erfurt. Und es soll ja auch nicht so weit weg sein."
Der Posaunenchor ist ein wenig der Ausgleich, sagt Beate Friedrich. Die Kontinuität der Älteren. Das ist wichtig bei dem Kommen und Gehen bei den Kindern und Jugendlichen.
"Deswegen habe ich bei dem Posaunenchor versucht, einen größeren Stamm an Sesshaften aufzubauen, damit wir den Wechsel der Jugendlichen besser verkraften können, dass wir nicht ständig bei Null anfangen."
Ein fester Stamm trifft sich auch anschließend im Kirchenchor. Jetzt wird es fast eng im kleinen Gemeinderaum. Die Kantorin nimmt eben noch einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne. Das Abendbrot kommt irgendwann nach zehn.
Im Kirchenchor geht es gesellig zu. Es wird gewitzelt und gelacht. Er ist Gemeinschaft. Und auf dem Lande ist er eine der wenigen kulturellen Möglichkeiten, häufig die einzige.
Zeitgleich in Waltershausen: Die Kantorei von Theophil Heinke probt das Weihnachtsoratorium.
Der Kantor sitzt am Flügel. Die überwiegend älteren Damen und Herren – wie immer sind es deutlich mehr Damen – schlagen sich tapfer durch den anspruchsvollen ‚Ehre’-Chor. Dann wird es entspannter.
Wenn eines Tages den Kirchen das Geld zu knapp wird, können sich viele Kantorinnen und Kantoren vorstellen, wieder in Schulen zu gehen, als Musiklehrer. So, wie früher. Auch Kulturmanager werden gebraucht. Darum machen sie sich keine Sorgen. Die Arbeit wird gebraucht.
Der Abend endet mit einem Segenslied, und einem Gebet des Kantors. Ungesegnet wird niemand nach Hause gehen.